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29. Juni 2018

Kleines Wirtschaftslexikon Russland

Weltraum

Ausbildung und Innovation

Bildung genießt in Russland einen ausgesprochen hohen Stellenwert – das zeigt eine Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-Ebert-Stiftung, die in diesem Frühjahr veröffentlicht wurde. Demnach hat eine gute Ausbildung ihrer Kinder für gut zwei Drittel (61 Prozent) der russischen Familien oberste Priorität.

Das russische Bildungssystem wurde nach dem Ende der Sowjetunion reformiert, galt allerdings in den neunziger Jahren als chronisch unterfinanziert. Das hat sich seit dem ersten Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000 geändert. Wie der OECD Better Life Index zeigt, ist das russische Bildungswesen im internationalen Vergleich inzwischen recht gut aufgestellt. Demnach verfügen dort insgesamt 95 Prozent der Bevölkerung im Alter von 25 bis 64 Jahren über einen Abschluss des Sekundarbereichs II und damit deutlich mehr als im OECD-Durchschnitt, der bei 74 Prozent liegt. Und beim jüngsten PISA-Test im Jahr 2015 erzielten russische Schüler in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften ­durchschnittlich 492 Punkte, knapp mehr als im OECD-Durchschnitt (486 Punkte).

Auch universitäre Bildung genießt in Russland ein hohes Renommee. Der Akademikeranteil in der Bevölkerung hat sich seit 1990 verdreifacht. Laut einem OECD-Bericht von 2014 haben 53,3 Prozent der Russen zwischen 25 und 64 Jahren einen Hochschulabschluss. Damit ist Russland das Land mit der höchsten Akademikerquote weltweit. Als beste Universität des Landes gilt die Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität.

Die internationale Bedeutung russischer Hochschulen könnte allerdings größer sein: So sind im Shanghai-Ranking von 2017, bei dem unter anderem verglichen wurde, welche Auszeichnungen Mitarbeiter und Alumni einer Universität bekommen haben und wie oft ihre Forschungsarbeiten zitiert wurden, nur drei Einrichtungen des Landes gelistet. Das ist umso bemerkenswerter, als noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts gerade die Mathematiker zu den besten Köpfen weltweit zählten. Nicht umsonst spricht man von Markow-­Ketten, Ljapunow-Exponenten oder der Chapman-Kolmogorow-Gleichung.

Inzwischen aber zieht es viele russische Forscher ins Ausland; andere Akademiker entscheiden sich gleich ganz gegen eine Forschungskarriere und für besser bezahlte Jobs in der freien Wirtschaft.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat Präsident Wladimir Putin Wissenschaft und Technologie zur nationalen Priorität ausgerufen. Im Jahr 2015 legte die Regierung in der so genannten Nationalen Strategischen Initiative fest, welche technisch-wissenschaftlichen Branchen künftig besonders gefördert werden sollen. Dazu zählen unter anderem Big Data, Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie und Robotertechnik. Wer in der Künstlichen Intelligenz die Führung übernehme, erklärte Putin kürzlich vor Studenten, „wird Herrscher der Welt.“

Ein weiteres Ziel der Regierung ist es, den Transfer von neuem Wissen in die Wirtschaft anzukurbeln. Im vergangenen Jahr lag Russland im Global Innovation Index auf Platz 45. Als besondere Hemmnisse für Innovationen werden darin fehlende Rechtsstaatlichkeit, eine mangelhafte logistische Infrastruktur und der schwierige Zugang zu Kapital benannt. Die innovativsten Regionen Russlands waren im vergangenen Jahr laut der „Assozia­tion innovativer Regionen Russlands“ Moskau, Sankt Petersburg und Tatarstan, eine autonome Republik im östlichen Teil des europäischen Russlands.

Nachholbedarf hat Russland etwa in Sachen Digitalisierung. Laut der Unternehmensberatung McKinsey beträgt der Anteil der digitalen Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt gerade einmal 4 Prozent. Die russische Regierung hat daher kürzlich die Ini­tiative „Digitale Wirtschaft“ gestartet. Jährlich fließen nun 1,4 Milliarden Euro in den Aufbau einer digitalen Infrastruktur und den Ausbau der IT-Sicherheit. Dabei arbeitet das Land auch mit deutschen Partnern zusammen. SAP etwa betreibt ein Innovationslabor gemeinsam mit dem russischen Stahlhersteller NLMK. Dort sollen digitale Lösungen für die metallverarbeitende Industrie und den Bergbau entwickelt werden. Und der Roboterhersteller Kuka hat erst kürzlich einen Liefervertrag mit dem russischen Fahrzeugbauer Kamaz unterzeichnet.

Auch die Städte sollen nach den Plänen der Regierung smarter werden. So ist vorgesehen, dass bis zum Jahre 2020 ein 5G-Mobilfunknetz in russischen Städten mit mehr als einer Million Einwohnern zum Standard gehören soll. In Moskau steht bereits jetzt in 99 Prozent des Stadtgebiets ein 4G-Funknetz zur Verfügung. Einer Studie von Smart Cities World zufolge können Moskauer Bürger auf mehr als 200 städtische Dienstleistungen elektronisch zugreifen. Daneben sollen bis 2020 alle vier Millionen Moskauer Haushalte mit digitalen Stromzählern ausgestattet sein.

Zudem will man den Verkehr intelligenter steuern. Seit 2012 sammeln knapp 150 000 installierte Kameras in Moskau Daten zum Verkehrsgeschehen. Das daraus generierte Wissen hat dazu beigetragen, dass Autos sich 2016 im Schnitt um 12 Prozent schneller in der Stadt von A nach B bewegten als noch 2012.

Viel getan wird derzeit auch in Sachen Start-up-Förderung. 2010 gab der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew den Anstoß für den Start-up-Campus Skolkowo, westlich von Moskau – die russische Antwort aufs Silicon Valley. Die dort angesiedelten Jungunternehmen erhalten neben Steuervergünstigungen auch Zugang zu staatlichen Fördermitteln und Beratungsprogrammen. Darüber hinaus hat die russische Regierung weitere Institutionen ins Leben gerufen, um Innovationen zu fördern: Die Russian Venture Company stattet Jungunternehmer mit Wagniskapital aus; in Coaching-Institutionen, so genannten Acceleratoren, wie Generation S lernen sie, ihre Geschäftsideen umzusetzen.

Laut einem Fortschrittsbericht vom Juni 2017 generiert der Technologiepark Skolkowo mittlerweile Umsätze von etwa 2,5 Milliarden Dollar pro Jahr und hat 22 100 Arbeitsplätze geschaffen, 6300 davon vor Ort. Darüber hinaus plant die russische Regierung nun ein weiteres Megaprojekt: Nahe der Millionenmetropole Kazan soll eine ganze IT-Stadt namens Innopolis mit Universität, Technologiepark und Wohnkomplexen gebaut werden. 150 000 Menschen sollen dort einmal leben, arbeiten und forschen.

Die russische Start-up-Szene lockt mittlerweile auch deutsche Investoren an. Die Bayer AG unterstützt Start-ups im Agrarsektor, und der Darmstädter IT-Dienstleister Darz hat im vergangenen Frühjahr 1,4 Millionen Euro in das russische Streaming-Start-up Playkey investiert.

Dennoch gibt es in Sachen Finanzierung noch Nachholbedarf für die russische Gründerszene. Das zeigt der Global Startup Ecosystem Report 2017. Obwohl die russische Hauptstadt in Sachen Humankapital und Talente ganz vorne gelistet wird, ist Moskau aus den Top 20 der weltweiten Start-up-Ökosysteme herausgefallen. Die Begründung der Autoren: Die politische Lage mache es für Geldgeber immer unattraktiver, in Russland zu investieren.

Brain Drain

Über diesen Einwanderer dürfte sich sogar Donald Trump freuen: Der Mathematiker Michael Brin verließ 1979 seine Heimat, weil er wegen seiner jüdischen Herkunft in Russland keine Forscherkarriere machen durfte. Brin brachte seinen damals fünfjährigen Sohn Sergej mit – der später gemeinsam mit Larry Page die Suchmaschine Google gründen sollte.

Aus amerikanischer Sicht ist diese Geschichte ein Beispiel für gelungene Integration. Aus russischer Sicht steht sie für eines der größten Probleme des Landes: die Abwanderung kluger Köpfe. Derzeit verlassen jährlich rund 100 000 russische Bürger ihre Heimat; etwa 40 Prozent davon zählen zu den Bessergebildeten. Das meldeten Forscher der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst Anfang des Jahres. Die Forscher werteten Migrationsdaten aus und führten qualitative Interviews mit Migranten. Jeder vierte der Befragten sagte, er gehe aus politischen Gründen; andere nannten die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage nach 2014 als Ursache. Insgesamt lebten derzeit rund 2,7 Millionen Russen im Ausland, so die Forscher.

Was das für das Land bedeutet, zeigt eine Statistik des BRICS Business Magazine aus dem Jahr 2014. Das Lobbymagazin kürte darin die „größten Denker der Schwellenländer“. 22 der 54 ausgewählten Wissenschaftler waren dabei russischer Herkunft, doch nur acht von ihnen lebten noch in ihrer Heimat.

Begonnen hat der Exodus russischer Wissenschaftler und Unternehmer bereits Anfang der neunziger Jahre, nach dem Ende der Sowjetunion. Der freie Journalist Boris Kaimakow schrieb schon 1997 im Handelsblatt: „Geht man davon aus, dass Russland den Kalten Krieg verloren hat, so ist die Einbuße an der intellektuellen Elite wohl die schwerste Reparation, die es zu leisten hat.“

Und der Russische Gesellschaftliche Rat zur Entwicklung der Bildung (ROSRO) nannte 2002 konkrete Zahlen. Seinerzeit waren in den USA 30 Prozent der Mathematiker und bis zu 50 Prozent der theoretischen Physiker russischer Herkunft.

Irina Ivakhnyuk von der Moskauer Lomonossow-Universität analysierte im Jahr 2006 die Gründe für den Fortzug gerade gebildeter Russen. Sie kam zu dem Schluss, dass vor allem die Geringschätzung geistiger Arbeit dafür verantwortlich sei. Diese spiegelt sich auch in verschiedenen anderen Statistiken wider. Nach Angaben der OECD gab die russische Regierung im vergangenen Jahr nur 1,1 Prozent ihres Bruttoinlands­produkts für Forschung und Entwicklung aus. Auf tausend Angestellte kommen gut sechs Forscher. Damit liegt Russland international im hinteren Mittelfeld. In Deutschland etwa liegen die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei 2,9 Prozent des BIP. Auf tausend Angestellte kommen hierzulande neun Forscher.

Dazu schreckt viele gut gebildete Russen die niedrige Bezahlung in ihrem Heimatland. Der russische Professor Viktor Makarenko, Leiter des Taganrog Metallurgical College, unterzeichnete im Februar gemeinsam mit Kollegen einen öffentlichen Brief an Premierminister Dmitri Medwedew, in dem er die geringen Löhne von Hochschullehrern kritisierte. Die Gehälter seien zwischen 2012 und 2016 nicht angehoben worden, obwohl sie mit etwa 150 Dollar pro Monat fast 80 Prozent unter dem nationalen Durchschnittsgehalt lägen, schreibt Makarenko.

Gerade im Vergleich zum Ausland ist die Diskrepanz oft beachtlich. So stellte das Onlineportal PayScale.com im Jahr 2010 fest, dass Ärzte in Russland gerade einmal so viel verdienten wie Sekretärinnen. In den USA dagegen zählten medizinische Fachspezialisten zu den Bestverdienern. Und auch wer an der Universität forscht, verdient im Ausland oft ein Vielfaches seines Gehalts in Russland.

Selbst die russische Regierung gibt zu, dass sich etwas ändern muss. Die Situation sei untragbar, erklärte Premierminister Dmitri Medwedew Anfang 2017 beim Russian Investment Forum in Sotschi. Die russische Nachrichtenagentur TASS zitierte ihn mit den Worten: „Wir exportieren Öl, Gas und leider intellektuelle Ressourcen. Während die ersten beiden Punkte auf der Liste der russischen Regierung Geld einbringen, verlieren wir unsere intellektuellen Ressourcen für immer und ohne Gegenleistung. Das ist Verschwendung.“

Immer wieder hat die Regierung daher in den vergangenen Jahren Programme aufgelegt, um Wissenschaftler aus dem Ausland zurückzuholen. Seit 2010 vergibt die russische Regierung Forschungsstipendien an Wissenschaftler, so genannte Mega-Grants, in Höhe von rund zwei Millionen Euro pro Projekt. Und kürzlich startete die Regierung eine Initiative namens „Kommt wieder zurück nach Russland!“, um vor allem russische Studenten in den USA und Großbritannien zur Rückkehr zu bewegen. Die Moskauer Behörde für im Ausland lebende Staatsbürger warnte Studenten vor einer antirussischen Haltung der Universitäten und möglichen Schikanen für russische Staatsbürger.

Noch scheinen diese Bemühen allerdings nur bedingt zu fruchten – zumal der Exodus anhält. Im April veröffentlichte die Russische Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst eine weitere Studie. Wie die Befragung von 18- bis 30-jährigen Arbeitnehmern in den Regionen Iwanowo, Swerdlowsk und Nowosibirsk ergab, ist die Hälfte der Masterabsolventen bereit, für einen „guten Job“ ihr Land zu verlassen. Bei jungen Erwachsenen mit Berufsausbildung war etwa ein Drittel der Befragten bereit, in solch einem Fall umzuziehen.

„Je höher das Bildungsniveau, desto größer ist auch die Bereitschaft der jungen Menschen, Arbeit im Ausland zu suchen“, lautete eine Schlussfolgerung der Forscher. Gutgebildete hätten mehr Chancen im Ausland, zudem gebe es weniger Jobs für sie im Inland.

Eine andere Zahl scheint das zu bestätigen. Die Personalberatung Agentstvo Kontakt befragte 2016 rund 470 russische Manager und kam zu dem Ergebnis, dass 42 Prozent gerne ihr Land verlassen würden. Die Gründe: bessere Geschäftsbedingungen, ein höherer Lebensstandard und bessere Chancen bei der Investorensuche im Ausland.

Infrastruktur

Seit Jahren ist die Infrastruktur in Russland eines der größten Wachstumshemmnisse für das Land. Nicht umsonst hat Präsident Putin versprochen, in seiner neuen Amtszeit die Investitionen in Straßen, Brücken und Schienen deutlich zu erhöhen. Damit könnte sich ein positiver Trend der vergangenen Jahre fortsetzen: Russland hat sich zuletzt kontinuierlich bemüht, seine Infrastruktur und damit seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.

Während das Land 2012 im Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums noch auf Rang 67 lag, hat es sich inzwischen auf Rang 38 vorgearbeitet. Wie der Report aber auch zeigt, ist das Niveau der russischen Infrastruktur je nach Bereich sehr unterschiedlich. Bei der Qualität ihrer Straßen etwa liegt die Russische Föderation nach wie vor auf dem 114. Rang und damit deutlich hinter anderen Schwellenländern wie China oder Indien. Besser schneidet die russische Bahninfrastruktur ab. Hier belegt das Land Rang 23. Und bei der digitalen Infrastruktur – konkret: bei der Anzahl der Handybesitzer – liegt das Land sogar auf Rang neun.

Ein großer Treiber in ­Sachen Infrastruktur war zuletzt die ­Fußball-Weltmeisterschaft. Laut WM-Chef­organisator Alexei Sorokin hat die Regierung umgerechnet insgesamt 6,95 Milliarden Euro in Stadien und WM-Infrastruktur investiert. Davon wurden sechs Stadien neu auf- und drei weitere aufwändig umgebaut. Zudem bekamen die Flughäfen in den elf Ausrichterstädten neue Terminals –mit Ausnahme des für Olympia bereits rundum erneuerten Sotschis.

Darüber hinaus hat die russische Regierung weitere große Infrastrukturprojekte angestoßen. Eines der umstrittensten Projekte ist der Bau einer kombinierten Auto- und Eisenbahnbrücke über die Straße von Kertsch, die die Krim vom russischen Festland trennt. Eigentlich war die Fertigstellung der Brücke bis Ende des Jahres geplant, nun hat Putin schon Mitte Mai die Brücke für den Autoverkehr eröffnet. Mit einer Länge von 19 Kilometern soll das Bauwerk die längste Brücke Europas sein, vor der gut 17 Kilometer langen Ponte Vasco da Gama bei Lissabon. Aus Sicht der ukrainischen Regierung ist das Bauprojekt allerdings eine Grenzverletzung, weil Kiew die Krim nach wie vor als sein Staatsgebiet betrachtet. Die beteiligten Baufirmen wurden daher bereits 2016 mit US-Sanktionen belegt.

Nur gut 20 Kilometer von der Brücke entfernt wird auf dem russischen Festland ebenfalls kräftig gebaut. Die russische Regierung will den Schwarzmeerhafen Taman für umgerechnet rund 2,5 Milliarden Euro erweitern. Damit sollen unter anderem neue Kapazitäten für den Getreideexport geschaffen werden. Und auch in die Eisenbahn investiert der Kreml. So wurde 2014 mit der Rekonstruktion der Baikal-Amur-Magistrale und der Transsibirischen Eisenbahnstrecke begonnen. Neue Gleise, neue Oberleitungen, Bahnstationen und Brücken kosten den Staat insgesamt etwa sieben Milliarden Euro.

Des Weiteren ist eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Moskau und der Großstadt Kasan geplant. Bisher existiert diese Trasse nur auf dem Papier, denn die Verhandlungen mit der chinesischen ­Eisenbahn, die beim Bau helfen soll, stocken. Wie das Handelsblatt im ­vergangenen Jahr berichtete, wurde der ursprünglich für 2018 geplante Starttermin bereits auf 2023 verschoben.

Besser voran geht es scheinbar bei einem anderen russisch-chinesischen Kooperationsprojekt. Die russische Bahn plant den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke für Personen und Güter zwischen China und der EU. Bislang dauert die Bahnfahrt zwischen Moskau und Peking sechs Tage; ein neuer Schnellzug soll künftig schon nach zwei Tagen ankommen. Der Bau könne bis 2026 abgeschlossen werden, erklärten Vertreter der russischen Eisenbahngesellschaft Mitte vergangenen Jahres.

Den größten Nachholbedarf in Sachen Infrastruktur hat Russland allerdings beim Thema Straßen: Das gilt zum einen innerstädtisch, aber auch landesweit. Ein großes innerstädtisches Problem sind die endlosen Staus, die vor allem den Bürgern in Moskau den Alltag erschweren. Die russische Hauptstadt hat die zweithöchste Verkehrsdichte der Welt. Im Ranking der durch Verkehr verstopften Städte 2017, das vom amerikanischen Verkehrsdatenanbieter INRIX kürzlich veröffentlicht wurde, schnitt nur Los Angeles noch schlechter ab. Demnach standen Moskauer im Schnitt 91 Minuten pro Tag im Stau. Ähnlich ergeht es den Einwohnern der Städte Yurga und Murmansk.

Um das Problem in den Griff zu bekommen, wird der öffentliche Nahverkehr in Moskau kontinuierlich ausgebaut. Ende vergangenen Jahres genehmigte Wladimir Putin den Bau von 17 neuen Straßenbahnlinien. Die ersten Strecken sollen bereits Ende 2018 oder spätestens Mitte 2019 eröffnen. Die Kosten der Bauvorhaben belaufen sich laut der Moskauer Deutschen Zeitung auf rund 750 Millionen Euro. Die neuen Verbindungen sollen dazu beitragen, dass bestimmte Vororte besser verbunden sind, ohne dass man in Moskau umsteigen muss. Die Kosten übernehmen die Stadt Moskau und die Eisenbahngesellschaft RZhD jeweils zur Hälfte.

Während der Kreml innerstädtisch also in wachsendem Maße auf den öffentlichen Nahverkehr setzt, stehen im ganzen Land neue Straßenbauprojekte an. Nach Angaben des CIA World Factbook verfügt die Föderation derzeit nur über knapp 1,3 Millionen ausgebaute Straßenkilometer – von denen 2012 gerade einmal gut 900 000 Kilometer asphaltiert waren. Und selbst die asphaltierten Straßen sind in schlechtem Zustand, weil die Qualitätsvorgaben für Straßenbelag in Russland lange Zeit niedrig waren. Die riesigen Schlaglöcher in Russlands Überlandstraßen sind schon fast legendär. Zum Vergleich: Das Straßennetz der USA umfasst knapp 6,6 Millionen Kilometer, rund 4,3 Millionen davon sind asphaltiert.

Vor allem aber sind einige russische Regionen wie Tschukotka ganz im Nordosten des Landes bisher quasi nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Die russische Regierung will solche Gebiete nun besser erschließen. Dafür ist unter anderem eine 1880 Kilometer lange Trasse nach Anadyr geplant. Zudem soll die erste Schnellstraße Sibiriens gebaut werden, zwischen Kemerowo und Nowokusnezk.

Von den russischen Bürgern und Unternehmen seit Langem erwartet wird zudem ein weiteres Infrastrukturprojekt: eine neue Autobahn zwischen Moskau und Sankt Petersburg. Diese soll noch in diesem Jahr fertig werden. Geplant war die Eröffnung eigentlich zur Fußball-Weltmeisterschaft im Juni. Nun müssen sich die Bürger doch noch etwas länger gedulden. Der neue Eröffnungstermin ist für den Spätherbst angesetzt. Dass Straßenbauprojekte in Russland oft länger dauern als geplant, hat allerdings einen trivialen Grund: Die Geografie und das Klima machen derartige Projekte sowohl zu einer logistischen als auch zu einer finanziellen Herausforderung. In Russland wird daher in steigendem Maße mit neuartigen technischen Geotextilien und Geogittern gearbeitet. Diese werden in den Straßenbelag eingearbeitet, um dessen Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.

Korruption

„Kormlenie“ nannte man im Zarenreich den Usus, dass Verwaltungsbeamte ihr Vermögen aufbesserten, indem sie Zahlungen von der ansässigen Bevölkerung verlangten. Mancher Beobachter sieht dieses System in Russland bis heute erhalten. Nicht umsonst liegt man auf Platz 135 des aktuellen Korruptionsindex von Transparency International – direkt hinter Paraguay.

Wie ein Bericht des Foreign Policy Research Institute von April zeigt, gehört Korruption für viele Menschen in Russland zum Alltag. So haben im vergangenen Jahr 9 Prozent der Russen im Krankenhaus Geld bezahlt, um schneller behandelt zu werden. Und 6 Prozent haben der Polizei Geld zugesteckt, um nicht wegen Verkehrssünden belangt zu werden. Medienberichten zufolge werden russische Bürger teils selbst dann extra zur Kasse gebeten, wenn sie einen Verwandten bestatten wollen.

Das erschwert auch das Geschäftsleben. Das russische Forschungsinstitut Indem hat im Auftrag der Weltbank 1000 Unternehmen befragt und ausgerechnet, dass die russische Wirtschaft pro Jahr etwa 261 Milliarden Euro an Bestechungsgeldern zahlt.

Das Foreign Policy Research Institute listet in seinem Bericht drei gängige Arten von Korruption auf. Betroffen sind zum einen Kleinunternehmen, die für staatliche Genehmigungen häufig extra zahlen müssen. Ein weiteres Risiko sind intransparente Eigentumsverhältnisse, etwa im Zuge der Wiederverstaatlichung der Öl- und Gasproduktion. So lande ein großer Teil der Ölgewinne auf dubiosen Offshore-Konten. Als drittes Risiko nennen die Autoren staatliche Beschaffungsverfahren. Die Auftragsvergabe sei oft intransparent oder werde manipuliert. Korrupte Unternehmen bereicherten sich, indem sie vom Staat überhöhte Preise verlangten.

Dabei verspricht Wladimir Putin schon seit seiner ersten Amtszeit im Jahr 2000, die Korruption im Land zu bekämpfen. Und auch Dmitri Medwedew, der das Präsidentenamt von 2008 bis 2012 innehatte, verabschiedete zu Beginn seiner Amtszeit einen Nationalen Antikorruptionsplan sowie Gesetze, die Beamte zu mehr Transparenz verpflichteten.

Nachhaltigen Erfolg hatte das nicht. In der Befragung von Transparency International im Jahr 2016 gaben 77 Prozent der Befragten an, die ergriffenen Maßnahmen seien ineffektiv. Auch die Justiz unternimmt wenig. Zwar wurden in den vergangenen Jahren die Gouverneure von Sachalin, Perm und einer Reihe weiterer Regionen wegen Betrugsvorwürfen festgenommen. Hochrangige Politiker und Geschäftsleute werden dagegen kaum belangt. Eine Ausnahme ist der Fall des ehemaligen Wirtschaftsministers Alexei Uljukajew. Er wurde Ende letzten Jahres zu einer Geldstrafe von zwei Millionen Euro und acht Jahren Lagerhaft wegen Bestechung verurteilt. Uljukajew soll vom Chef des teilstaatlichen Ölkonzerns Rosneft Geld bekommen und diesem im Gegenzug erlaubt haben, Teile des Ölkonzerns Baschneft zu übernehmen. Kritiker des Prozesses vermuten allerdings, dass der als liberal geltende Uljukajew nur verurteilt wurde, um ihn politisch außer Gefecht zu setzen.

Landwirtschaft

Lange Zeit galt die Landwirtschaft als das Sorgenkind der russischen Wirtschaft. Nach dem Ende der Sow­jetunion mussten viele Betriebe schließen; seit 1992 gingen rund 35 Millionen Hektar Ackerfläche verloren. Gegen die technologisch fortgeschrittenen Betriebe aus dem Westen und deren vergleichsweise günstige Importe hatten russische Bauern keine Chance.

Das hat sich geändert. In den vergangenen Jahren hat die russische Landwirtschaft einen starken Aufschwung erlebt. Während die Gesamtwirtschaft in den Jahren 2015 und 2016 schrumpfte, legte die Agrarproduktion um 2,6 bzw. 4,8 Prozent zu. Am stärksten wächst dabei der Getreidesektor: Nimmt man alle Sorten zusammen, erntete Russland im Erntejahr 2016/17 laut USDA Foreign Agricultural Service rund 119,1 Millionen Tonnen – so viel wie noch nie zuvor. Das macht sich auch beim Export bemerkbar. 2016 nahm Russland durch die Ausfuhr von Agrarprodukten rund 17 Milliarden Dollar ein, mehr als durch den Rüstungsexport. Beim Getreideexport hat man inzwischen sogar die USA überflügelt; bei Schweine- und Geflügelfleisch ist Russland ebenfalls Nettoexporteur.

Die Gründe für diesen beachtlichen Aufschwung sind vielfältig. Einerseits profitieren Russlands Landwirte vom schwachen Rubel, der sie ihre Ware zu vergleichsweise günstigen Preisen auf dem Weltmarkt verkaufen lässt. Zudem hilft ihnen das Importverbot für Agrarprodukte und Lebensmittel aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Norwegen, das Russlands Präsident Putin 2014 im Zuge der Krim-Krise in Kraft gesetzt hat. Nach derzeitigem Stand sollen die Sanktionen bis mindestens Ende 2018 in Kraft bleiben.

Anfangs stieß der Importstopp bei der russischen Bevölkerung auf Kritik, weil sich Nahrungsmittel im Land stark verteuerten. Durchschnittlich 10 Prozent mehr mussten Verbraucher laut russischem Statistikamt Rosstat kurz nach Inkrafttreten der Maßnahme für Lebensmittel bezahlen. Die russische Regierung aber hielt dagegen: Das Importverbot sei vielmehr eine Chance für die russischen Landwirte, endlich mit dem Westen gleichzuziehen. Russlands Vize-Ministerpräsident ­Arkadi ­Dworkowitsch sagte 2015 beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg: „Wenn dieses Embargo endet, wird Russland nicht nur ein Imperium sein, das Öl und Gas verkauft, sondern auch ein mächtiger Agrarproduzent.“

Damit das gelingt, hat die russische Regierung die Subventionen für Landwirte stark erhöht. Allein 2018 will das Landwirtschaftsministerium für den so genannten agrarindustriellen Komplex umgerechnet rund 3,59 Milliarden Euro bereitstellen. Für die Jahre 2019 und 2020 sind jeweils rund 3,61 Milliarden Euro eingeplant. Von diesen Geldern profitieren bislang allerdings vor allem Großbetriebe, weniger die Kleinbauern im Land. Fast drei Viertel der in Russland produzierten Getreidesorten und Sonnenblumen kommen inzwischen von den Feldern großer Agrarholdings. Gleichzeitig stand nach Informationen der deutschen Wirtschaftsfördergesellschaft Germany Trade & Invest (GTAI) Ende 2015 jeder vierte Kleinbauer vor der Insolvenz.

Vor allem im Süden des europäischen Russlands haben Agrarkonzerne ihre Ackerflächen in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet. Zu den größten Produzenten gehört die Agrarholding Prodimex des Unternehmers Igor Chudokormow, die laut GTAI rund 800 000 Hektar Ackerfläche bewirtschaftet. Das entspricht etwa der Ackerfläche Baden-Württembergs.

Und auch zahlreiche Oligarchen entdecken plötzlich ihre Lust an der Landwirtschaft: So sind jüngst Milliardäre wie Roman Abramowitsch oder Oleg Deripaska, Gründer des russischen Mischkonzerns Basic Element, in den Getreideanbau eingestiegen. Die Landpreise hat das stark nach oben getrieben. Dabei sind die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft häufig eng: Der Familie des amtierenden Agrarministers Alexander Tkatschew etwa gehört der viertgrößte Grundbesitz des Landes.

Vom Aufschwung der russischen Landwirtschaft profitieren auch europäische und deutsche Handelspartner. Der Landtechnikhersteller Claas etwa hat mit der russischen Regierung einen speziellen Investitionsvertrag abgeschlossen. Danach hat das Unternehmen den offiziellen Status eines „russischen Herstellers“ erhalten.

Neben Mähdreschern und Traktoren sind derzeit auch Melkmaschinen in Russland gefragt und auch Saatgut wird zu großen Teilen importiert. Trotz dieser Investitionen sei die russische Landwirtschaft allerdings noch nicht auf dem technischen Niveau westlicher Staaten angekommen, kritisierte das Institute of International Finance Anfang des Jahres im Handelsblatt.

Präsident Wladimir Putin hält das nicht davon ab, sich hohe Ziele zu setzen. Wie die Agentur Bloomberg im April berichtete, strebt Russland bei der Lebensmittelversorgung wirtschaftliche Unabhängigkeit an. Bisher klappt das nur in wenigen Bereichen, etwa bei der Hühner- und Schweinezucht. Aber immerhin: Ein erster Schritt ist getan. Im Jahr 2016 importierte Russland Lebensmittel im Wert von knapp 20 Milliarden Euro und damit rund 5 Prozent weniger als noch sechs Jahre zuvor.

Oligarchen

In der aktuellen Forbes-Liste der reichsten Menschen finden sich unter den Top 100 neun Russen. Die meisten dieser als „Oligarchen“ bezeichneten Wirtschaftslenker, die häufig der Politik nahestehen, haben ihr Vermögen durch Erdöl, Gas, Stahl oder Rohstoffe erworben. Der reichste von ­ihnen ist der Stahlunternehmer Wladimir Lisin mit einem geschätzten Vermögen von 19,1 Milliarden Dollar, kurz dahinter folgt Alexei Morda­schow mit rund 18,7 Milliarden. Aber auch wenn sich die reichen Russen einiges leisten können – unabhängig sind sie nicht. Ihr wirtschaftlicher Erfolg hängt meist stark von Putins Wohlwollen ab.

Wie Eberhard Schneider in seiner Studie „Putin und die Oligarchen“ (2004) beschreibt, begann der Aufstieg dieser gesellschaftlichen Klasse mit dem Niedergang der Sowjetunion. Anfang der 90er Jahre bekam jeder Russe einen Gutschein über eine bestimmte Rubelsumme geschenkt, den er in den ehemaligen Staatsbetrieben anlegen konnte. Viele der späteren Oligarchen hatten schon in der Sowjetunion als Chefs kleiner, lokaler Betriebsgemeinschaften gearbeitet und nutzten nun ihre Ersparnisse, um im großen Stil Gutscheine aufzukaufen. So gelang es ihnen, Einfluss in den ehemaligen Staatsunternehmen zu gewinnen. Reich wurden in dieser unkontrollierten Phase der Privatisierung auch viele Russen, die Banken oder Rohstoffe besaßen.

Die Oligarchen waren damals nicht nur wirtschaftlich mächtig, sondern oft gleichzeitig Teil der staatlichen Machtstrukturen. So berief der damalige Präsident Boris Jelzin Anfang Dezember 1992 den Vorstandsvorsitzenden des teilstaatlichen Gaskonzerns Gazprom, Wiktor Tschernomyrdin, zum Premierminister. Überhaupt reklamierten die Wirtschaftsbosse gern Mitsprache, wenn es um die Besetzung politischer Ämter ging. Vor der Wahl 1996 etwa taten sich Russlands sonst eher zerstrittene Oligarchen zusammen, um Jelzins Wiederwahl zu unterstützen und den drohenden Wahlsieg der Kommunisten zu verhindern. Mit Erfolg: Der Staatschef wurde wiedergewählt.

Mit diesen Ränkespielen war es allerdings vorbei, als Jelzin im Dezember 1999 zurücktrat und die Amtsvollmachten an Wladimir Putin übergab. Der neue Präsident begann, den Einfluss der Oligarchen zurückzudrängen. Unter anderem sorgte er dafür, dass die Medienmogule Boris Beresowski und Wladimir Gussinski, die auch als Initiatoren der Jelzin-Kampagne galten, ihre Fernseh- und Zeitungsanteile verkaufen und 2001 ins Ausland gehen mussten. Kurz zuvor hatte sich Putin mit anderen Oligarchen auf einen Deal geeinigt: Er sicherte den Superreichen zu, ungestört wirtschaften zu können – vorausgesetzt, sie hielten sich aus politischen Belangen heraus.

Dass Putin es mit dieser Drohung ernst meinte, zeigte sich kurze Zeit später am Fall des Vorstandsvorsitzenden des Ölkonzerns Yukos. Michail Chodorkowski wurde Ende 2003 verhaftet und wegen Steuerhinterziehung und planmäßigen Betrugs zu zehn Jahren Haft verurteilt. Kurz zuvor hatte der Unternehmer den Wahlkampf der demokratisch-liberalen Oppositionsparteien Jabloko und Union rechter Kräfte unterstützt und sich auch wirtschaftlich immer mehr der Kontrolle des Kremls entzogen.

Seitdem sind die Machtverhältnisse klar: Die Oligarchen haben erkannt, dass Patriotismus und Loyalität zu Putin die besten Strategien für wirtschaftlichen Machterhalt sind. Ihr politischer Einfluss im Kreml ist stark zurückgegangen. Manche Oli­garchen versuchen, auf regionaler Ebene Einfluss zu nehmen, wie Julia Kusznir von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa in ihrer Studie „Russlands Oligarchen: Eine neue Basis in den Regionen?“ von 2004 beschreibt. Um die Jahrtausendwende traten in mehreren Regionen Wirtschaftslenker bei Gouverneurswahlen an oder finanzierten die Wahlkämpfe ihrer Wunschkandidaten.

Andere Oligarchen konzentrieren sich lieber auf die Vermehrung ihres Reichtums – wohl auch zulasten der Bevölkerung. In den Panama Papers, die das International Consortium of Investigative Journalists im Mai 2016 öffentlich machte, finden sich die Namen von 16 russischen Milliardären. Und die britische NGO Tax Jus­tice Network hatte vier Jahre zuvor ausgerechnet, dass reiche Russen seit 1990 mehr als 800 Milliarden Dollar in Steueroasen geschafft haben.

Dabei hat Putin dem ­Offshore-Kapital vieler Russen offiziell den Kampf angesagt. „Ein Fünftel der russischen Exporte, russische Waren im Wert von 111 Milliarden Dollar, kommen durch Offshore-Firmen auf den Weltmarkt. Die Hälfte der russischen Investitionen im Ausland gehen in Offshore-Firmen, 50 Milliarden Dollar. Hinter diesen Zahlen steht die Flucht von Kapital, das in Russland hätte versteuert werden müssen!“ Das erklärte der Regierungschef im Jahr 2013. Kritiker werfen ihm allerdings vor, dass er beim Kampf gegen die Steuerhinterziehung kremlnahe Oligarchen ausgespart habe.

All das dürfte das Image der Oligarchen nicht gerade verbessert haben. Schon 2004 hatte eine Umfrage, die das Institut für komplexe Sozialforschung an der Russischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung Moskau unter 1750 russischen Bürgern durchführte, ergeben, dass das Wort „Oli­garch“ bei vielen als Schimpfwort gilt.

In den vergangenen Jahren hat sich das politische Kräfteverhältnis weiter zugunsten des Kremls und zulasten der Wirtschaftslenker verschoben. Die Finanzkrise 2008/09 und die westlichen Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise seit 2014 haben die wirtschaftliche Abhängigkeit der Oligarchen vom russischen Staat wachsen lassen. Nach Angaben von Stefan Meister, Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, war es einigen Oligarchen zuletzt nur über Kredite der großen staatlichen Banken möglich, ihre Auslandsschulden zu refinanzieren.

Dazu kommen persönliche Abhängigkeiten. Viele der heutigen Oligarchen sind frühere Datschen-Freunde oder Geheimdienstkameraden von Wladimir Putin. Die Oligarchen Wladimir Jakunin, Jurij Kowaltschuk und Andrei Fursenko etwa kennen Putin, seit er Anfang der 1990er Jahre in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg für Außenwirtschaftsbeziehungen zuständig war. Ihrer Karriere hat das gut getan: Wladimir Jakunin wurde 2005 zum Präsidenten der staatlichen Russischen Eisenbahn ernannt; Andrej Fursenko wurde unter Putin zunächst Industrieminister, dann bis 2012 Bildungsminister und gilt seither als enger Berater des ­Präsidenten.

Gemeinsam mit dem Präsidenten Sport zu machen, kann sich in Russland ebenfalls lohnen. Der Bauunternehmer Arkadi Rotenberg etwa trainierte früher mit Putin Judo. Heute erhält er regelmäßig Aufträge staatlicher Unternehmen, etwa im Zuge der Olympischen Winterspiele in Sotschi.

Rüstungsindustrie

Nur einen Tag nach seiner Wiederwahl im März hatte der russische Präsident eine klare Botschaft an den Westen. Er sei gegen einen Rüstungswettlauf und hoffe auf konstruktive Gespräche mit internationalen Partnern, sagte Wladimir Putin. Und er versprach: Russland werde 2018 und 2019 seine Militärausgaben kürzen.

Diese versöhnliche Ankündigung beruht nach Einschätzung von Experten allerdings vor allem auf wirtschaftlichem Kalkül. Zwar hat Russland die Rezession inzwischen überwunden, die Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft liegen allerdings nach wie vor unterhalb der vom Kreml angestrebten Ziele. Politisch dagegen hat die Rüstungsindustrie immer noch höchste Priorität in der Föderation. Das zeigt ein Blick in Russlands Nationale Sicherheitsstrategie von 2015. Oberstes Staatsziel sei es, „eine dynamische Entwicklung in der Rüstungsindustrie, der atomaren Industrie und der Weltraumindustrie zu gewährleisten“, heißt es da.

Die russische Rüstungsindustrie umfasst laut einem Bericht des Institute for Security Studies der Europäischen Union derzeit gut 1300 Organisationen und Unternehmen mit insgesamt 1,3 Millionen Beschäftigten. Die russischen Militärausgaben belaufen sich demnach auf 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allerdings hat die Branche dem Bericht zufolge derzeit mit Problemen zu kämpfen. Viele Waffensysteme wurden verspätet und in geringerer Menge ausgeliefert als geplant; das Land hinkt seinen Aufrüstungsplänen bis 2027 hinterher. Ein Grund dafür könnten auch die westlichen Sanktionen sein, mutmaßen die Autoren des Reports.

Die russische Regierung versucht, die Ausfälle durch nationale Produkte zu ersetzen, und vor allem: sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Anfang März stellte Putin bei einer Rede an die Nation gleich mehrere neue Raketen und mit Nuklearsprengköpfen bestückte Torpedos vor. Die neuen Waffensysteme sind nach Angaben der Regierung Teil der Militärplanung bis 2027, die man im vergangenen Jahr verabschiedet hatte.

Auch an den Exportzahlen lässt sich die Wirkung der Sanktionen gegen Russland ablesen. Wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) feststellte, sind die russischen Waffenverkäufe im Fünfjahreszeitraum von 2013 bis 2017 im Vergleich zu 2008 bis 2012 um 7,1 Prozent gesunken. Trotzdem bleibt Russland nach den USA zweitgrößter Waffenexporteur der Welt. 2017 hat die russische Rüstungsindustrie nach Angaben des Staatsunternehmens Rosoboronexport Waffen im Wert von etwa 12,2 Milliarden Euro in 53 Länder exportiert. Zu den besten Kunden Russlands gehören Indien, Algerien und Vietnam. Moskau sei für 62 Prozent aller Waffenbestellungen Indiens verantwortlich, teilte SIPRI mit.

Gute Geschäfte hat der Kreml 2017 auch mit Saudi-Arabien gemacht. Das saudische Königshaus stattete die eigenen Streitkräfte kürzlich mit Flug­abwehrsystemen vom Typ S-400 aus Russland aus. Eine S-400-Einheit besteht dabei in der Regel aus mehreren Batterien mit eigener Radaranlage, Steuereinheiten und mobilen Start­rampen. Diesen Deal gab die russische Behörde für militärtechnische Zusammenarbeit Ende 2017 auf der Luftfahrtmesse in Dubai bekannt. Politisch ist das Geschäft heikel: Denn bisher hielt sich das saudische Königreich militärisch eng an die USA.

Sanktionen

Der Konflikt um die Krim hat die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nachhaltig verschlechtert. Seit März 2014 hat die Europäische Union nach und nach Sanktionen gegen Russland erlassen.

In einem ersten Schritt ­wurden Reisebeschränkungen gegen ­bestimmte Personen verhängt und das Einfrieren ihrer Konten verfügt. Die Liste der Betroffenen ist inzwischen auf 150 Personen und 38 Organisationen angewachsen. Dabei handelt es sich insbesondere um Separatisten aus der Ostukraine und russische Politiker, die die Annexion der Krim unterstützt haben.

In einem zweiten Schritt hat die EU Handelsbeschränkungen für Waren von der Krim erlassen; auch Investitionen vor Ort wurden eingeschränkt. Dazu kommen ein Waffenembargo, ein Ausfuhrverbot für militärisch nutzbare Güter und Zugangsbeschränkungen für einige Finanzinstitute zu den Kapitalmärkten.

Die USA haben ebenfalls Maßnahmen ergriffen. Im März 2014 hat das Weiße Haus Einreiseverbote gegen russische Personen verhängt, ihre Vermögenswerte eingefroren und Bürgern und Unternehmen der USA verboten, Geschäfte mit den Sanktionierten zu machen. Betroffen waren zunächst vor allem russische Politiker und Militärs. Seitdem hat das Weiße Haus die Liste um zahlreiche Namen erweitert. Inzwischen finden sich dort auch die Namen von einigen Unternehmern, Konzernen und Banken. Mit Sanktionen belegt ist seit Kurzem auch der Gründer des russischen Mischkonzerns Basic Element, Oleg Deripaska.

Beobachter beurteilen die Auswahl der USA als ­vergleichsweise willkürlich – ein Grund, warum die Verunsicherung in Russland wächst. Nach der jüngsten Bekanntgabe weiterer Sanktionen durch das Weiße Haus im April ließ sich auf der Forbes-Liste beobachten, wie die 50 reichsten Russen binnen Stunden mehrere Milliarden Dollar an Vermögen verloren. Der russische Aktien­index RTS stürzte nach Handelseröffnung um 12 Prozent ab.

Die russische Regierung hat auf die westlichen Sanktionen mit harten Gegenmaßnahmen reagiert. So hat der Kreml 2014 ein Importverbot für Agrarprodukte und Lebensmittel aus der Europäischen Union, den USA, Kanada, Australien und Norwegen verhängt. Das betrifft hauptsächlich Fleisch, Milch- und Salzprodukte, Fisch und Meeresfrüchte, Nüsse, Gemüse und Obst. Inzwischen sind auch Importe dieser Güter aus Albanien, Montenegro, Island und Liechtenstein verboten. Dazu kommen Einreiseverbote: Die Russische Föderation hat unter anderem Visasperren gegen 89 Personen aus der Europäischen Union verhängt, vor allem gegen Politiker und Militärangehörige.

Wie stark die westlichen Sanktionen Russland wirtschaftlich unter Druck setzen, ist umstritten. Denn dass die russische Wirtschaft in den Jahren 2015 und 2016 schrumpfte, könnte auch eine Folge des niedrigen Ölpreises, des schwachen Rubels und ausbleibender Wirtschaftsreformen gewesen sein. Fakt ist: Seit 2017 befindet sich die russische Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten forderten daher bei einem Treffen im Januar, die Sanktionen auslaufen zu lassen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Wirkung entfalten, wird von Tag zu Tag geringer“, sagte Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff.

Hinzu kommt: Sanktionen treffen nie nur eine Seite. Wie Ökonomen der wirtschaftspolitischen Regierungsberatung Berlin Economics im Mai vergangenen Jahres berechneten, ist der EU-Export nach Russland 2016 im Vergleich zu 2013 um 47 Milliarden Euro gesunken. Der sanktionsbedingte Rückgang betrug demnach bis zu 20 Milliarden Euro, die weiteren Rückgänge waren unter anderem der Verunsicherung im Markt geschuldet. Die negative Wirkung des sanktionsbedingten Export­rückgangs auf das Bruttoinlandsprodukt der EU schätzten die Ökonomen für 2016 auf bis zu 0,05 Prozent.

Inzwischen erholt sich der Handel zwischen der EU und Russland allmählich. Wie der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft berichtete, gab es in den ersten vier Monaten 2017 gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von 27 Prozent bei den deutschen Exporten nach Russland. Die deutschen Importe aus Russland stiegen um 34 Prozent. Auch gibt es für europäische Firmen durchaus Möglichkeiten, die Sanktionen zu umgehen: So erreichen europäische Agrarprodukte wie Äpfel oder Käse den russischen Markt via Weißrussland oder Kasachstan im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion.

Als politisches Signal zumindest dürften die Sanktionen vorerst wohl dennoch weiter in Kraft bleiben. Erst im Mai hat die Europäische Union die Reisebeschränkungen für ausgewählte russische Staatsbürger um weitere sechs Monate verlängert.

Vier Russlands

Glänzende Autos, schicke Geschäftsstraßen, moderne Hochhäuser in Moskau. Kleine Dörfer ohne Strom und unbefestigte Straßen im fernen Osten. Russland ist ein Land mit ausgesprochen vielen Facetten.

Offiziell besteht die Russische Föderation aus 85 so genannten Föderationssubjekten (einschließlich der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol, deren Einordnung international umstritten ist). Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen sind seit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre stark gestiegen. Schon mehrmals haben Wissenschaftler versucht, diese Differenzen systematisch zu beschreiben. Bekannt geworden ist zum Beispiel die Einteilung des Landes in „Vier Russlands“ durch Natalja Subarewitsch, Professorin an der Fakultät für Geografie der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau. Subarewitsch unterscheidet zwischen vier Kategorien: In wachsenden Großstädten wie Moskau, Sankt Petersburg oder Kazan genießt eine eher liberale Mittelklasse einen Lebensstandard, der durchaus mit mitteleuropäischen Ländern vergleichbar ist.

In den zahlreichen mittelgroßen Industriestädten, die wirtschaftlich oft stark von wenigen Großbetrieben abhängen, lebt vor allem die Arbeiterschicht. Diese Gruppe macht etwa 25 Prozent der russischen Bevölkerung aus und gilt als loyal zum Kreml – zumindest solange ihre Löhne pünktlich überwiesen und ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigt sind.

Rund 40 Prozent der Bevölkerung ist dem „dritten Russland“ zuzuordnen. Kleinstädte und ländliche Regionen in Russland sind oft geprägt durch schlechte Infrastruktur und niedrigen Bildungsstand. Viele Menschen leben von Subsistenzwirtschaft; die Lebenswelt der Großstädter ist ihnen weitgehend fremd. Viele dieser Regionen leiden zudem unter einem starken Bevölkerungsrückgang. Vom wirtschaftlichen Wachstum der Putin-Ära haben sie kaum profitiert.

Und schließlich gibt es im Vielvölkerstaat Russland zahlreiche ethnische Republiken, etwa im Nordkau­kasus. Dort leben die Menschen häufig noch in traditionellen Klanstrukturen; wirtschaftlich sind sie überdurchschnittlich stark von staatlichen Transferleistungen abhängig. Dieser Kategorie sind etwa 5 Prozent der ­Bevölkerung zuzuordnen.

Der langfristige Trend geht zu noch mehr Ungleichheit: Die Unterschiede hinsichtlich des regionalen Bruttoinlandsprodukts in Russland haben sich von 1999 bis 2009 nahezu verdoppelt, schreibt Andreas Heinemann-Grüder, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, in einer Analyse für die Bundeszentrale für politische Bildung von 2014. Zu den ärmsten Regionen gehören Gebiete im Nordkaukasus sowie an der mongolischen Grenze, aber auch Orte im Landesinneren wie ­Brjansk oder Kirow. Moskau und Sankt Petersburg sowie Leningrad und das östliche Sachalin verzeichneten dagegen zu Beginn des Jahrtausends hohe Zuwächse beim Pro-Kopf-Einkommen.

Die Unterschiede im durchschnittlichen Monatseinkommen differieren zwischen den Regionen mit einem Faktor von bis zu 5,3: Im reichen Moskau verdient man im Schnitt mehr als fünf Mal so viel wie in der armen Republik Kalmykien. Die Gründe für diese regionale Teilung sind vielfältig. Zum einen gibt es geografische Unterschiede. Neben städtischen Metropolen zählen auch rohstoffreiche Gebiete zu den Regionen, denen es besser geht.

Dazu kommen strukturelle Probleme. In vielen Regionen Russlands sind die Eigentumsrechte nach wie vor nur schwach geschützt, die Bürokratie ist mächtig und Korruption ist stark verbreitet. Das macht Investitionen für Unternehmen unattraktiv. Der Kreml unterstützt ärmere Regionen zwar durch Transferzahlungen. Diese sind aber äußerst intransparent. Zudem werden sie in der Regel dafür genutzt, um Budgetdefizite auszugleichen, und nicht, um notwendige Infrastruktur vor Ort aufzubauen.

Politisch befinden sich viele Regionen in einer starken Abhängigkeit vom Kreml. So kann der Präsident Gouverneure abberufen, wenn diese nicht mehr sein Vertrauen besitzen. Der Politikwissenschaftler Heinemann-Grüder ist der Ansicht, dass diese Struktur die wirtschaftliche Stagnation verstärkt. „Regionaladministrationen sehen sich […] unter dem permanenten Druck föderaler Kontrollorgane, und ehe sie etwas falsch machen könnten, unternehmen sie oft lieber nichts“, schreibt er. Verstärkt werde dieser Effekt, da die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Zentralregierung und föderalen Strukturen oft nicht klar geregelt sei.

Die Rezession der vergangenen Jahre hat die wirtschaftliche Lage in vielen Regionen weiter verschlechtert. So sind in etwa der Hälfte der russischen Regionen von 2014 auf 2015 die Investitionen zurückgegangen; fast überall sanken die Einkommen. Das wiederum hat dazu geführt, dass Einzelhandel und Dienstleistungssektor geschrumpft sind. In vielen ländlichen Regionen hat die Selbstversorgung wieder zugenommen. Als am krisenanfälligsten gelten dabei oft die Regionen des „zweiten Russlands“: Gerät dort einer der wenigen Großbetriebe in wirtschaftliche Schwierigkeiten, hat das oft verheerende Auswirkungen auf den Wohlstand in der gesamten Region.

Auch die ärmsten Regionen, die stark von Transferleistungen aus dem Kreml abhängig sind, leiden: Da auch der Kreml weniger Geld hat, sind die Zuschüsse gesunken. Da die Regionen gleichzeitig nur in geringem Umfang selbst Steuern erheben dürfen, fällt es ihnen immer schwerer, ihre föderalen Aufgaben wahrzunehmen.

Das zeigt: Um die wirtschaftlichen Unterschiede im Land zu lindern, bräuchte es vor allem Strukturreformen. Im Laufe der Krise hat die russische Regierung bereits einige Anreize gesetzt, um mehr politischen Wettbewerb zuzulassen und die Wirtschaftspolitik zu verbessern. Unter anderem wurden mehrere Gouverneure wegen Korruption bestraft. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kommt in ihrer Analyse allerdings zu dem Schluss: „Die Regierung in Moskau geht also nicht so weit, eine genuine Dezentralisierung zu unterstützen; die halbherzigen Maßnahmen zeitigen wenig Wirkung und sind kaum geeignet, zur Überwindung der gegenwärtigen Krise beizutragen.“ Noch immer könne sich letztendlich jener Lokal­politiker im Amt halten, der loyal zum Kreml sei – und nicht der, der die beste Politik mache.

Für die Bevölkerung vor Ort ist das eine schlechte Nachricht – eigentlich. Doch Präsident Wladimir Putin hat einen anderen Weg gefunden, um die Regionen zwar nicht sozioökonomisch, so doch wenigstens politisch zu vereinen. Spätestens seit Beginn der Krim-Krise positioniere sich die russische politische Führung „propagandistisch in einem ‚Wertekampf‘ gegen den Westen“, schrieb die SWP in einer weiteren Studie bereits 2014. Putins Wahlergebnis hat das gut getan: Mit über 76 Prozent der Stimmen wurde er bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr wiedergewählt.

Weltraum

Am 4. Oktober 1957 schoss die Regierung der Sowjetunion den ersten Satelliten ins All – ein technologischer und politischer Sieg für das Land. Es war der Beweis, dass man den Westen in der Raumfahrt hinter sich gelassen hatte. Kurz danach folgte ein zweiter Triumph: Mit Juri Gagarin flog 1961 als erster Mensch ein Russe ins All.

Den Stolz auf seine Raumfahrt hat sich das Land bis heute bewahrt. „Wir werden unbemannte und später auch bemannte Missionen zur Erschließung des tiefen Weltraums unternehmen, und auch ein Mondprogramm und die Erforschung des Mars“, sagte Präsident Wladimir Putin in einer Dokumentation des Regisseurs Andrej Kondraschow, die wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl im März ausgestrahlt wurde.

Tatsächlich steht die Föderation nach wie vor gut da in Sachen Weltraumtechnik. Zum einen hat das Land eine weltweite Monopolstellung bei ISS-Flügen: Wer zur Internationalen Raumstation will, muss vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur starten. Diesen Shuttleservice lässt sich Russland mit mehr als 70 Millionen Dollar pro Sitz vergüten. Und mit 21 Raketenstarts im vergangenen Jahr belegte Russland im internationalen Vergleich immerhin Platz zwei hinter den USA mit 29 Starts.

Seine einstige Vormachtstellung aber hat das Land verloren. Die russische Raumfahrt krankt an mehreren Problemen. Nach Angaben des Deutschlandfunks sind in den letzten zehn Jahren 15 russische Missionen komplett gescheitert, bei vier weiteren gab es gravierende Probleme. Der neue Weltraumbahnhof Wostotschny im Osten Russlands befindet sich immer noch im Bau. Das etwa 5,3 Milliarden Euro teure Prestigeprojekt musste mehrmals unterbrochen werden, weil Arbeiter ihre Löhne nicht erhalten hatten und streikten. Und nachdem ein erster Raketenstart am neuen Terminal 2016 geglückt war, scheiterte die zweite Mission. Russland wollte 2017 einen Erdbeobachtungssatelliten in eine Umlaufbahn bringen. Aber weil das System falsch auf den neuen Startplatz programmiert war, stürzte das teure Equipment zurück auf die Erde. Auch die Entwicklung des Trägersystems Angara hat sich lange verzögert. Ziel ist es nun, die Serienproduktion 2021 beginnen zu lassen. Die Angara soll perspektivisch bisherige russische Raketentypen wie die Proton ablösen.

Zudem lässt die Effizienz der russischen Raumfahrt zu wünschen übrig. Vizepremier Dmitri Rogosin räumte 2015 vor der Staatsduma ein, die US-Raumfahrt sei neun Mal effektiver als die russische. Das US-Unternehmen Orbital Sciences etwa habe mit 1300 Mitarbeitern 13 Mal weniger Beschäftigte als der russische Chrunitschew-Konzern. Die Jahresleistung je Mitarbeiter sei bei dem US-Konzern dennoch mit fast 414 000 Dollar unvergleichlich höher.

Auch die westlichen Sanktionen machen den Russen Probleme. Besonders hart trifft sie der Importstopp von weltraumtauglicher Mikroelektronik, die das Land bisher zu rund 90 Prozent im Westen zugekauft hat. Russland ist nun auf Importe aus China angewiesen. Bis eine eigene Produk­tion aufgebaut ist, wird es Jahre dauern. Vor allem, da das Budget knapp ist: Im Frühjahr 2016 gab der Kreml bekannt, dass Russland seine geplanten Ausgaben für die Raumfahrt bis 2025 von zwei auf 1,5 Trillion Rubel (ca. 18,7 Milliarden Euro) kürzt.

Um der russischen Raumfahrt wieder zu ihrer internationalen Vorreiterrolle zu verhelfen, hat Präsident Putin Anfang des Jahrzehnts umfassende Strukturreformen angestoßen. Die russische Raumfahrtagentur Ros­kosmos wurde mit allen wichtigen Akteuren zusammengeführt und in „Staatliche Korporation für Weltraum­aktivitäten Roskosmos“ umbenannt. Trotz knappen Budgets will Russland mit neuen Trägerraketen wieder konkurrenzfähig werden. Große Hoffnungen ruhen auf der Entwicklung der Sojus-5-Rakete, die bis zu 17 Tonnen Nutzlast ins All befördern und künftig auch für bemannte Raumfahrtmissionen genutzt werden soll.

Darüber hinaus setzt Russland auf internationale Kooperationen, um die enormen Kosten der Raumfahrtmissionen stemmen zu können. Mit der ESA etwa sucht Roskosmos nach Spuren von Leben auf dem Mars. Und im September 2017 gab die russische Raumfahrtagentur bekannt, dass sie sich am US-Projekt „Deep Space Gateway“ beteiligen will. Diese Raumstation soll um den Mond kreisen und von dort Mondlandungen sowie Flüge tiefer ins All ermöglichen. Sie könnte eine Alternative zur Internationalen Raumstation ISS werden, deren Finanzierung nach 2024 nicht gesichert ist.

Ein wichtiger Partner ist daneben China. Die Volksrepublik hat in den vergangenen Jahren in der Raumfahrt große Fortschritte gemacht und plant, noch in diesem Jahr als erste Raumfahrtnation einen Erkundungs-Rover auf die Rückseite des Mondes zu bringen. Auch Russland ist am Mond interessiert: Moskau will mehrere Sonden zum Erdtrabanten schicken, bevor bis etwa 2030 erstmals ein Kosmonaut den Mond betreten soll. Die beiden Staaten haben daher im vergangenen Jahr ein gemeinsames Raumfahrtprogramm bis 2022 entworfen. Außer bei der Mondforschung wollen sie auch beim Einsatz von Satelliten und beim Monitoring von Weltraumschrott kooperieren.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2018, S. 32 - 53

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