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01. Sep 2006

Lernen, dem Frieden zu vertrauen

Wider die allzu simple Schwarz-Weiß-Malerei in Nahost

Der israelisch-arabische Konflikt hat die Welt erneut in zwei zutiefst verfeindete Lager gespalten: auf der einen Seite „wir“, der Westen, auf der anderen Seite „sie“, die Islamisten. Ohne die reale Bedrohung Israels in Frage zu stellen: Wir werden mit unseren Nachbarn erst dann zusammen leben können, wenn wir wieder bedingungslos miteinander reden – mit allen. Für Frieden mit Syrien muss Israel auf die Golan-Höhen verzichten.

Der zweite Libanon-Krieg, ausgelöst durch die Verschleppung zweier Soldaten von israelischem Territorium durch Hisbollah-Kämpfer, findet in einer regionalen und globalen Atmosphäre statt, die immer extremer wird. Diese Stimmungslage beeinflusst die aktuelle Krise und sie wird von ihr beeinflusst. Der Aufstieg der Hamas und die Übernahme der palästinensischen Regierung durch radikal-religiöse Elemente einerseits und das Erstarken der Hisbollah innerhalb des libanesischen politischen Systems andererseits haben die Israelis fürchten lassen, dass sich der israelisch-arabische Konflikt über Territorialfragen hinaus zu einer totalen Konfrontation ausweitet, welche die Existenz des Staates Israel selbst bedroht.

Regionale Entwicklungen haben das Gefühl der Verwundbarkeit in der israelischen Öffentlichkeit noch gesteigert. An vorderster Front der Bedrohung steht der Iran, dessen Präsident Machmud Achmadinedschad unzweideutig die „Endlösung“ fordert – sprich die Zerstörung Israels. Parallel dazu entwickelt der Iran seine nuklearen Kapazitäten weiter, was in den Augen der Israelis auf den Wunsch hindeutet, die Drohung auch in die Tat umzusetzen. Im Kontext dieser Bedrohung lösen Achmadinedschads Äußerungen bei den Israelis eine automatische Abwehrreaktion aus.

Die iranische Position wiederum verschmilzt mit dem islamisch-fundamentalistischen Diskurs, der mit der Stärkung der Muslimbrüder-Bewegung inner- und außerhalb der arabischen Welt an Bedeutung gewinnt. Dieser Diskurs ruft nach der Gründung einer islamischen Nation von Nordafrika bis zum Irak, und natürlich zu Lasten des Staates Israel. Er wird propagiert von Osama Bin Laden und Al-Qaida, die ihre Einflusssphäre über die ganze Welt ausdehnen und den Kampf mit Israel als Teil ihrer zentralen Agenda proklamieren. Ihre lokalen Akteure und Verbündeten – einschließlich Hamas, dem Islamischen Dschihad und Hisbollah – richten ihre verbalen und gewalttätigen Attacken ebenfalls gegen Israel.

Wir können nicht ignorieren, dass diese Worte und Aktionen bedrohlich aussehen und es auch sind. Diese Fakten stellen die Maxime, dass Israels politische Strategie das Anstreben von Frieden sein sollte, ebenso in Frage wie die Möglichkeit, dass eine solche Strategie Erfolg haben könnte.

Eine Rückkehr zum Paradigma der Diplomatie – also zu Verhandlungen und Friedensregelungen – wird zudem durch das neokonservative Denkmuster behindert, das zu einem Bestandteil derzeitiger amerikanischer Politik geworden ist und allmählich auch Israel und Europa in seinen Bann zieht. Dieses Weltbild reflektiert das dichotomische Schwarz-Weiß-Denken, welches das kollektive Bewusstsein weltweit dominiert: Sie sind schlecht, wir sind gut; sie sind fanatische Muslime, wir sind aufgeklärte Liberale; sie sind blutdürstige Killer unschuldiger Zivilisten, wir kämpfen einen unvermeidbaren Krieg; sie wollen den Einfluss des Westens inklusive Israel eliminieren, wir verkünden das Ethos der Demokratie.

„Wir“ und „sie“

Wieder muss man einräumen, dass einige Teile dieser Gleichung zutreffen. Aber die eigentlich wichtige Frage ist doch: Wer ist das generalisierte „sie“? Trägt unsere eindimensionale, kompromisslose Reaktion auf „sie“ vielleicht dazu bei, ihre Macht weit über ihren traditionellen Einfluss in der Öffentlichkeit hinaus zu erhöhen? Und ist die Position der anderen Seite tatsächlich so absolut und kompromisslos, wie wir sie darstellen? Oder gibt es – wie die Historie uns gelehrt hat – eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten (etwa Präsident Nassers Parole in den sechziger Jahren, „die Juden ins Meer zu treiben“?). Tatsächlich könnten sich solche Perspektiven ändern (zum Beispiel war Ägyptens Präsident Anwar el-Sadat in seinen jungen Jahren ein „Nasserist“, aber später unterschrieb er einen Friedensvertrag mit Israel). Wir haben daraus gelernt, dass nicht alles, was die Führungsfiguren predigen und was von den „Massen“ übernommen wird – die in Wirklichkeit häufig nur eine kleine Minderheit sind – den Willen der Mehrheit tatsächlich reflektiert.

Ist der radikale Islam gefährlich für Israel und den Westen? Ja. Sind Achmadinedschad, Nasrallah, Bin Laden und Khaled Meshal eine Bedrohung für Israel und den Westen? Ja.Aber diese beiden Erkenntnisse sollten uns nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass wir es mit einem „Kampf der Kulturen“ zu tun haben. Wir befinden uns nicht im Dritten Weltkrieg, und wir können weder die Option von Dialog und Verhandlung ausschließen noch die Idee, das Frieden zwischen beiden Seiten realisiert werden kann. Unbestreitbar ist die Gleichung viel komplizierter, und dementsprechend müssen wir ihre Bestandteile analysieren, während wir das etwas primitive Bedürfnis nach Rache – Auge um Auge – und nach einer schnellen Reaktion hintanstellen. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, die Welt in simplen und oberflächlichen Kategorien zu analysieren, indem wir die Realität als Nullsummenspiel ansehen und glauben, dass Gewalt alles lösen kann – größere Probleme eben mit noch größerer Gewalt.

Ich sage nicht, dass Gewalt kein Element dieser Gleichung ist. Unter bestimmten Umständen ist ihr Einsatz legitim: Aber nur unter der Bedingung, dass Gewalt als ein Bestandteil eines strategisch-diplomatischen Arsenals ein-gesetzt wird, anstatt als Instrument zur Stärkung der Macht eines Staates. In Anbetracht der dynamischen Natur nahöstlicher Politik und des fragilen Gleichgewichts der Region müssen wir eine „exit policy“ entwickeln, die am Ende zur Nutzung des mächtigsten Instruments in der regionalen Verteidigungsgleichung führen wird: zu gerechten, nachhaltigen Friedensverhandlungen. Ein Friedensvertrag wird scheitern, wenn er nicht gerecht ist, wenn er nur von der Seite mit dem stärkeren Militär durchgesetzt wird und keine Maßnahmen enthält, um die schwächere Seite zu stärken. So sind etwa viele israelische und palästinensische Experten der Meinung, dass es heute Frieden zwischen Israel und den Palästinensern gäbe, wenn im Jahr 2000 ein Vertrag zustande gekommen wäre, der dem ursprünglichen Zeitplan des Oslo-Abkommens entsprochen hätte. Zudem hätte ein solcher Vertrag die Chance gehabt, sowohl von den Verhandlungsführern als auch von der Öffentlichkeit beider Seiten akzeptiert zu werden.

Der radikale Reflex

Für die heutige Lage wichtiger ist eine andere Tatsache: Sogar in den vergangenen Monaten haben Umfragen auf beiden Seiten immer wieder gezeigt, dass eine stabile Mehrheit der Israelis wie Palästinenser einen Friedensvertrag auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung nach dem Clinton- oder dem Genfer Modell will. Warum haben dann aber die Palästinenser die Hamas unterstützt, die zur Zerstörung Israels aufruft, und tun das weiterhin? Aus dem schlichten Grund, dass die Wahl von Hamas mit dem politischen Programm der Hamas nichts zu tun hatte, sondern eine direkte Reaktion der palästinensischen Öffentlichkeit auf die als gescheitert wahrgenommene Politik der moderaten PLO war, inklusive deren Unfähigkeit, einen gerechten Frieden, wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand zu bringen, Unabhängigkeit und Würde durch das Ende der israelischen Besatzung zu erwirken, die Entlassung von Gefangenen durch Verhandlungen zu erreichen und insgesamt als ehrliche und honorige Regierung zu handeln, nicht als korrupte und hedonistische. Heute kann man mit hoher Sicherheit sagen, dass Hamas nie an die Macht gekommen wäre, wenn diese Bedingungen verwirklicht worden wären.

Im Libanon haben wir ebenfalls eine wachsende Unterstützung für die Hisbollah gesehen, als es dieser radikalen Bewegung gelungen war, im Jahr 2000 den Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon zu bewirken. Die Unterstützung für Nasrallah nimmt täglich zu, weil seine Gefolgschaft seinen heroischen Widerstand gegen die israelischen Truppen glorifiziert und den Preis dafür – die Zerstörung des Libanon – ignoriert. In ähnlicher Weise hat Hamas bei den Wahlen davon profitiert, dass Israel den Fehler beging, aus Gaza ohne Dialog und ohne Koordination mit den pragmatischen Kräften um Abu Mazen abzuziehen. Wer konnte den Gewinn einstreichen? Die radikale Hamas natürlich.

Die neokonservative Perspektive platziert Syrien gemeinsam mit dem Iran auf der von der Bush-Regierung erfundenen Achse des Bösen. Das ist problematisch, denn letztlich könnte Israel den Preis für Amerikas offene Rechnung mit Syrien bezahlen. Anstatt diese Achse des Bösen zu akzeptieren, sollte Israel nach dem Ende des Konflikts mit Libanon Syrien als einen Partner willkommen heißen, welcher der Region Stabilität verleihen kann – auch, wenn dies der amerikanischen Führung missfällt. Heute ist Syrien ein potenzieller Anker für Frieden und Stabilität in der Region, doch um sich dessen bewusst zu werden, muss sich der politische Diskurs öffnen und sich von der vereinfachenden Einteilung der Welt in Gut und Böse befreien.

Tatsächlich verbindet Syrien und Iran nahezu nichts. Die herrschende syrische Baath-Partei ist von ihrer Einstellung her weltlich orientiert, während die herrschende Partei in Iran religiös und fundamentalistisch ist. Ein Großteil der syrischen Bevölkerung besteht aus sunnitischen Muslimen, im Iran leben vor allem Schiiten. Beide Länder haben weder gemeinsame Grenzen noch Ressourcen und haben mit dem Irak die einzige Plattform verloren, wo sie sich gelegentlich gegen den gemeinsamen Feind Saddam Hussein zusammengeschlossen hatten. Ironischerweise eint die beiden Länder heute vor allem die Haltung der amerikanischen Regierung ihnen gegenüber.

Die Rolle Syriens

Im Gegensatz zum Iran ruft Syrien nicht zur Zerstörung Israels auf. Im Gegenteil, immer wieder haben die Syrer die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit Israel und einen Friedensvertrag auf der Grundlage des Konzepts gefordert, das Saudi-Arabien im Jahr 2002 vorgelegt und die Arabische Liga gebilligt hat. Diese Initiative verlangt von Israel den Rückzug von den 1967 besetzten Gebieten, die Etablierung eines palästinensischen Staates, die Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen Israel und den Palästinensern, Syrern und Libanesen und die Normalisierung der Beziehungen der arabischen Welt zu Israel.

Ein israelisch-syrischer Frieden würde die Hisbollah in mehrfacher Hinsicht schwächen – die Nachschubwege für iranische Waffen durch Syrien an die Hisbollah würden unterbrochen, aber auch Syrien selbst würde keine Waffen mehr liefern. Die Syrer müssten Hisbollah nicht länger als Stellvertreter in ihrem Kampf gegen Israel nutzen. Frieden würde die syrische Wirtschaft stabilisieren, sodass Damaskus seinen Zugriff auf den Libanon lockern könnte. Ohne syrische Unterstützung und ohne den Konflikt mit Israel dürfte die Hisbollah wieder auf ihre ursprüngliche Größe schrumpfen – unterstützt von den extremen Schiiten, aber nicht länger von der schiitischen Mehrheit der Libanesen.

Frieden zwischen Israel und Syrien verlangt einen spezifischen und klar definierten Preis: Israels völligen Rückzug von den Golan-Höhen. Heute sieht diese Option vollkommen unrealistisch aus, aber wir müssen uns daran erinnern, dass eine solche Zusage schon einmal gemacht worden ist, nämlich von Ministerpräsident Itzchak Rabin an die Amerikaner. Zudem hat Premier Ehud Barak später einem ähnlichen Deal zugestimmt, ihn dann aber im letzten Moment widerrufen, weshalb Präsident Bill Clinton das Abkommen mit Präsident Assad. sen nicht zum Abschluss bringen konnte.

Um die Frage zu beantworten, ob das israelische Volk einem „Land-für-Frieden“-Deal mit Syrien oder einem Clinton- oder Genfer-Modell-Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern zustimmen würde, müssen wir uns mit dem Konzept von Vertrauen auseinander setzen. Wenn wir das Leben schätzen, müssen wir unser Vertrauen in diese Abkommen setzen und sie unterschreiben. Wir müssen nur das ägyptisch-israelische und das jordanisch-israelische Modell betrachten; beide zeigen, dass auf Vertrauen basierende Friedenslösungen zu friedlichen Grenzen, gutnachbarlichen Beziehungen und wirtschaftlichem Aufschwung führen. Das dichotomische Schwarz-Weiß-Denken hingegen – der Islam gegen den Rest der Welt – wird die Entwicklung eines solchen lebenswichtigen Vertrauens untergraben.

Die derzeitige Dynamik in der Region kann sich ändern. Wir müssen dafür nicht einmal das Rad neu erfinden, denn alle Parameter sind durch die zurückliegenden Verhandlungen und Vorschläge bereits festgelegt: Frieden zwischen Israel und Syrien wird die Hisbollah schwächen; ein Abkommen, das den israelisch-palästinensischen Konflikt und den historischen Streit über Jerusalem beendet, wird gleichzeitig die Rolle der Hamas minimieren; Frieden an der israelisch-libanesischen Grenze und eine Reihe von Friedensabkommen werden Normalität mit dem Rest der arabischen Welt bringen. Wenn diese neue Realität sich entfaltet, wird sich die Bedrohung des fundamentalistisch-militanten Islam verringern – sie wird die Dynamik des Nahen Ostens verändern und der Welt neue Stabilität bringen.

Dr. RON PUNDAK, geb.1955, ist Direktor des Peres-Center for Peace in Tel Aviv. Er gilt als einer der Architekten des Osloer Friedensabkommens zwischen Israelis und Palästinensern von 1993.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 98‑101

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