Essay

01. Jan. 2012

A la recherche d’une culture perdue

Warum die französische Kulturlandschaft einem Trümmerhaufen gleicht

Wo sind sie hin, die Truffauts und Godards, die Duras’ und Le Clézios, die Brels und Brassens? Warum herrscht heute Trostlosigkeit, wo die „Grande Nation“ einmal wahrhaft groß war? Ursachen sind Frankreichs immer dramatischer werdende soziale Schieflage – und ein System, das Kreativität verhindert.

Vor ein paar Jahren habe ich mit einigen deutschen Kollegen untersucht, was es mit der „Ostalgie“ auf sich hat. Am Schluss unserer Studie dieses eher soziologischen als politischen Phänomens blieb eine Frage unbeantwortet – und wird es vermutlich auch bleiben: Ist dieses in Ostdeutschland verbreitete Gefühl Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Alltag in der DDR, in dem es keine Arbeitslosigkeit gab, stattdessen niedrige Mieten, kostenlose Gesundheitsversorgung und, ganz allgemein, einen ruhigeren Lebensrhythmus? Eine Sehnsucht, die mit der Erschütterung der Lebenswelt nach der Wiedervereinigung zu tun hat? Oder handelt es sich einfach um eine Spielart der Nostalgie, die mehr oder weniger jeder von uns für die „gute alte Zeit“ der eigenen Jugend empfindet und die einige eben dazu bewegt, so etwas wie die Mauer oder die Stasi einfach zu verdrängen?

Wenn ich über die Krise der französischen Kultur schreibe, stelle ich mir die gleiche Frage. Nicht nur kann ich kein objektives Urteil über den Zustand des französischen Kulturbetriebs in all seinen Erscheinungsformen treffen, die ich übrigens gar nicht alle kenne. Ein Vergleich zwischen der jetzigen Situation und den sechziger und siebziger Jahren könnte auch verfälscht sein, weil der 60-Jährige, der ich jetzt bin, die Empfindungen des Jugendlichen in seiner Erinnerung beschönigt. Dennoch: Wenn ich mir den Trümmerhaufen ansehe, den die französische Kulturlandschaft heute abgibt, und an das außerordent­liche Brodeln vor und nach 1968 denke, erscheint mir der Vergleich geradezu grausam.

Nachmittage in den dunklen Sälen des Autorenkinos

Wie viele andere auch hat der Heranwachsende, der ich war, seine Abende – und manchmal, wenn er die Schule geschwänzt hatte, auch Nachmittage – in den dunklen Sälen des Autorenkinos verbracht. Wir wollten nichts als die Filme von François Truffaut, Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Louis Malle, Agnès Varda oder auch Claude Chabrol sehen. Die „Nouvelle Vague“ war mehr als eine Revolution des französischen Kinos: Sie lehrte uns das Leben selbst. Viele von uns wissen auch heute noch, was sie gefühlt haben, als sie „Jules et Jim“, „Pierrot le Fou“, „Hiroshima mon Amour“, „Le Feu Follet“, „Cléo de 5 à 7“ oder „Le Beau Serge“ gesehen haben.

Wohin ist dieser vitale künstlerische Schwung verschwunden? Die meisten französischen Kinofilme käuen seit zehn Jahren die gleichen ichbezogenen Geschichten um eine Frau, ihren Mann, ihren Liebhaber und seine Geliebte wieder – sicher, mit einer Riege guter Schauspieler, die aber leider falsch eingesetzt werden. Abgesehen vielleicht von Robert Guédiguian, André Téchiné oder Abdellatif Khechiche ist das Gros der Filmemacher nicht in der Lage, über die Innenstadtränder hinaus das Leben von Abermillionen Männern und Frauen in einer Gesellschaft zu zeigen, die sich in einer tiefen Krise befindet – wir werden auf sie noch zu sprechen kommen.

Wenn doch einmal einer von ihnen einen solchen Film wagt, reagiert das Publikum begeistert. Der Beweis: der unglaubliche Erfolg von „Intouchables“ (mehr als 15 Millionen Kinobesucher!), in dem Eric Toledano und Olivier Nakache die Geschichte eines jungen Schwarzen erzählen, der, gerade aus dem Gefängnis entlassen, als Pfleger bei einem reichen Adligen anheuert, den ein Unfall beim Gleitschirmfliegen zum Krüppel gemacht hat. Doch dieser Film ist leider eine Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Die intellektuelleren unter meinen Freunden am Gymnasium und später an der Universität blieben bis tief in die Nacht auf, um die großen Autoren des „Nouveau Roman“ zu verschlingen: Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Claude Simon, Jean-Marie Le Clézio, Claude Ollier … Im Rückblick bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir ihre Botschaft wirklich verstanden haben, wenn sie denn eine hatten. Doch ihre Literatur brach mit dem gemütlichen Schnurren der traditionellen Romanciers wie André Maurois, François Mauriac, Gilbert Cesbron oder Maurice Druon. Sicher, heute findet man gute Bücher. Doch wer würde es wagen, Michel Houellebecq, Eric Emmanuel Schmitt oder Mazarine Pingeot mit den Pionieren der sechziger Jahre zu vergleichen? Da sind ja sogar die berühmten skandinavischen Autoren besser, allen voran Henning Mankell.

Großes Theater für die kleinen Leute

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben ein genialer Jean Vilar und die Lichtgestalt Gérard Philippe die Franzosen, vor allem jene, die aus einfacheren Verhältnissen stammten, mit dem Theater ausgesöhnt: Im großen Saal des Théâtre National Populaire im Pariser Palais de Chaillot oder im Hof des Palais des Papes in Avignon entdeckten sie Molière und Brecht. Dieses großartige Abenteuer wurde bald in den Banlieues nachgeahmt, angeregt von dem großen (gaullistischen) Kultusminister André Malraux und finanziert von den (sozialistischen) Gemeinden der Region Paris. Meine Generation hatte das Glück, gebannt die Inszenierungen des Théâtre de la Commune d’Aubervilliers zu verfolgen oder die des Théâtre Gerard-Philippe de Saint Denis, des Théâtre du Soleil in Vincennes oder der Theater in Gennevilliers und in Amandiers de Nanterre. Diese Theater führen ihr Werk natürlich fort, und andere haben sich angeschlossen, etwa Stéphane Braunschweig vom Théâtre de la Colline in Paris – doch ihnen fehlen die Mittel. Und deshalb dominieren dort die x-ten Wiederaufführungen irgendwelcher alten Klassiker, mittelmäßiges Boulevard also, das im Begriff ist, die Oberhand zu gewinnen.

Mao Zedong forderte 1957 in China, „hundert Blumen“ blühen zu lassen – um anschließend jene auszureißen, die ihm nicht gefielen. Diejenigen meiner Pariser Freunde, die sich in den Sechzigern für die schönen Künste interessierten, erlebten das Blühen in allen Schattierungen. Ich erinnere mich an endlose Schlangen vor dem Eingang des Grand Palais bei der ersten Picasso-Ausstellung, die der Maler Jean-Pierre Jouffroy einem Arbeiterpublikum präsentierte; an die Enthüllungen von Andy Warhol, an den Schock von Soulages, die (flüchtige) Verführung durch Yves Klein … vom sozialistischen Realismus über die neue Abstraktion bis zur Pop-Art, das Motto lautete: „Die Malerei gehört uns!“ Vier oder fünf Jahrzehnte später beschränkt sich das Schöpferische auf die Galerien, während die „großen Fabriken“ des Kulturbetriebs ohne jeden Mut und jede Fantasie ihre verlässlichen Zugpferde ausbeuten, von Monet bis Van Gogh, von Gauguin bis Cézanne und von Matisse bis Picasso. Dass man mich nicht falsch verstehe: Natürlich ist die Sammlung Stein eine wahre Offenbarung. Doch wo sind die Maler unserer Zeit? Für die Fotografie, eigentlich am Puls der Zeit, gilt letztlich das gleiche.

Die drei Bs des Chansons: Brel, Brassens und Barbara

Auch der Chanson, diese zweitklassige Kunstform, die in unserem Alltag so präsent ist, entgeht nicht dem Niedergang. Zumindest aus Sicht derjenigen, die sich weniger mit der Yéyé-Welle als mit den drei Bs identifizieren konnten – Brel, Brassens und Barbara. Das war bei mir der Fall, und ich gebe zu, dass ich diesen Ausnahmemusikern sehr viel mehr verdanke als das normale Vergnügen, das man beim Hören guter Sänger empfindet. Wie viele meiner Altersgenossen verdanke ich ihnen einen wesentlichen Anteil dessen, was mich heute ausmacht, meine Werte und meine Menschlichkeit. Das gilt nicht für den heutigen Schlager: Von einigen Ausnahmen abgesehen (die inzwischen selbst schon in ihren Sechzigern sind, siehe Julien Clerc, Maxime Le Forestier oder Alain Souchon) ist diese große französische Tradition nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Noch befremdlicher: das Fernsehen. Als ich jung war, gab es nur einen Sender in Schwarzweiß. Aber Reportagemagazine wie „Cinq colonnes à la une“, Literatursendungen wie „Lectures pour tous“ (und später „Apostrophes“ von Bernard Pivot), Geschichtssendungen wie „La caméra explore les temps“, Musikmagazine wie „Discorama“ und Polizeisendungen wie „Les cinq dernières minutes“ haben uns zutiefst geprägt, ganz zu schweigen von den großen Dramen, etwa die unvergessliche Adaption von Molières Don Juan unter der Regie von Marcel Bluwal mit den Schauspielern Michel Piccoli und Claude Brasseur. Wenn man von Arte und ein paar ausgezeichneten Spartenkanälen – etwa in den Bereichen Kino, Sport oder Geschichte – einmal absieht, was zeigen denn die zahllosen Sender des TNT, des digital-terrestrischen Fernsehen Frankreichs, und die Pay-TV-Pakete, wenn nicht amerikanische, selten besonders anregende Serien, geschwätzige Talkshows und nervtötende Werbesendungen?

Und was soll man über die nationale Presse sagen? In 50 Jahren sind vier Tageszeitungen verschwunden: die Populaire, die Libération von Emmanuel D’Astier de la Vigerie, Paris-Jour und Combat. Von den neun Überlebenden hat La Tribune gerade Insolvenz beantragt. France Soir, der zur Marionette eines Russen geworden war, der mit Marine Le Pen sympathisierte, veröffentlichte  am 15. Dezember 2011 die letzten Ausgabe. Selbst die Libération von Serge July und Le Monde haben ihr Schicksal in die Hände von Finanzkonsortien gelegt.

Wer kann Sartre und Camus das Wasser reichen?

Es kommt noch schlimmer. In den Sechzigern und Siebzigern gab es brillante Denker im Überfluss. Einige von uns schworen auf Jean-Paul Sartre, andere auf Albert Camus. Louis Althusser begeisterte die Marxisten, Raymond Aron die Liberalen. Simone de Beauvoir mobilisierte die Feministinnen.

Nach und nach nahmen wir in unser Pantheon auch Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Claude Levi-Strauss, Michel Foucault und Roland Barthes auf. Wer würde heute behaupten, dass die „neuen Philosophen“ von Bernard-Henri Lévy über Alain Finkielkraut bis André Glucksmann ihnen das Wasser reichen könnten? Und Michel Onfay, vom Sockel herabgestiegen, um Sigmund Freud von seinem zu stoßen – ist der etwa besser?

Das System verlangt die Umwandlung von Kultur zur Ware

In Wirklichkeit ist die Lage vielleicht gar nicht so düster. Es gibt in den Tiefen des Landes sicher großartige Künstler, Schöpfer und Intellektuelle, originell und ideenreich – doch bis auf ihr unmittelbares Umfeld weiß niemand etwas davon. Das System verhindert, dass sie bekannt werden. Die Umwandlung der Kunst in eine Ware ist ein Verbrechen gegen ihre Vielfalt und letztlich gegen ihre Kreativität. Wenn Rentabilität zum Prinzip wird, egalisiert sie die Kunst auf unterem Niveau und ruiniert die originellsten Künstler.

Eine solche kulturelle Regression hat zweifelsohne verschiedene Ursachen. Meine eigene intellektuelle Entwicklung hat mich gelehrt, dass monokausale Erklärungen für historische Phänomene an Analphabetismus grenzen: Das ist die Lehre, die ich aus meinem Studium der bemerkenswerten Arbeiten der deutschen „jungen Historiker“ zum Nationalsozialismus gezogen habe, denen ich ein Synthese-Buch gewidmet habe, oder auch aus den Arbeiten der israelischen „neuen Historiker“ zu den Ursachen des Nahost-Konflikts, die ich ebenfalls für das französische Publikum aufbereitet habe. Ohne also in eine simplifizierende oder manichäische Analyse zu verfallen – wie lassen sich die Krise der Kultur und die Krise der gesamten französischen Gesellschaft getrennt betrachten?

Drei Jahrzehnte nach dem Ende der „trente glorieuses“, der 30 „glorreichen“ Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und 20 Jahre nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg versinkt Frankreich allmählich in Arbeitslosigkeit, Ungewissheit und Armut. Das belegen offizielle Statistiken: Die Zahl der Arbeitslosen lag im Oktober 2011 bei 2,8 Millionen bzw. 9,9 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung, die höchste Zahl seit zwölf Jahren. Die Gesamtzahl der Arbeitssuchenden im französischen Mutterland und in den Überseegebieten beträgt fast 4,5 Millionen. Von 27,5 Millionen offiziellen Beschäftigungsverhältnissen sind drei Millionen prekär (z.B. befristete oder Ausbildungsverhältnisse), und ihre Zahl nimmt zu (fast zwei Drittel der 2010 neu geschaffenen Arbeitsplätze).
Die Zahl derjenigen, die laut Eurostat-Kriterien als arm gelten – die also über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens oder 954 Euro verfügen – lag 2009 (dem letzten Jahr, für das offizielle Zahlen vorliegen) bei 8,2 Millionen bzw. 13,5 Prozent. Das ist ein Anstieg um 20 Prozent in den vergangenen zehn Jahren.

Die größten Vermögen sind in den vergangenen Jahren explodiert

Diese besorgniserregenden Entwicklungen traumatisieren die Gesellschaft umso mehr, als sie nicht alle ihre Mitglieder gleichermaßen treffen:

Die reichsten fünf Prozent der Franzosen verfügen über ein Drittel des Reichtums des Landes, die ärmsten 50 Prozent nur über sieben Prozent.

Zwischen 2004 und 2010 hat sich das durchschnittliche Vermögen der reichsten zehn Prozent der Haushalte um 400 000 Euro vergrößert, von 840 000 auf 1,2 Millionen Euro, was einen Anstieg von 47 Prozent bedeutet. Das der ärmsten zehn Prozent der Haushalte ist dagegen nur um 114 Euro (von 1237 auf 1351 Euro), also um neun Prozent gestiegen.

Laut der Rangliste der 500 größten Vermögen Frankreichs, die das Magazin Challenges seit 15 Jahren fortlaufend veröffentlicht, ist ihr Wert in diesem Zeitraum regelrecht explodiert: „1996 reichte ein Vermögen von 14 Millionen Euro, um auf die Liste zu gelangen, heute braucht man mindestens 60“, heißt es in dem Magazin, und weiter: „In diesen 15 Jahren sind die Vermögen also sechsmal schneller gewachsen als die restliche Wirtschaftsentwicklung und als die niedrigsten Einkommen im Land.“ Das jährliche Einkommen eines Managers war 2010 200- bis 350-mal so hoch wie der SMIC, der gesetzliche Mindestlohn in Frankreich: von 2,6 Millionen Euro für Benoit Potier (Air Liquide) bis 4,5 Millionen Euro für Michel Rollier (Michelin). Diese Einkommen berücksichtigen die festen, variablen und/oder einmaligen Gehälter, nicht aber Zusatzleistungen wie Aktienoptionen oder Dienstwohnungen.

Nicht nur eine sozioökonomische Krise, sondern auch eine der Werte

Wenn es sich um eine sozioökonomische oder politische Krise handeln würde, hätte sie vielleicht nicht solch desaströse Auswirkungen auf die Kreativität des französischen Kulturbetriebs. Doch sie unterwandert, und zwar immer stärker, die Werte, ohne die eine Gesellschaft nicht überleben und nichts erschaffen kann. Vor diesem Hintergrund erinnert der mediale Fortsetzungsroman „Strauss-Kahn“ an die Bäume, wegen derer man den Wald nicht mehr sieht: Verdient die beklagenswerte Krankheit, die dem unaufhaltsamen Aufstieg des aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten ein jähes Ende gesetzt hat, wirklich eine derartige Flut von Kommentaren? Die Diagnose eines Sexologen hätte doch gereicht.

Noch schlimmer scheinen mir die Skandale zu sein, in denen es um Parteispenden geht und um Geldkoffer von afrikanischen oder arabischen Despoten für ihre französischen Schutzpatrone. Ganz zu schweigen von den Schmiergeldern aus Waffenverkäufen, mit denen die Wahlkampagne eines ehemaligen französischen Präsidentschaftskandidaten finanziert worden sein soll …

All diese Affären nähren ein dumpfes Klima des Niedergangs, von dem vor allem die extreme Rechte profitiert. Anders als etwa die Neonazis und ihre gewalttätigen Splittergruppen, die im Moment in Deutschland von sich reden machen, ist es dem Front National von Marine Le Pen gelungen, sich nach dem Vorbild von Gianfranco Finis Alleanza Nazionale einen respektablen Anstrich zu geben. Aber dass wir uns da nicht täuschen: Der Cocktail, den die Tochter Jean-Marie Le Pens zusammengebraut hat – populistischer Diskurs mit quasikommunistischer Einfärbung, übersteigerter Nationalismus und Hass auf die arabisch-muslimische Bevölkerung – hat schon jetzt dazu geführt, dass der Front National nicht nur den unteren Mittelstand mobilisiert, der ohnehin traditionell der extremen Rechten zuneigt, sondern auch in der Arbeiterklasse von rechts und von links an die Spitze vorstoßen konnte. Diese „Allianz der Klassen“ eines nationalen Sozialismus weckt natürlich ungute Erinnerungen.

Diese Rückkehr von Thesen, die man eigentlich schon auf dem Müllhaufen der Geschichte glaubte, wurzelt jenseits der politischen Ursachen auch in der Identitätskrise, die vor allem die westlichen Gesellschaften am Anfang dieses 21. Jahrhunderts prägt. Die Moderne hat – um einen treffenden Ausdruck des Soziologen Patrick Michel aufzugreifen – die Etiketten aufgeweicht, die wir uns verpassen. Immer mehr Europäer definieren sich als nichtreligiös, und viele Christen räumen ein, dass sie nicht wissen, ob sie überhaupt noch an Gott glauben. Was bleibt von der Arbeiterklasse und ihrer „historischen Mission“ übrig, wenn die Individualisierung der Arbeit die letzten großen Unternehmen zerschlägt, in denen sich früher die Arbeiterschaft konzentrierte? Was bedeuten noch „links“ und „rechts“, wenn die großen Parteien, die sich doch eigentlich bekämpfen sollten, alle mehr oder weniger die gleiche Politik predigen? Verschwimmt nicht für viele Jugendliche die Grenze zwischen Heterosexualität und Homosexualität? Um all diese Fragen zu beantworten, reicht es jedenfalls nicht, immer wieder eine noch recht virtuelle „europäische Identität“ zu beschwören.

Die französische Gesellschaft und ihr Kulturbetrieb leiden vor allem unter einem Mangel an Alternativen. Vor 20 Jahren, als die Mauer fiel und den europäischen Kommunismus mit sich riss, verkündete Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“: Der Westen hatte im Kalten Krieg einen K.-o.-Sieg errungen, nun würden sich freie Marktwirtschaft und Demokratie auf der ganzen Welt durchsetzen, eine einzige Supermacht würde den Planeten beherrschen. Was bleibt nun, zwei Jahrzehnte später, von diesen Prognosen?

Die Systemkrise ist systemisch geworden, die Weltmacht Amerika hat sich in Afghanistan und im Irak verrannt, der Aufstieg der BRIC-Staaten bringt die Hegemonie des Westens ins Wanken, die Völker drängen auf die politische Bühne – vom „arabischen Frühling“ bis zu den „Empörten“, von der Puerta del Sol bis zur Wall Street. Doch all diese Veränderungen vollziehen sich blind, ohne konkrete Lösungen und ohne alternatives globales Projekt. Auch die Krise der französischen Kultur wurzelt in dieser Ideenlosigkeit.

Die Demografie widerspricht dem düsteren Bild

Was für ein düsterer Ausblick, könnte man meinen. Nur eins widerspricht diesem trostlosen Bild: die Demografie. Frankreich hat in diesem Jahr über 65 Millionen Einwohner, zehn Millionen mehr als noch vor zehn Jahren. Das liegt zu drei Viertel daran, dass mehr Menschen geboren werden als sterben, und zu einem Viertel an der Einwanderung, sodass Schätzungen der nationalen Statistikbehörde Insee zufolge fast 24,6 Prozent der Bevölkerung jünger sind als 20 Jahre, 52,3 Prozent zwischen 20 und 60 und 23,1 Prozent über 60.

Der wichtigste Schlüssel zu dieser Entwicklung ist die Geburtenrate: Die französischen Frauen (ohne die Überseegebiete) bekommen durchschnittlich zwei Kinder. Nur in Irland liegt die Rate mit 2,07 noch höher, danach folgen Schweden (1,99) und Großbritannien (1,98). Deutschland liegt im Mittelfeld (1,39), gleich nach Italien (1,41) und Slowenien (1,4), aber vor Polen (1,38), Spanien (1,37), Portugal (1,32), Rumänien (1,3) und Ungarn (1,26). Das Schlusslicht bildet Lettland (1,18).

Das sind Zahlen, die eine genauere Analyse verdienen. Aber ein Schluss scheint mir jetzt schon unabweisbar: Ein Volk, das so viele Kinder hervorbringt, besitzt trotz allem noch einen gewissen Glauben an die Zukunft. Dieser relative Optimismus wird hoffentlich bald, wenn neue Ideen auftauchen, zu einer kulturellen Renaissance führen. Das eine bedingt das andere. Bloß wann wird es so weit sein?

DOMINIQUE VIDAL ist Historiker und Journalist. Seit 1995 arbeitet er für Le Monde diplomatique, unter anderem als Chefredakteur.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 118-125

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