Kleinklein mit großer Zukunft
Technologie
Weltweit werden Milliarden in die Erforschung der Nanotechnologie gesteckt: Doch bis die ersten Nanoprodukte marktreif sind, wird es noch dauern
Nanotechnologie – die Welt des Allerkleinsten – gilt als Zukunftsbranche schlechthin. Regierungen und Firmen in aller Welt mobilisieren Milliarden, um sich auf diesem Feld möglichst weit vorn zu positionieren. Die Aussichten sind so gewaltig wie verschwommen.
Wovon ist hier überhaupt die Rede? Nano – das bezeichnet das Milliardstel einer Einheit. Ein Nanometer sind 10-9 Meter, also 0,000000001 Meter. Ein Haar ist in dieser Welt ein gigantischer Baumstamm. Gegenstand der Nanotechnologie, so lautet die offizielle Definition, ist die Erforschung, Herstellung, Charakterisierung und Anwendung von Systemen mit Ausdehnungen unter 100 Nanometern, sprich: 100 Millionstel Metern.
Wenn man zehn der kleinsten Atome des Elements Wasserstoff in Reihe parkt, kommt man etwa auf einen Nanometer. Diese Winzwelt ist enorm facettenreich und daher strikt interdisziplinär. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Biologie, Chemie und Physik. Nanoforscher kommen aus völlig verschiedenen Fachrichtungen und verfolgen gänzlich unterschiedliche Ziele. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Großlabor in Palo Alto, vor vielen Jahren. Auf einer Etage machten viele Forscher viele verrückte Sachen. Eine junge Wissenschaftlerin tüftelte dort an mikroskopisch kleinen Maschinchen und schwärmte von der gigantischen Zukunft dieser Minitechnologie.
Die Forscherin phantasierte von kleinen Robotern, die durch unsere Blutbahnen schwimmen und Reparaturarbeiten verrichten könnten. Heute sind die Nanopropheten mit ihren Vorhersagen weiter. Nanotechnologie, sagen sie, wird völlig neue Materialien und Herstellungsverfahren ermöglichen. Sie verheißen maßgeschneiderte Moleküle und „atomgenaue Fertigung“. Und dass man das gesamte Wissen dann bald in einer Streichholzschachtel verstauen können wird.
Sollten wir eines Tages tatsächlich dazu in der Lage sein, würde das die Welt völlig verändern. Wer Atome wie Legosteine zusammenzusetzen weiß, kann neue Stoffe kreieren. Und später auch komplexere Strukturen, gar Lebewesen – Armeen von Mikroorganismen etwa, die Gifte in feinsten Humus umwandeln. Wir Menschen würden entsetzlich lange leben, weil in unseren Körpern Nanobots patroullierten, die alles Schädliche vom Virus bis zur Krebszelle vernichten, den Kalk wegfräsen und alle Defekte reparieren würden. Dem Physiker Richard P. Feynman schwante schon vor bald einem halben Jahrhundert, eines Tages werde es gelingen, „den Chirurgen zu schlucken“.
Manch interessante Idee ist jetzt im Raum – zum Beispiel die Dendrimer-Technologie: Winzige, baumartig aufgebaute Polymere werden hier, mit Wirkstoffen beladen, zu bestimmten Körperzellen geschickt, etwa zu Krebszellen. Berühmter noch sind die Nanoröhrchen aus simplem Kohlenstoff, mit denen weltweit herumexperimentiert wird. Die kleinen Röhrchen haben starke Eigenschaften: Sie leiten Wärme und Strom, sind haltbarer als Diamanten, dazu hundertmal leichter und deutlich belastbarer als Stahl. Schon gibt es erste Nanokreationen. Superkratzfeste Autolacke und Brillengläser etwa, auch Nanopartikel für die Dentalmedizin. Der deutsche Spielzeughersteller Heros offeriert Holzbausteine, die mit einem speziellen Lack aus Silbernanopartikeln beschichtet sind – in Tests starben Bakterien auf diesen Klötzchen ab. Auch sich selbst reinigende Kleidung aus Nanotex ist schon in Arbeit. Aus Hongkong dringt die frohe Kunde von einer Baumwolle mit Titandioxid-Beschichtung zu uns, die im Sonnenlicht allen Schmutz zersetzt.
In den „NanoInvestors News“ finden sich hunderte Firmen, die Nano im Namen tragen, von der Beijing Nano Sunshine Technology Co. über NanoHorizons Inc. bis zu Yashnanotech. „Im Prinzip kann man enorm viel machen“, wusste Feynman schon 1959. 30 Jahre später gelang es an IBMs Almaden Research Center, Atome einzeln an ihren Platz zu packen: Die Herren schrieben mit 35 Xenon-Atomen den Schriftzug IBM. Solche Forschung half etwa, die Datendichte auf Festplatten enorm zu erhöhen. Erinnert sich noch jemand, was für eine tolle Sache vor 15 Jahren eine Festplatte mit einer Kapazität von 20 Megabyte war? Heute ist das Zehntausendfache Standard.
Vor dem großen Nanodurchbruch aber wird noch viel Schweiß fließen. Ultrakurzpulslaser arbeiten heute bis auf ein paar Tausendstel Millimeter genau. Aber das reicht nicht. Die Forscher brauchen Nanowerkzeuge und -maschinen. Für die Entwicklung solcher Gerätschaften gibt es an der Universität Stanford schon einen großen Sandkasten: die „Nanofabrication Facility“. Am Berkeley Lab wurde ein „Nanowire Nanolaser“ aus Zinkoxydkristallen gebaut. Andere Forscher setzen eher auf eine „biologische Produktion“, sie wollen Atome und Moleküle stimulieren, sich selbst zu komplexeren Systemen zu organisieren.
Das Potenzial scheint so immens, dass mindestens 30 Länder Geld in die Hand nehmen, um den Traum voranzutreiben. Hauptzentren sind Japan, Europa und die USA. Internationale Vergleichszahlen zeigen, dass die EU knapp zwei, die USA knapp drei und Japan gut sechs Dollar pro Kopf für die Förderung der Nanotechnologie ausgeben. In den USA startete noch unter Clinton die National Nanotechnology Initiative (NNI). Ende 2003 unterzeichnete George W. Bush den 21st Century Nanotechnology Research and Development Act, mit einem Budget von stolzen 3,7 Milliarden Dollar für vier Jahre. Auch die EU verstärkt ihre Anstrengungen. Deutschland setzt auf Kompetenzzentren – just wurde an der Uni Hamburg ein nanowissenschaftliches Zentrum errichtet.
Die amerikanische National Science Foundation sagt voraus, Nanotechnologie könnte bereits im Jahre 2015 Produkte im Wert von einer Billion Dollar generieren, vor allem in den Bereichen Herstellung, Elektronik, Pharma, Energie und Chemie. Andere sind da sehr viel skeptischer. Es werde Jahrzehnte dauern, bis Nanoprodukte Marktreife erlangen, meint etwa Tom Theis, Physikchef der IBM-Forschung. Nanotech-Indizes an den Börsen schwanken heftig. Skeptiker spotten über „Nanoprofite“ – weil es in der hochkomplexen Welt des Allerkleinsten ewig dauern kann, marktreife Produkte zu entwickeln. Einige Wissenschaftler warnen gar vor großen Gefahren. Bill Joy, Chefwissenschaftler bei Sun Microsystems, skizzierte schon vor Jahren das Schreckgespenst sich selbst replizierender, außer Kontrolle geratener Nanobots. Auf der anderen Seite stehen Einrichtungen wie das vom Nanoguru Eric Drexler gegründete Foresight Institute, das dem dank Nanotechnik hyperintelligenten und quasi unsterblichen Menschen entgegenfiebert. Wer Recht hat? Womöglich beide.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 106 - 107.