Kriegsverhinderung und Friedenswahrung
Suche nach umfassender Prävention
Ein zentrales Hindernis für die Verhütung von Konflikten und deren Eskalation liegt weniger in einem Mangel an Wissen über potenzielle Krisen und Konflikte, sondern vielmehr in einem Mangel an politischem Handlungswillen zur frühzeitigen Abwendung von Krisen. Johannes Varwick von der Universität der Bundeswehr in Hamburg fordert deshalb, den Präventionsgedanken an die Spitze der außen- und sicherheitspolitischen Prioritätenliste zu setzen.
Konflikt- und Krisenprävention ist zwar in aller Munde und gehört inzwischen zum gern verwendeten Standardvokabular in den Strategiepapieren internationaler Organisationen, nationaler Regierungen und der Redenschreiber der Fachpolitiker. Sie ist aber zugleich ein undankbares Geschäft. Ist sie erfolgreich, wird ihr Beitrag kaum gewürdigt, weil selten zweifelsfrei im Sinne eindeutiger Kausalbeziehungen nachzuweisen ist, welche Maßnahme dazu geführt hat, eine Krise oder einen Konflikt zu entschärfen und damit eine gewaltsame Eskalation zu verhindern.
Aber auch wenn Prävention misslingt kommt es in den seltensten Fällen zu einer seriösen Analyse der Gründe für das Scheitern, sondern es werden meist nur allgemeine Schlussfolgerungen wie „zu spät“ und „nicht entschlossen genug gehandelt“ gezogen. Oder es wird – in vielen Fällen auch mit gutem Recht – auf die Eigendynamik von Konflikten verwiesen, die sich von Außen nur begrenzt steuern lassen. Dies und die Schwammigkeit und inhaltliche Indifferenz dessen, was genau unter Prävention von Krisen und Konflikten zu verstehen ist, führt dazu, dass sie als politisches Konzept trotz anders lautender Rhetorik oftmals nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit angegangen wird.
Prävention ist zunächst weniger ein eigenständiges Handlungsfeld, sondern vielmehr eine neuartige Perspektive auf Politik. Es handelt sich erstens um eine klassische Querschnittsaufgabe, bei der Außen-, Entwicklungs-, Finanz-, Handels-, Umwelt- und Sicherheitspolitik gleichermaßen eine Rolle spielen und sich ergänzen können und müssen. Krisenherde wie Kosovo, Mazedonien oder Afghanistan belegen, dass eine starke militärische Komponente zur Friedenserzwingung erforderlich ist, dass die damit erzielten Stabilisierungserfolge aber durch unzureichende zivile Kapazitäten und eine nicht nachhaltige Konfliktnachsorge leicht wieder verspielt werden können. Zweitens bedarf Prävention des Zusammenspiels unterschiedlichster Akteure wie internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und staatlichen Akteuren. Rein nationale Strategien, die nicht in ein multilaterales Konzept eingebunden sind, können zudem in aller Regel wenig ausrichten. Im Gegenteil: wie etwa das europäische Krisenmanagement (bzw. das, was dafür gehalten wurde) auf dem Balkan in den neunziger Jahren gezeigt hat, sind unterschiedliche nationale Strategien eine Garantie für Unwirksamkeit. Drittens muss Prävention in der Konfliktregion auf mehreren Ebenen ansetzen und sowohl auf die Entscheidungsträger in Politik und Militär als auch auf gesellschaftliche Gruppen zielen. Aus dieser multiplen Themen- und Akteursstruktur resultiert ein enormer – nationaler wie internationaler – Koordinierungsbedarf, damit Dopplungen oder gar ein Gegeneinander vermieden und eine sinnvolle Arbeitsteilung erreicht werden können.
Die Frage, wie Kriege und großflächige bewaffnete Auseinandersetzungen zu vermeiden sind, gehört zu den zentralen politischen Fragestellungen. Jenseits der konsensfähigen Feststellung, dass Krieg – so die Terminologie der Charta der Vereinten Nationen – eine „Geißel der Menschheit“ ist, an deren Einhegung und Abschaffung mit Priorität gearbeitet werden muss, herrscht über den Erfolg versprechenden Weg dahin allerdings weniger Einvernehmen. Aber immerhin: Noch der Erste Weltkrieg wurde auf Grundlage der Überzeugung geführt, dass Krieg und Frieden quasi natürliche, einander abwechselnde Zustände in den zwischenstaatlichen Beziehungen seien. Erst infolge der Bemühungen des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen wurde völkerrechtlich das ius ad bellum als subjektives Recht eines Staates auf Krieg abgeschafft. Nicht nur die Anwendung, sondern bereits die Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen wurde für unzulässig erklärt. Davon ausgenommen sind lediglich – so jedenfalls die gültige Völkerrechtsnorm – die durch den UN-Sicherheitsrat beschlossenen und durch die Mitgliedstaaten gemeinsam durchgeführten militärischen Zwangsmaßnahmen sowie das Recht eines angegriffenen Staates auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung.
Klassischer Krieg
Die Welt ist gleichwohl weit davon entfernt, ein sicherer und friedlicher Ort zu sein. „Sicherheit“ und „Frieden“ – beides Hauptziele wie auch knappe Güter internationaler Politik – sind höchst ungleich über den Globus verteilt. Im vergangenen Jahr wurden nach Zählung der Hamburger „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ weltweit 31 Kriege und 17 bewaffnete Konflikte ausgetragen. Das „Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung“ kommt auf Grund anderer Definitionen für das vergangene Jahr auf 38 überwiegend gewaltsam ausgetragene Konflikte. Es zählte aber insgesamt 155 politische Konflikte, von denen bei mehr als einem Drittel wirkungsvolle Maßnahmen zu deren Eindämmung ergriffen wurden. Der klassische zwischenstaatliche Krieg (also das, was ursprünglich als Geißel der Menschheit verstanden wurde) ist zunehmend zur Randerscheinung geworden; im Zeitraum 1945 bis 2000 waren aber noch rund 15 Prozent der Kriege diesem Typus zuzuordnen (2001: 6,5 Prozent).1 Zu den gefährlichsten zwischenstaatlichen Brandherden zählt sicherlich der Konflikt zwischen Indien und Pakistan, der nicht zuletzt durch sein nukleares Eskalationspotenzial verheerende Konsequenzen haben könnte.
Innerstaatliche Konflikte
Das Phänomen der Gewaltanwendung in der internationalen Politik löst sich aber auch in einer anderen Hinsicht keineswegs auf. Der häufigste Kriegstypus ist inzwischen der innerstaatliche Konflikt, bei dem sich nicht mehr zwei staatlich gelenkte Streitkräfte gegenüber stehen, der aber gleichwohl zu komplexen humanitären und/oder politischen Katastrophen führt. Die sicherheitspolitische Landschaft und die Bedeutung militärischer Macht in der internationalen Politik haben sich damit radikal verändert. Die Stichworte hierfür lauten: Privatisierung von Gewaltanwendung durch eine Vielzahl substaatlicher oder nichtstaatlicher Akteure, Vermengung von Kriegshandlungen und Verbrechen, Verschwimmen der Grenzen zwischen den klassischen Bereichen der inneren und äußeren Sicherheit, zunehmende Asymmetrie in der Kriegführung.
Die Verbreitung und leichtere Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, aber auch von Kleinwaffen, sowie die Revolution in der Militärtechnologie und die Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften vermengen sich zu einem neuartigen Bedrohungspotenzial. Im Zuge dieser Veränderung erodiert das neuzeitliche Monopol der Staaten auf Kriegführung und zudem wird der Ort, von dem militärische Gefahren ausgehen, in Zukunft schwerer zu bestimmen sein. Der nationalstaatliche Alleinvertretungsanspruch zur Ausübung militärischer Gewalt hat zwar zu zahlreichen Kriegen geführt, jedoch im Zuge der Beachtung des allgemeinen Gewaltverbots durchaus stabilisierend gewirkt. Die Privatisierung von Gewalt und Krieg, die „sicherheitspolitische Rückkehr des Mittelalters“ hat diesen Gewinn an Stabilität erodieren lassen. Das Kriegs- und Konfliktgeschehen wird unübersichtlicher und lässt unruhige Zeiten erwarten.2
Die Konfliktursachen sind ebenfalls vielfältiger geworden. Unabhängigkeitsbestrebungen ethnischer Gruppen bzw. die gewaltsame Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, Fundamentalismus bzw. ideologischer und religiöser Extremismus, Terrorismus, klassische Macht- und Regionalkonflikte, Umweltzerstörung, Verknappung lebenswichtiger Ressourcen bzw. das Erreichen der Belastbarkeitsgrenzen des globalen Ökosystems und anderes mehr gehören zu den wichtigsten Konfliktpotenzialen der Zukunft, die in offene Gewaltanwendung münden können. Zudem erweist sich das Ausmaß an weltweiter Ungleichheit, das mit dem Begriff der „globalen Apartheid“3 belegt wurde, als zunehmend konfliktträchtig. Schwache – nicht starke – Staaten scheinen zum Problem für internationale Stabilität zu werden, denn sie bieten den idealen Nährboden für die Entwicklung substaatlicher oder privater Gewaltakteure, die sich entweder innerhalb der „failed states“ als „warlords“ betätigen oder aber Gewalttätigkeit in andere Staaten und Gesellschaften exportieren.
Frühzeitige Vorbeugung
Wie sehen angesichts dieser nur kursorisch skizzierten Befunde die Chancen für die frühzeitige Eindämmung von Krisen und Konflikten aus? Ist das bisherige Verständnis von Prävention gescheitert bzw. den neuen sicherheitspolitischen Gegebenheiten nicht mehr angemessen? Was sind die Handlungsebenen präventiver Politik und ist es erforderlich, Prävention im Extremfall auch militärisch zu verstehen um damit auf neue Konfliktformen konzeptionell neuartig zu reagieren? Welche Instrumente stehen zu Verfügung und wie sieht die Ressourcenausstattung aus?
Hinsichtlich der angemessenen Wege zur Kriegsverhinderung und Friedenssicherung sind seit jeher zwei Herangehensweisen feststellbar, die sich als Dissens zwischen den „children of light“ und den „children of darkness“ umschreiben lassen. Aus der europäischen Aufklärung stammt eine idealistische Vorstellung, die auf das Gute, die Vernunft und die Lernfähigkeit des Menschen setzt. Demokratisierung sei auf Grund des nachweisbaren Zusammenhangs zwischen der inneren Verfassung eines Staates und seinem Außenverhalten zudem der beste Weg zur Konfliktvermeidung. Nach dieser Logik kann auch ein Stabilitätsexport durch Erweiterung von Integrationsgemeinschaften (wie Europäische Union oder Nordatlantikpakt) präventiv wirken. Die Aussicht auf Mitgliedschaft ist aber keine unerschöpfliche Stabilisierungsressource, zumal dann, wenn die Handlungsfähigkeit der Organisation, die stabilisieren soll, leidet.
Der realistische Gegenentwurf sieht die Welt hingegen durch das Schlechte beherrscht und anarchisch strukturiert. Nur eigene Stärke und das Prinzip der Selbsthilfe könnten Konflikte verhindern; nicht das erhabene Ziel „Frieden“, sondern das bescheidenere Ziel „Sicherheit“ sollte angestrebt werden. Einer multilateralen Welt, in der Verhandlungen, Überzeugung, Konsenssuche und diplomatische Lösungen dominieren, steht eine unilaterale Welt gegenüber, in der auf internationale Regelungen letztlich kein Verlass ist und in der im Extremfall Zwang vor Überzeugung geht. Drastischer formuliert: „Wer den Frieden will, der bereite den Frieden vor“ steht konzeptionell gegen „Wer den Frieden will, der rüste für den Krieg“.
Aber ist immer nur der eine Ansatz kluge Prävention (zudem immer nur derjenige, der dem Standpunkt des Betrachters näher liegt), oder muss nicht angesichts der komplexen sicherheitspolitischen Probleme in der Welt des 21. Jahrhunderts beides seine Berechtigung haben und kombiniert werden? Müssen Krisenprävention und Krisenbewältigung nicht stärker miteinander verzahnt werden? Insbesondere in der deutschen Debatte wird allzu häufig in überkommenen Schubladenbegriffen gedacht und konzeptionell zu stark zwischen ziviler und militärischer Krisenprävention unterschieden, obwohl sich beide Elemente im modernen Management von Krisen kaum trennen lassen.
Prävention
Hilfreich ist es, zunächst einige Grundformen präventiver Politik zu unterscheiden:4
–Krisenprävention kann allgemein als ein systematisches und vorausschauendes Bemühen der internationalen Gemeinschaft oder einzelner Staaten um die Verhütung von gewaltträchtigen Krisen bzw. als ein Beitrag zur Transformation von gewaltsam ausgetragenen Konflikten in friedliche Lösungsmodi verstanden werden. Nicht die Vermeidung von Konflikten, sondern die Beeinflussung derjenigen Prozesse, die zur Gewaltanwendung bzw. Gewalteskalation führen, ist damit Gegenstand der Krisenprävention. Ob deshalb – wie vielfach angeregt – Begriffe wie Gewalt- bzw. Konfliktprävention, Konflikttransformation oder Kriegsverhütung vorzuziehen sind, dürfte hingegen eine zweitrangige Frage sein.
–Eine Kategorisierung anhand verschiedener Konfliktphasen auf der Zeitachse unterscheidet die Verhinderung von gewaltsamen Konflikten im Sinne einer frühen bzw. primären Prävention (Entstehungsprävention) von der Verhinderung einer Eskalation bzw. Ausbreitung bereits eskalierter Gewaltkonflikte (Eskalationsprävention). Die Verhinderung des Wiederaufflammens bereits beendeter bzw. erstickter Konflikte bezieht sich hingegen auf die Phase der Friedenskonsolidierung nach einem akuten Konflikt (Konsolidierungsprävention). Für jeden Punkt auf der Zeitachse lassen sich geeignete und ungeeignete Einwirkungsmechanismen definieren, die allerdings von Krise zu Krise unterschiedlich sein können.
–Eine weitere Kategorisierung ergibt sich anhand der Begriffe operative und strukturelle Prävention. Die operative Prävention bezieht sich auf kurzfristige Maßnahmen, um eine Konflikteskalation zu verhindern bzw. zurückzunehmen. Instrumente können sowohl zivile Maßnahmen, wie Vermittlungsangebote, Sanktionen, Anreize usw., als auch Maßnahmen aus dem Instrumentenkasten des militärischen Krisenmanagements auf den unterschiedlichsten Eskalationsstufen sein. Die strukturelle Prävention bezieht sich hingegen auf mittel- bis langfristige Maßnahmen, die auf die tiefer liegenden Ursachen von Krisen und Konflikten zielen. Die Instrumentarien sind auch hier höchst unterschiedlich: Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklungspolitik, Weltumweltpolitik, Rüstungskontrolle, Förderung regionaler Integration, aber auch sicherheitspolitische Grundprinzipien wie etwa Abschreckung, Gleichgewichtspolitik, kollektive bzw. kooperative Sicherheit und das damit zusammenhängende Gewaltlegitimierungsmonopol der Vereinten Nationen können hierzu gezählt werden.
Der Erfolg von Krisenprävention hängt zunächst an der Fähigkeit zum Handeln, die sowohl das Wissen über die Wirkungszusammenhänge als auch die Ermittlung konkreter Anknüpfungspunkte bei Krisen und Konflikten umfasst. Er bedingt dann aber vor allem die Bereitschaft bzw. den Willen zum Handeln, der wiederum von vielen Faktoren abhängt: auf der politischen Entscheidungsebene spielen die Interessenlage, Kosten-Nutzen-Kalküle, sowie die innergesellschaftliche Unterstützung eine Rolle; auf der Ebene der Struktur des internationalen Systems setzen Konstruktionsmerkmale wie das Souveränitätsprinzip und das Verbot der Einmischung in „innere Angelegenheiten“ wirksamer Prävention enge Grenzen.
Wissen und Handeln
Ein strukturelles Problem jedweder präventiven Politik ist die oft beklagte Lücke zwischen dem frühzeitigen Erkennen einer Krise (early warning) und dem frühzeitigen Handeln zur Abwendung einer Krise (early action). Das Wissen über Konfliktursachen und diejenigen Faktoren, die einen Konflikt in eine Krise und dann möglicherweise in eine gewalttätige Auseinandersetzung münden lassen, ist vielfältig. Dies gilt sowohl für die strukturelle als auch für die operative Dimension. Diverse Stellen in Ministerien, Ämtern, Diensten und internationalen Organisationen sowie nichtstaatliche Akteure bereiten Informationen auf und stellen Analysen bzw. Handlungsempfehlungen teilweise auch öffentlich zur Verfügung.5 Es ist eher die Ausnahme, dass Krisen oder Kriege überraschend „ausbrechen“, sie haben vielmehr in aller Regel eine lange Vorlaufzeit, die analysierbar ist und auch analysiert wird. Wie vom Blitz getroffen ist dann allenfalls die breite Öffentlichkeit (und manchmal auch die beratungsresistente politische Klasse); Regional- bzw. Themenexperten sind seltener zu überraschen.
Der Zusammenhang zwischen globaler Ungleichheit, Armut, Perspektivlosigkeit und dem Zerfall staatlicher Strukturen ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass seinerzeit das Afghanistan der Taliban zu einem Sammelbecken für Extremisten und Terroristen wurde, das destabilisierend auf die gesamte Region wirkte. Trotz aller Bekenntnisse zu einer „globalen Strukturpolitik“ stehen den weltweiten Verteidigungsausgaben von mehr als 800 Milliarden Dollar lediglich rund 55 Milliarden Dollar staatliche Ausgaben für Entwicklungshilfe gegenüber. Das bereits vor Jahrzehnten deklarierte Ziel der Industrienationen, 0,7 Prozent ihres Sozialprodukts für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, wird lediglich in Einzelfällen erreicht. Regionalkonflikte wie beispielsweise der Nahost-Konflikt sind vielfach analysiert und in ihrem Bedrohungspotenzial für die internationale Sicherheit hinreichend beschrieben worden, ohne dass eine tragfähige Lösungsstrategie in Sicht wäre.
Noch drastischer lässt sich die Lücke zwischen early warning und early action an zwei konkreten Krisen beschreiben, deren Hintergründe inzwischen gut dokumentiert sind:
–Im Falle des Völkermords im ostafrikanischen Zwischenseengebiet gab es zahlreiche Frühwarnungen. Die „Opération Turquoise“, die im Sommer 1994 durch ein militärisches Eingreifen die Fortsetzung des Völkermords in Ruanda verhindern sollte und zu deren Durchführung der UN-Sicherheitsrat Frankreich sowie einige afrikanische Staaten ermächtigt hatte, erfolgte erst, nachdem trotz der Präsenz einer UN-Blauhelmmission (UNAMIR) über 800 000 Menschen ermordet worden waren. Statt – wie vom Befehlshaber der UNAMIR verlangt – die Blauhelmtruppe zu verstärken und mit der Verhinderung des sich abzeichnenden Genozids zu beauftragen, war die Mission nach dem Beginn der Gewalttätigkeiten massiv verkleinert worden. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die Dislozierung von etwa 5000 Soldaten nach Ruanda im April 1994 ausgereicht hätte, um den Völkermord aufzuhalten.
–Auch im Falle des Kosovo-Konflikts mangelte es nicht an Vorschlägen zur Konfliktlösung, sondern an einer gemeinsamen Strategie. So dauerte es von der Aufhebung der Autonomie Kosovos fast ein Jahrzehnt, bis sich die internationale Gemeinschaft zu einem militärischen Eingreifen entschloss. In den Friedensbemühungen für den Balkan-Raum wurde Kosovo zunächst ausgeklammert. Zahlreiche Vermittlungsbemühungen und zivile Mandate waren zuvor daran gescheitert, dass die Konfliktparteien keinen Friedensplan akzeptierten bzw. die serbische Führung eine Vermittlung ablehnte. Das militärische Eingreifen der NATO im Frühsommer 1999 war dann kein präventives Handeln mehr, sondern die Reaktion auf eine humanitäre Katastrophe, die sich lange angekündigt hatte. Die Früherkennung des Konflikts auf Expertenebene konnte abermals nicht in politische Entscheidungen umgesetzt werden.
Die internationale Gemeinschaft hat aus dem Scheitern zahlreicher Präventionsbemühungen aber durchaus gelernt. Zwar wird auch nach dem Schock des 11. Septembers die strukturelle Prävention vernachlässigt. Es hat sich aber immerhin die Erkenntnis durchgesetzt, dass „schwarze Löcher der Weltpolitik“ im Sinne von Staaten oder Regionen, die ohne jede Einmischung von Außen im Chaos versinken, nicht mehr akzeptabel sind und früher oder später zu einer Bedrohung der eigenen Sicherheit werden können.
Erkannt wurde auch, dass ein Instrumentarium zur Verfügung stehen muss, um schnell und gut vorbereitet in konkrete Krisen einzugreifen – ob es dann genutzt wird, ist eine andere Frage.6 Im Koalitionsvertrag vom 16. Oktober 2002 zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen über das Arbeitsprogramm der Bundesregierung in der neuen Legislaturperiode werden die zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung als „Eckpfeiler der internationalen Stabilitäts- und Friedenspolitik“ der neuen Bundesregierung bezeichnet und angekündigt, die Infrastruktur zur Krisenprävention weiter auszubauen. Zudem soll ein „Ressort übergreifender Aktionsplan zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ erarbeitet werden. An anderer Stelle werden als Aufgaben der Bundeswehr neben der Landes- und Bündnisverteidigung auch die „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen“ genannt. Abrüstung und Rüstungskontrolle werden „zentrale Bedeutung für eine präventiv orientierte Friedenspolitik“ zugemessen.7
Zivil und Militär
Bereits in der vergangenen Legislaturperiode (1998–2002) hatte die rot-grüne Bundesregierung die Mittel im Haushalt des Auswärtigen Amtes speziell für Krisenprävention aufgestockt (auf etwa 20 Millionen Euro jährlich, bei einem Verteidigungshaushalt von etwa 24 Milliarden Euro), und u.a. mit Gründung des „Zentrums für Internationale Friedenseinsätze“ (ZIF) im Sommer 2002 die Infrastruktur sowie die Personalausbildung für zivile Friedenseinsätze zu verbessern versucht. Kaum ein Wort findet sich aber zu den konkreten inhaltlichen Herausforderungen präventiver Politik.8
Die sich wandelnden Kriegsformen erfordern aber auch ein modifiziertes Verständnis der Friedenssicherungsinstrumente. Das Spektrum internationaler Einsatzformen hat sich enorm erweitert, die Zeiten eindimensionaler Sicherheits- und Friedenspolitik sind vorbei. In den neuen Einsatzformen vermischen sich einerseits traditionelle Rollen der Soldaten in Richtung auf eine Verquickung militärischer mit polizeilichen und zivilen Verwaltungsfunktionen. Dies ist insbesondere bei den Balkaneinsätzen seit 1995 zu beobachten. Bei diesen „peace support operations“ (so die NATO-Terminologie) sind gänzlich neue Eigenschaften gefordert. Bei den 15 aktuellen Friedensmissionen der Vereinten Nationen werden Soldaten nicht für einen Sieg mit einem klar definierten Gegner, sondern insbesondere mit dem Ziel eingesetzt, die Gewalt zwischen den Konfliktparteien einzudämmen und eine politische Lösung zu überwachen bzw. abzusichern. Dies erfordert auch die Bereitstellung von zivilen Fähigkeiten, die bis hin zu Kräften geht, die sich am Aufbau einer neuen staatlichen Ordnung beteiligen können. Andererseits gelten diese Eigenschaften für Kampfeinsätze, wie etwa zur Erzwingung des Rückzugs der serbischen Truppen aus Kosovo im Frühjahr 1999 oder der Einsatz im Rahmen von „Enduring Freedom“ nicht: hier ist weiterhin der „Soldat als Kämpfer“ gefragt.
Die deutsche Bundesregierung sollte nicht die sinnvolle Förderung des zivilen Friedensdienstes und den notwendigen Ausbau von geeigneten militärischen Spezialkräften (die im Übrigen sehr kostenintensiv sind) gegeneinander ausspielen, sondern vielmehr endlich ein integriertes Konzept verfolgen. Zur Ursachenbekämpfung von Konflikten sind in erster Linie nichtmilitärische Instrumente gefragt. Es zeigt sich aber auch, dass bei der Abwehr von konkreten Krisen der Einsatz von militärischen Mitteln eine wichtige Rolle spielen kann. Insofern ist es illusorisch zu glauben, allein mit nichtmilitärischen Mitteln seien gegenwärtige und künftige Krisen einzudämmen. Der vorbeugende Einsatz von Militär in Mazedonien – der alles in allem als ein erfolgreiches Beispiel für Krisenprävention gelten kann – hat Vorbildcharakter. Allerdings hat es zu dieser Erkenntnis vier blutige Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gebraucht.
Zeitpunkt
Wird militärische Gewaltanwendung zum Zwecke der Krisenprävention allerdings prinzipiell als Ultima Ratio begriffen, kann der günstigste Augenblick verpasst werden, in dem beim Eingreifen in Konflikte mit vergleichsweise geringem Mittelaufwand – und möglicherweise schon mit einer glaubwürdigen Drohung – ein maximaler politischer Effekt erzielt werden könnte. Der geeignetste Zeitpunkt für ein Eingreifen in Konflikte und der Zeitpunkt, zu dem die öffentliche Unterstützung für ein Eingreifen am Höchsten sein dürfte, liegen zudem weit auseinander. Zu einem frühen Zeitpunkt in Krisen und Konflikte einzugreifen, ist jedoch auf Grund der öffentlichen Einschätzung von Krisen nur schwer möglich. Denn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wie auch der politischen Führung richtet sich meistens erst dann auf einen Krisenherd, wenn der Konflikt bereits eskaliert ist. Die öffentliche Unterstützung für einen Einsatz dürfte also dann am Höchsten sein, wenn der Zeitpunkt zum Eingreifen denkbar ungünstig ist.
Militär ist insofern nicht das letzte, sondern das äußerste Mittel der Krisenprävention. Die Möglichkeit der militärischen Intervention sollte im Baukasten der Präventionsstrategien verbleiben, damit „Ungewissheit über das Risiko die weniger Friedfertigen in unserer Welt davon abhält, aus Krisen bewaffnete Konflikte werden zu lassen“.9 Unter welchen Voraussetzungen und für welche Fälle solche Interventionen erlaubt sein sollen, sind strittige Fragen, die mit der Debatte um präemptive Sicherheitspolitik, wie sie etwa in der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie vertreten wird,10 verbunden sind. Offen bleibt, wer über die Angemessenheit von präventiven Militäreinsätzen entscheidet, auf welcher völkerrechtlichen Grundlage sie durchgeführt werden und wie sich dazu das allgemeine Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen verhält. Kann mehr Stabilität erreicht werden oder nimmt damit die Unberechenbarkeit in der internationalen Politik zu, die am Ende nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringt?
Die Wege, Kriege zu verhindern und Frieden zu sichern, sind vielfältig. Das Wissen um die Ursachen von Konflikten ist größer als je zuvor. Die Ressourcen und Instrumente sind im Grundsatz vorhanden, obwohl auch hier das Bessere der Feind des Guten ist. Das heißt nicht, dass alle Konflikte lösbar wären und es nur vom Engagement von Außen abhängt, ob ein Konflikt zu einer Krise oder einem Krieg eskaliert, sondern dass Krisenprävention zu einem guten Teil auf präventionswillige Akteure vor Ort angewiesen ist. Dennoch muss der Präventionsgedanke an die Spitze der außen- und sicherheitspolitischen Prioritätenliste gesetzt werden.
Das zentrale Hindernis für die Verhütung von Konflikten und deren gewalttätige Eskalation liegt weniger in einem Mangel an Wissen über potenzielle Konflikte und Krisen, sondern vielmehr in einem Mangel an politischem Handlungswillen zur frühzeitigen Abwendung von Krisen. Die Überlegung, wie dieser Wille aufgebracht, mobilisiert und von einer „Kultur des Reagierens“ zu einer „Kultur der Prävention“ transformiert werden kann, sollte die politische Praxis stärker als bisher bestimmen.
Anmerkungen
1 Daten nach Angaben der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung <http://www.akuf.de> und des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung <http://www.hiik.de>.
2 Dazu ausführlich Varwick, Das Kriegsbild im Wandel. Kriegsführung unter terroristischer Bedrohung, in: Information für die Truppe, 4/2001, S. 39–44.
3 Ausführliche Argumentation bei Sven Bernhard Gareis/Varwick, Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen, 2. Aufl., Opladen 2002, S. 213–256.
4 Vgl. als konzeptionelle Gesamtdarstellungen Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflicts (Hrsg.), Preventing Deadly Conflicts, Washington 1997; ebenso Volker Matthies, Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als heilen, Opladen 2000, sowie Peter Wallensteen, Understanding Conflicts. War, Peace and the Global System, London 2002.
5 Neben der jeweiligen nationalen Expertise und den Bemühungen wichtiger internationaler Organisationen wie UN, NATO, OSZE, EU hat sich in den vergangenen Jahren eine extensive Infrastruktur herausgebildet, die Wissen zur Verfügung stellt. Beispiele sind das Conflict Prevention Network (CPN) der EU-Kommission, die International Crisis Group <http://www.crisisweb.org> und die European Platform for Conflict Prevention and Transformation <http://www.euconflict.org>.
6 Siehe als Beispiel den Bericht des UN-Generalsekretärs Kofi Annan zur „Verhütung bewaffneter Konflikte“ vom Juni 2001, in den auch die Erkenntnisse des viel beachteten Brahimi-Reports zur Reform der UN-Friedenssicherung vom Juli 2000 (vgl. Internationale Politik, 12/2000, S. 92 ff.) eingeflossen sind, sowie das Programm des Europäischen Rates zur „Verhütung gewaltsamer Konflikte“, ebenfalls vom Juni 2001.
7 Wortlaut des Koalitionsvertrags über <http://www.bundesregierung.de>
8 Zur Rolle Deutschlands siehe Reinhard Mutz (Hrsg.), Krisenprävention als politische Querschnittsaufgabe. Institutionelle und instrumentelle Ansatzpunkte für die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2002 und die äußerst lesenswerte Studie von Cord Meier-Clodt, Einsatzbereit in der Krise? Entscheidungsstrukturen der deutschen Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand, Berlin 2002.
9 So Klaus Naumann, Krisenreaktion, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, Hamburg/Berlin/Köln 2001, S. 866.
10Vgl. den (gekürzten) Abdruck S.113ff.
Internationale Politik 12, Dezember 2002, S. 1 - 10.