IP

31. Dez. 2010

Keine Macht den Drogen

Der Kampf gegen afghanische Opiate hat oberste Priorität

In ihrer November/Dezember-Ausgabe von 2010 beschäftigte sich die IP mit dem organisierten Verbrechen. Vor einer Unterschätzung der Probleme, die der internationalen Gemeinschaft etwa durch den globalen Drogenhandel erwachsen, warnt der Vorsitzende des russischen Anti-Drogen-Komitees. Er fordert ein energisches Vorgehen gegen die afghanische Drogenproduktion.

Der Militäreinsatz von USA und NATO in Afghanistan wird im kommenden Herbst zehn Jahre alt. Die Situation im Land ist instabil; sie verschlechtert sich sogar. Die hierfür üblicherweise herangezogenen Erklärungen der Medien stellen die Problematik allerdings nicht ausreichend dar: Häufig sind Abhandlungen über aggressiven Islamismus oder den Kampf der Zivilisationen zu lesen oder Ausführungen zum „Faktor USA“, die angeblich zur Wahrung egoistischer geopolitischer Interessen die Region bewusst destabilisieren.

Solchen Verschwörungstheorien zufolge schüren die USA so genannte bewaffnete „Konflikte niedriger Intensität“, um ihren Bedarf an den fossilen Brennstoffen des Nahen und Mittleren Ostens auf perfide Art zu decken – unter dem Vorwand des Demokratieexports. Weitaus fundierter ist der Hinweis auf das weitverzweigte Terrornetzwerk in der Region, das ungeachtet der gigantisch teuren und umfangreichen Anstrengungen, die dagegen unternommen werden, das Land kontrolliert und immer wieder die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in Afghanistan und seinen Nachbarländern untergräbt.

Dennoch ist es heute kaum noch möglich, die Taliban als Terrororganisation zu bewerten. Laut offizieller Einschätzung der USA sowie Afghanistans, die auch von den Vereinten Nationen gestützt wird, sollten die Taliban als politische Opposition oder zumindest als Aufständische betrachtet werden, mit denen man in Verhandlungen treten muss. General James Jones, bis vor kurzem Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Obama, schätzte am 4. Oktober 2009 bei einer Anhörung vor dem Kongress die Gefahr durch Terrorismus gar folgendermaßen ein: In Afghanistan halten sich weniger als hundert Al-Kaida-Mitglieder auf, die über keinerlei Militärbasis und somit auch nicht über die Möglichkeit größerer Anschläge verfügen.

Demnach kommen auf einen Al-Kaida-Kämpfer in Afghanistan fast 1500 Soldaten der internationalen Koalition; für die Ausschaltung jedes einzelnen Kämpfers des Terrornetzwerks dürften die Steuerzahler jährlich etwa 300 Millionen Dollar zahlen. Wenngleich der Terrorismus zu Beginn des Afghanistan-Feldzugs ohne Zweifel bestimmend war, ist er in den vergangenen neun Jahren nach und nach zweitrangig geworden.

Vorrangig ist seit 2003 ein anderes Problem am Hindukusch, das allerdings bis heute von der internationalen Gemeinschaft nicht ernsthaft angegangen wird: die Drogenindustrie. In den letzten Jahren hat die Drogenproduktion in Afghanistan bislang ungekannte Ausmaße angenommen. So spielt sie heute alles andere als eine untergeordnete Rolle, es gibt gar immer mehr Grund zu der Annahme, dass der globale Terrorismus seinen Ursprung in der afghanischen Drogenproduktion hat. Die herkömmliche Logik, dass Terroristen den Drogenhandel unterstützen, um eine wirtschaftliche Basis für sich selbst zu schaffen, gilt also auch umgekehrt: Die Drogenproduktion ist der Ursprung für Terrorismus.

Dass Anbau und Handel mit afghanischen Opiaten rasant zugenommen haben, hat nicht zuletzt mit dem Militäreinsatz zu tun, der die inneren Prozesse und Strukturen des Landes vor allem in vier Punkten maßgeblich verändert:

  1. Der wachsende Unmut der lokalen Bevölkerung hat zur Bildung einer breiten politischen Opposition aus verschiedenen Parteien und Bewegungen geführt, wobei den Taliban keine Schlüsselrolle mehr zukommt.
  2. Der bewaffnete Widerstand dieser sich konsolidierenden Opposition hat einen kolossalen Anstieg militärischer Zusammenstöße bewirkt, was zu einem ständigen Wachstum der organisierten Kriminalität geführt hat.
  3. Die Intensität dieser Zusammenstöße hat die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Bauern zuvor traditionelle Kulturen anbauen konnten, zunichte gemacht. Der Anbau von Schlafmohn ist um ein Vielfaches rentabler geworden.
  4. Mehr als vier Millionen Menschen sind auf der Flucht. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich zahlreiche Drogenhändler. Darüber hinaus wird die gesamte afghanische Gesellschaft durch die bei den jungen Generationen weitverbreitete Drogenabhängigkeit destabilisiert.

So sind Drogen längst zu einem zentralen Problem in Afghanistan geworden – und das nicht nur für die Region, sondern auch für Russland und die westlichen Industrienationen: Die Opiumproduktion in Afghanistan ist vom Herbst 2001 bis Ende 2007 um mehr als das Vierzigfache gestiegen. Auch wenn in Afghanistan im Jahr 2010 mit 3600 Tonnen nur noch halb so viel Opium produziert wurde wie 2009, ist dies immer noch 20 Mal mehr als zur Zeit des Taliban-Regimes 2001 (185 Tonnen). Der Rückgang der Produktion in diesem Jahr ist im Übrigen nicht auf eine erfolgreiche Anti-Drogen-Strategie zurückzuführen, sondern auf klimatische Faktoren und eine Pilzerkrankung des Schlafmohns.1

Parallel dazu hat sich die Fläche der Mohnfelder zwischen 2000 und 2010 von 82 000 auf 123 000 Hektar ausgeweitet2 und auch der Konsum afghanischer Opiate ist in die Höhe geschnellt: 711 Tonnen Opium werden in Europa verbraucht, 549 in Russland und 212 auf dem amerikanischen Kontinent. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen sterben weltweit jährlich mehr als 100 000 Menschen an den Folgen des Konsums von afghanischen Drogen; in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends dürften also eine Million Menschen afghanischen Suchtmitteln zum Opfer gefallen sein, davon pro Jahr 10 000 Zivilpersonen aus den NATO-Staaten.2 Auch in Russland ist in den letzten Jahren die Zahl der Drogentoten mit 40 000 Personen pro Jahr deutlich gewachsen. Nicht nur Heroin, sondern auch Haschisch verbreitet sich rapide, in Russland wie auf der ganzen Welt.

Export von Instabilität und Terror

Darüber hinaus trägt der Handel mit afghanischen Opiaten maßgeblich zur Entstehung von Instabilität, Extremismus, organisiertem Verbrechen und Terrorismus bei, und das nicht nur in Afghanistan selbst, sondern auch weit entfernt vom Epizentrum der Produktion. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Im Nordkaukasus werden die nicht enden wollenden terroristischen Anschläge und die internationale Kriminalität genauso durch afghanischen Drogenhandel finanziert wie die Unruhen und militärischen Zusammenstöße im Ferghanatal; der Ausbruch von Separatismus und Extremismus im uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang ist nach Angaben der chinesischen Geheimdienste ganz auf den Handel mit afghanischem Heroin zurückzuführen; der Kosovo schließlich, der mitten in Europa liegt, hat sich zu einem Hauptumschlagplatz für afghanische Opiate entwickelt, die für den europäischen Markt bestimmt sind.

Gruppen und Kartelle, die durch afghanischen und globalen Drogenhandel entstehen, produzieren Terror. Im Konkurrenzkampf um Einfluss, Märkte und Kontrolle nutzen sie politische Strukturen mit kriminellen Mitteln; es entstehen einflussreiche anonyme und transnationale Machtzentren, die sich durch Drogenhandel finanzieren und die die Macht und Souveränität der Staaten signifikant untergraben. Nach Ansicht von UNODC erzielt der Schwarzmarkt für Drogen einen Jahresumsatz von durchschnittlich bis zu 500 Milliarden Dollar – das sind fünf bis acht Prozent des Welthandels. Zum Vergleich: Der Anteil von Stahlindustrie und Automobilbau auf dem internationalen Markt betrug 2,8 und 5,3 Prozent, der Anteil von Öl und Gas 8,6 Prozent. Die illegalen Geschäfte werden hauptsächlich mit Drogen gemacht, sie machen bis zu 78 Prozent des Umsatzes aus, wohingegen mit illegalem Waffenhandel ein Absatz von sieben Prozent und mit Menschenhandel, Prostitution und Migration die übrigen 15 Prozent erzielt werden.

Die Hauptakteure des globalen Drogenhandels sind heute auch maßgeblich an den globalen Finanz- und Wirtschaftsmärkten beteiligt und so de facto Hauptauslöser der Weltwirtschaftskrise. Wie hoch die Investitionen aus dem Drogengeschäft in Terrorismus und Wirtschaft sind, wurde deutlich, als die Drogenmafia nach Überzeugung des früheren Leiters von UNODC Antonio Costa zum Höhepunkt der Weltfinanzkrise 2009 etwa 352 Milliarden Dollar an die Banken einiger führender Industriestaaten überwies, die als liquides Kapital finanzielle Verluste ausgleichen sollten. Transnational organisierte Gruppen, die ihre wirtschaftliche und terroristische Macht erkennen, nehmen sich selbst verstärkt als politische Subjekte wahr. Kommt dann auch noch ein religiöser Hintergrund hinzu, entsteht eine explosive Mischung, deren Aggression sich auf die Industrienationen richtet, die in Wohlstand und Frieden leben.

Vor allem die Drogenproduktion in Afghanistan trägt dazu bei, solche illegalen Netzwerke zu alimentieren. Unsere Untersuchungen zeigen, dass in sieben Jahren eine beeindruckende Konzentration und Zentralisierung der Drogenmafia am Hindukusch stattgefunden haben: Das seit Ausbruch des Krieges fehlende vollwertige politische Subjekt ist durch eine transnationale Drogenmafia ersetzt worden. Innerhalb von zehn Jahren ist ein ganzes System zentralasiatischer Drogenkartelle entstanden, das an mexikanische Strukturen erinnert. Dabei haben sich wahrscheinlich nicht nur einzelne anonyme Machtzentren und eine große Zahl mächtiger Drogenkartelle in Zentralasien, sondern gleichzeitig eine Kommandozentrale entwickelt, die ein starkes Interesse am Erhalt der gegenwärtigen Drogenproduktion hat – denn der finanzielle Gewinn des Drogenhandels aus afghanischer Produktion ist beträchtlich: Nach UN-Angaben beträgt er jährlich mindestens 65 Milliarden Dollar. Interessanterweise ist der von den Vereinten Nationen berechnete Anteil der Taliban daran verschwindend gering; er beträgt nicht einmal 0,2 Prozent. Die hauptsächlichen Nutznießer des Geschäfts sind andere, sie haben keinerlei Verbindung zur nationalistischen Taliban-Bewegung.

Internationales Versagen …

Umso erstaunlicher ist, dass der Kampf gegen die Drogenkriminalität fast vollständig eingestellt wurde. Analysiert man das internationale Vorgehen, so wird deutlich, dass der afghanischen Drogenproduktion bei weitem nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteil wird und bislang keine ausgewogene Bewertung durch die internationale Gemeinschaft selbst stattgefunden hat. Das beweist nicht zuletzt das Abschlussdokument der Afghanistan-Konferenz in London vom 28. Januar 2010, in dem das Thema Drogen erst unter Absatz 27 kurz erwähnt wird. Natürlich ist der bloße Einsatz militärischer Gewalt sinnlos, führt er doch nur zur Bildung weiterer Terrorzellen, die mit Hilfe des modernen Bankensystems in wenigen Augenblicken Geld aus einer Region in eine andere überführen können.

Die Situation in Afghanistan wird am Beispiel der Provinz Helmand deutlich, in der über 65 Prozent des weltweit gehandelten Opiums produziert werden. Die von uns nachgewiesenen anonymen Machtzentren allerdings werden keinesfalls von der Provinz Helmand aus kontrolliert, sondern vom Norden Afghanistans aus, wo sich die Drogenlabore befinden, oder von außerhalb des Landes. Im Frühjahr 2010 hat der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Operation „Moschtarak“ in dieser Provinz zwar als „großen Erfolg“ bezeichnet. Aber die Lage der Aufständischen hat sich überhaupt nicht verändert; die Drogenproduktion ist nicht nur stabil geblieben, sondern sogar gewachsen. Der Beschluss der NATO, anstelle der Mohnfelder die Drogenlabore zu zerstören, hat dazu geführt, dass die neue Strategie der USA im Kampf gegen den Drogenhandel in Afghanistan, die im März 2009 vom damaligen US-Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, vorgestellt wurde, wenig effektiv ist. So wurde nur eine verschwindend geringe Zahl an Mohnfeldern zerstört, etwa 2000 Hektar.

In Bezug auf die Drogenlabore hatte Russland offizielle Daten von Holbrooke erhalten: 2008 wurden 13 Labore zerstört, 2009 bereits 25. Gleichzeitig waren unseren Geheimdiensten 2010 425 Labore bekannt – 2008 waren es 175. Die Zahl der Labore wächst also sehr viel schneller, als sie verringert werden kann.

… und internationale Kooperation

Russland ist besorgt über die Ineffektivität des Vorgehens. Die ungeheure Drogenproduktion in Afghanistan muss energisch bekämpft, die Felder und Labore müssen zerstört werden. Es ist an der Zeit, die zerstörerische Kraft des globalen Drogenhandels als reelle Bedrohung für die Welt zu erkennen. So ist es kein Zufall, dass die Staaten der westlichen Hemisphäre den Kokainhandel bereits als globale Bedrohung bewertet haben, indem die Organisation Amerikanischer Staaten am 8. Juni 2010 eine „Hemisphärische Drogenbekämpfungsstrategie für den amerikanischen Kontinent“ beschloss. Die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats vom 13. Oktober 2010, durch die Resolution 1943 die afghanische Drogenproduktion als Gefahr für den Frieden und die Stabilität der internationalen Gemeinschaft zu bezeichnen, ist ein weiterer großer Schritt in die richtige Richtung.

Die Anti-Drogen-Strategie der östlichen Hemisphäre muss endlich größere Bedeutung erhalten. Die Grundlage dafür bietet der russische Plan für den Kampf gegen die afghanische Drogenproduktion „Regenbogen 2“, der analog zu der für Afghanistan geltenden Regenbogen-Strategie von UNODC entwickelt wurde. „Regenbogen 2“ wurde vom Föderalen Dienst zur Kontrolle des Drogenhandels der Russischen Föderation ausgearbeitet und beinhaltet unter anderem die Vernichtung von Schlafmohnfeldern und den Austausch von Daten zwischen den Geheimdiensten der teilnehmenden Staaten.

Die russischen und amerikanischen Behörden, die sich mit der Kontrolle des Drogenhandels beschäftigen, haben bereits im Rahmen dieser Strategie eine Reihe von Einsätzen in Afghanistan durchgeführt. Die Dynamik dieses Prozesses muss nun auf internationaler Bühne begleitet werden, u.a. im Rahmen der Vereinten Nationen, der G-8, der G-20 und anderer internationaler Organisationen. Sollten keine entschlossenen und effektiven Maßnahmen ergriffen werden, wird das Krebsgeschwür der Drogenproduktion Metastasen entwickeln, die die Chance auf eine friedliche und schöpferische Weiterentwicklung der internationalen Gemeinschaft zunichte machen.

VIKTOR IVANOV ist Vorsitzender des russischen Anti-Drogen-Komitees und Direktor des Dienstes zur Kontrolle des Drogenhandels.

  • 1Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime/UNODC): Afghanistan Opium Survey 2010, September 2010.
  • 2Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime/UNODC): Addiction, Crime and Insurgency: The transnational threat of Afghan opium, Oktober 2009.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 94-99

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