Lerne schützen, ohne zu schießen
Buchkritik
Nicht erst seit den Ereignissen in Sri Lanka wird über das Konzept der Schutzverantwortung debattiert – zumeist verkürzt auf die Frage der Militärinterventionen. Lehnen die einen den Ansatz rundheraus ab, legitimieren andere damit humanitäre Militäreinsätze am Völkerrecht vorbei. Drei Versuche, Licht ins Dickicht des Diskurses zu bringen.
Es war ein langer Weg zu der Erkenntnis, dass großflächige Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord oder ethnische Säuberungen keine innerstaatlichen Angelegenheiten sind. Während in Kambodscha, Ruanda, Sudan, Srebrenica oder dem Kosovo Abertausende Menschen starben, verschanzten sich die betroffenen Regierungen, aber auch weite Teile der Weltöffentlichkeit hinter einem überkommenen Souveränitätsbegriff, der externe Einmischungen für rechtlich wie politisch unzulässig erklärte.
Als Meilenstein zur Etablierung einer internationalen Schutzverantwortung gelten die Berichte der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS, 2001), des High-level Panel on Threats, Challenges and Change (2004) und der Bericht „In Larger Freedom“ des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan (2005), vor allem aber der Jubiläumsgipfel der Vereinten Nationen in New York im Jahre 2005. Das Bekenntnis zur „Responsibility to Protect“ dürfte vielen Regierungen seinerzeit umso leichter gefallen sein, je schwächer die Relativierung staatlicher Souveränität ausfiel und je höher die Schwellen für mögliche Interventionen von außen gelegt wurden.
Und so begrenzt das Abschlussdokument des Gipfels die Schutzverantwortung auf vier Fälle: Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschheit. Tatbestände also, die ohnedies schon fest im Völkervertragsrecht oder im Völkergewohnheitsrecht verankert sind. Äußere Zwangsmaßnahmen sollen nur unter den Vorzeichen von Kapitel VII der UN-Charta zulässig sein, in welchem der Sicherheitsrat dominiert und mit ihm interventionsskeptische Ständige Mitglieder wie China oder Russland. Nicht viel Neues also beim internationalen Menschenrechtsschutz?
Das Buch von Gareth Evans, ehemals australischer Außenminister und als Kovorsitzender der ICISS maßgeblich an der Ausarbeitung des Konzepts der Schutzverantwortung beteiligt, ist ein Plädoyer: Die Schutzverantwortung soll helfen, massenhafte Gräueltaten ein für allemal zu beseitigen – und Evans’ ebenso engagiert wie glänzend geschriebener Text will hierzu Wege und Strategien aufzeigen.
Nach einer persönlich gehaltenen Einleitung widmet sich Evans dem grundlegenden Verständnis der Schutzverantwortung. Hierzu schlägt er einen knappen, aber eindrucksvollen historischen Bogen, verweist auf politische wie rechtliche Unzulänglichkeiten, Indifferenzen und Zynismen, die immer wieder den Boden für schwerste Verbrechen zu bereiten halfen oder sie zumindest nicht verhindern konnten. Anschließend räumt der Autor mit einer Reihe von Missverständnissen auf: Schutzverantwortung ist kein Mechanismus zur Aufhebung staatlicher Souveränität. Im Gegenteil, sie bekräftigt diese, indem sie die primäre Verantwortung für den Menschenrechtsschutz bei den Staaten und Regierungen ansiedelt. Erst wenn letztere nicht willens oder in der Lage sind, ihrer Verantwortung nachzukommen, ist die internationale Gemeinschaft gefordert, und auch das zunächst nicht mit Zwangsmaßnahmen, sondern in Form von Unterstützung.
Wie diese Operationalisierung der Schutzverantwortung gestaltet werden kann, ist Thema des ungleich umfangreicheren zweiten Teiles, in dem Evans die Pfeiler der Schutzverantwortung in Krisenprävention, -management und -nachsorge erläutert, Empfehlungen für den Aufbau von Institutionen und Instrumenten erarbeitet und schließlich mit der Mobilisierung des politischen Willens auf ein Kernproblem bei der Wahrnehmung der Schutzverantwortung zu sprechen kommt.
Besonderes Augenmerk verdient Kapitel 6. Hier geht Evans der Frage nach, unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt sein kann, für den Schutz der Menschenrechte zu kämpfen. Dies ist immer dann besonders problematisch, wenn die an sich schon schwierige Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt zusätzlich mit dem Auseinanderfallen von formalrechtlicher Legitimation – Mandat des Sicherheitsrats – und ethisch-moralischer Legitimation – Abwehr einer humanitären Katastrophe – konfrontiert wird. Evans weist keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma; es gibt auch keinen. Am Ende jedoch könne, in extremen Ausnahmesituationen und nach Abwägung aller gewichtigen Kriterien und Argumente, ein Bruch des formalen Rechts gerechtfertigt sein.
Zu solchen Schlussfolgerungen kann der Generalsekretär der Vereinten Nationen schon von Amts wegen nicht gelangen. Sein Bericht will aufzeigen, welche Möglichkeiten das bestehende Regelwerk der Vereinten Nationen und das Völkerrecht für die Umsetzung der Schutzverantwortung schon jetzt bereithalten. Zunächst einmal aber erinnert Ban Ki-moon nachdrücklich an das auf dem Weltgipfel 2005 erteilte Mandat für die Weiterarbeit an Konzepten zur Umsetzung der Schutzverantwortung – jenseits aller Lippenbekenntnisse. Seine Umsetzungsstrategie stützt sich auf drei Pfeiler: Die Schutzverantwortung des Staates, die internationale Unterstützung und schließlich die zeitgerechte und entschiedene Reaktion auf Krisen, welche die Schutzverantwortung auf den Plan rufen könnten. Hierzu schlägt Ban ein Bündel von Maßnahmen vor: vom Ausbau von Frühwarnkapazitäten über die Stärkung von Regionalorganisationen bis hin zum Appell an die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, fallweise auf Androhung oder Einlegung des Vetos zu verzichten. Bans Bericht ist klug, komplex und pragmatisch angelegt; in seiner Zurückhaltung spiegelt er indes die skeptische Haltung vieler UN-Mitglieder auch gegenüber einer stark abgemilderten Schutzverantwortung wider. Entsprechend bescheiden fallen seine Bitten an die Generalversammlung um Kenntnisnahme und weitere Befassung mit seinem Bericht aus.
Da ist Christopher Verlage den beiden vorgenannten Autoren ein gutes Stück voraus, jedenfalls was die Einschätzungen der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Schutzverantwortung und den Möglichkeiten ihrer Durchsetzung angeht. In seiner Münsteraner Dissertation befasst er sich in einer auch für Nichtjuristen gut lesbaren Weise mit der Entstehung der Schutzverantwortung und ihrer Verankerung im Völkerrecht. Beeindruckend ist die Fülle der Quellen wie auch der einschlägigen Literatur. Insoweit kann die Lektüre von Verlages Buch nachdrücklich empfohlen werden.
Ob seine Schlussfolgerungen jedoch alle zutreffen, darf bezweifelt werden. Das betrifft zum einen die Etablierung der Schutzverantwortung als neue völkerrechtliche Norm, zum anderen – und noch stärker – die Einwilligung der Staaten in eine konditionierte, d.h. am Grad ihrer „Menschenrechtskompatibilität“ zu messende Souveränität. Hier überschätzt der Autor wohl die Überzeugungskraft einer juristischen Argumentation gegenüber den Gegebenheiten einer sehr heterogenen Staatenwelt. Weder hat der Sicherheitsrat bislang – mit Ausnahme einer einzigen Resolution – auf das Konzept der Schutzverantwortung zurückgegriffen, noch zeigt sich ein sonderlich ausgeprägter Wille in der Staatengemeinschaft, das Anliegen allzu dynamisch ins Werk zu setzen. Die Verankerung der operativen Rolle von Schutzverantwortung im Völkerrecht dürfte noch ausstehen.
Dennoch, und das zeigen alle drei hier besprochenen Publikationen, markiert das Bekenntnis zur Schutzverantwortung eine Zäsur. Staatliche Souveränität ist keine Licence to kill mehr, die Machthaber sehen sich zunehmend von einer aufmerksameren Weltöffentlichkeit beobachtet und müssen sich vermehrt für ihr Tun verantworten. Die bisherige Entwicklung der Schutzverantwortung stimmt jedenfalls optimistisch, dass „Normen-Unternehmer“ wie Gareth Evans am Ende erfolgreich sein werden und sich die Idee einer Verantwortung für den Schutz elementarer Menschenrechte auf der staatlichen wie auf der internationalen Ebene weiter durchsetzen wird.
Prof. Dr. SVEN BERNHARD GAREIS lehrt Politikwissenschaft an der Universität Münster.
Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 105 - 107.