Lange Haare, kurze Röcke
Buchkritik
Als die Amerikaner nach 1945 in das besiegte Deutschland kamen, importierten sie planvoll, was wenigstens bürgerliche Väter ihren Söhnen und Töchtern bis dato mit Mühe versagt hatten: Hollywood-Filme und Jeans, Rock ’n’ Roll und Jazz, lange Haare, zu kurze Röcke und schlechte Manieren. – War es so? In zwei Sammelbänden wird dieses zweideutigschillernde Panorama jetzt aus kulturwissenschaftlicher Sicht eröffnet.
Das Thema „Amerikanisierung“ erfreut sich derzeit eines ungewöhnlichen Interesses, ob in der internationalen Geschichts-, Politik- oder der Kulturwissenschaft. Ein bisschen hat das wohl mit jahrelang geübter professioneller Ignoranz zu tun. Mangelnde Fachkommunikation zwischen den Disziplinen nicht nur über den Atlantik, sondern auch in den nationalen Communities hat so gelegentlich zu vermeintlichen Neuentdeckungen geführt, vor denen etwas mehr Lektüre jenseits der Disziplinengräben bewahrt hätte.
Es steckt aber wohl mehr dahinter, außerwissenschaftliche Befindlichkeiten nämlich: In Zeiten, in denen gerade die Kerneuropäer noch kaum vergessen haben, dass man sie in der Hitze der Irak-Kriegdebatten Anfang des 21. Jahrhunderts von jenseits des Atlantiks her als „alte“ Europäer diskreditierte, bleibt die Frage nach der Identität in Europa akut. Und sie wird, nicht anders als schon vor Jahrhunderten, ganz wesentlich beantwortet, indem man sich an den USA oder dem Bild von ihnen abarbeitet.
„America on my mind“ lautet der Titel eines von Alexander Stephan, Professor am Department of Germanic Languages and Literatures der Ohio State University, zusammen mit Jochen Vogt herausgegebenen Sammelbands. Mit den amerikanisch--deutschen Wechselwirkungen nehmen sich die Autoren einen Sonderfall der Amerikanisierung vor. Ausgehend von den Nachkriegsjahren erhellen Autoren aus den Nachbardisziplinen der Politikwissenschaft schlaglicht-artig Einzelstationen einer komplexen Transfergeschichte: Die USA traten nach Kriegsende mit beispiellosem Ressourcenaufwand an, Deutschland zu pazifizieren und zu demokratisieren. Im neu entstandenen Machtvakuum in der Mitte Europas sollte der westliche Teilstaat einen stabilen Vorposten abgeben gegenüber dem sowjetisch beeinflussten Osten. Die amerikanische Kulturpolitik erfüllte alle Kriterien einer verordneten „reeducation“, gestützt vor allem auf eine lizenzierte Presse und die Amerikahäuser. Im „Battle of the minds“ verordneten die amerikanischen Verantwortlichen den Deutschen dezidiert Hochkultur. So wollte man zugleich dem Vorwurf nachrangiger Kulturstandards in den Vereinigten Staaten entgegentreten und die Kompatibilität zwischen amerikanischer und europäischer Kultur demonstrieren.
Über das Stadium der verordneten US-Hochkultur kam man aber schnell hinaus, wie die Autoren zeigen. Und das aus zahlreichen Gründen: Zum einen bot sich den westdeutschen politischen Eliten und zunehmend weiten Gesellschaftsteilen unter dem Schutzschirm amerikanischer Hegemonie eine Fülle ökonomischer, politischer und kultureller Optionen zu Neuanfang und zügiger Weiterentwicklung. Diese Neudefinition westdeutschen Eigeninteresses ebnete Mitte/Ende der fünfziger Jahre den Westdeutschen den Weg zu einer fundamentalen Regeneration. Hinzu kam, dass das westdeutsche Provisorium nach und nach an demokratischem Rückhalt gewann. Drittens verlagerte sich die amerikanische Einflussnahme rasch weg von offiziösen, staatlichen Kontakten hin zu Verbindungen zwischen Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Institutionen. Fern-sehen und Hörfunk (RIAS) stifteten transatlantische Nähe. Zuletzt und vor allem aber vermittelte Amerika nicht mehr zuförderst Hochkultur, sondern verströmte erfolgreich den Charme seiner überwältigend attraktiven Massenkultur. In Deutschland wie andernorts schlug die Stunde einer ebenso diffusen wie umfassenden Selbstamerikanisierung.
Nun verdrängten amerikanische Güter jedweder Art nicht sämtliche deutschen Denk- oder Konsumgewohnheiten. Eher entstand etwa in den Reihen der künstlerischen Avantgarde eine kaum mehr überblickbare Vielfalt von Neukombinationen und Anverwandlungen, von deutsch-amerikanischen Symbiosen gegenständlicher und ideeller Art. Zum Symptom für die hochkomplexen Synergien zwischen deutscher und amerikanischer Kultur geriet die 68er-Bewegung, deren bundesdeutsche Exponenten mancherlei amerikanische Kulturpraktiken importierten, während sie den vermeintlichen Kultur- imperialismus der USA verwarfen.
Die deutsche Kritik an der vermeintlich unzulänglichen amerikanischen Kultur und Politik verdichtete sich, so illustriert es Stephans zweiter Band, schubweise zum „Antiamerikanismus“. Der bestand von jeher in einer rigoristischen Totalabsage an eine zuvor mit Fleiß entworfene ideologische Konstruktion „Amerika“. Schon vor 1945 hatte die deutsche Rechte die USA aus modernisierungskritischen und antidemokratischen Motiven verteufelt. Nach 1945 erhielt nun die bevorzugt linke Amerika--Polemik einen antikapitalistischen, mitunter antimaterialistischen Unterton. Eine krude Variante stellte jener Antiamerikanismus dar, der Globalisierungskritik meinte, der schwierigen Zuordnungen wegen aber pauschal die USA attackierte. Wie auch immer gewendet, spiegelte der anti-amerikanische Diskurs häufig mindestens ebenso sehr innerdeutsche Befindlichkeiten wider wie tatsächliche US-amerikanische Positionen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges, der deutschen Wiedervereinigung und zuletzt einer Serie von Missverständnissen im Gefolge der traumatischen 9/11-Erfahrung der Vereinigten Staaten haben sich die Dinge noch einmal verändert: Der amerikanische Ehrgeiz, sich in deutschen wie weltweiten „minds“ zu verankern, ist nicht gesunken, sondern eher neu entfacht worden. Allerdings kollidieren solche Ambitionen mit einem gestiegenen Bedürfnis nicht nur der Deutschen, sich politisch zu distanzieren. Fraglos geben die Deutschen die in langen Jahren anverwandelten und an vielen Stellen ungebrochen attraktiven Americana nicht mehr auf. Das ist allerdings nicht so sehr einer deutschen Nibelungentreue zum amerikanischen „Befreier“ geschuldet. Eher haben die vielfachen Symbiosen deutscher und amerikanischer Kultur dem „Amerikanischen“ die ideologische Eindeutigkeit und Brisanz genommen: Die amerikanische Popkultur ist in Zeiten der Globalisierung entamerikanisiert, Massenkonsum ist längst transnational und nicht mehr dezidiert amerikanisch.
Alexander Stephan und Jochen Vogt (Hrsg.): America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945. Wilhelm Fink Verlag München 2006, 266 Seiten, 39,90 €
Alexander Stephan (Hrsg.): Americanization and Anti-Americanism. The German Encounter after 1945. Berghahn Books Oxford, New York 2005, 256 Seiten, 52,50 €
Dr. HELKE RAUSCH ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturgeschichte/Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte und am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig. Jüngste Veröffentlichung: Helke Rausch
(Hrsg.): Transatlantischer Kulturtransfer im „Kalten Krieg“: Perspektiven für eine historisch vergleichende Transferforschung, Leipzig 2006.
Internationale Politik 4, April 2007, S. 135 - 137.