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01. Jan. 2014

Kein Gas-Peak in Sicht

Schiefergas bietet neue Chancen für die Weltenergiemärkte

Prognosen zur künftigen Produktion und Nutzung von Schiefergas sind noch ungenau. Aber eine Tendenz zeichnet sich klar ab: Nach den Vereinigten Staaten, die zum Gasexporteur werden könnten, werden auch weitere Staaten ihre Schiefergasressourcen entwickeln. Auch Europas Unternehmen könnten davon profitieren.

Jüngste Analysen zeigen, dass es nicht nur in den USA und Europa, sondern auf allen Kontinenten Schiefergasvorkommen gibt. Spannend wird sein, wie sich dies auf die Weltenergiemärkte und etablierte Akteure der Erdgasförderung, insbesondere Russland, auswirken wird, aber auch welchen Nutzen die asiatischen Staaten, vor allem China, daraus ziehen werden.

Die fünf größten Erdgasproduzenten waren 2011 Russland (20 Prozent der Weltgasproduktion), die USA (19,2), Kanada (4,7), Katar (4,5) und der Iran (4,4). Erst danach kommt mit Norwegen das erste europäische Land, gefolgt von China, Saudi-Arabien, Indonesien und den Niederlanden. Betrachtet man nur die Netto­exporte, führt Russland vor Katar, Norwegen, Kanada und Algerien; die größten Nettoimporteure sind Japan, Italien, Deutschland, die USA und Korea. Wenn man davon ausgeht, dass hinter den genannten Positionen der Nettoexporte und -importe primär konventionelles Erdgas steht (laut Analyse der Internationalen Energieagentur Pipelinegas und verflüssigtes Erdgas), ist für die nächsten Jahre interessant, wie die weltweit vermuteten erschließbaren Schiefergasmengen den Weltgasmarkt und auch die Positionen der Produzenten verändern können. 

Anhaltspunkte hierfür gibt die jüngste Analyse der amerikanischen Energy ­Information Administration (EIA). Danach ist das Land mit den größten technisch erschließbaren Schiefergasressourcen die Volksrepublik China, gefolgt von Argentinien, Algerien, den USA und Kanada. Auch Australien und Südafrika haben beträchtliche Vorkommen, Russland liegt auf Platz neun. Die EIA kommt zu folgenden Ergebnissen:

• Die geschätzten Schiefergasressourcen sind 10 Prozent größer als 2011 angenommen.

• Die untersuchten Schiefergasressourcen können die technisch verfügbaren konventionellen Ressourcen um etwa 47 Prozent erhöhen.

• Die Schätzungen sind aufgrund relativ dürftiger Daten unsicher und es wird genauere länderspezifische Auswertungen geben müssen.

• Der Fokus liegt auf technisch gewinnbaren Mengen, also Mengen, die mit jetziger Technologie produziert werden können, im Gegensatz zu wirtschaftlich gewinnbaren Mengen, d.h. Mengen, die profitabel produziert werden können.

• Bislang ist nicht klar, bis zu ­welchem Ausmaß sich technisch erschließbare Schiefergasressourcen als wirtschaftlich rentabel er­weisen.

Eindeutige politische Unterstützung für die Schiefergasförderung gibt es in den USA und Kanada, in Australien und China. Auf dem afrikanischen Kontinent zeigt sich nur die südafrikanische Regierung offen für das Thema; diese hat im September 2012 ein Schiefergasmoratorium aufgehoben. In Südamerika unterstützt die Regierung Argentiniens die Entwicklung, bereits im Jahr 2008 hatte sie das Programm „Gas Plus“ eingeführt, um neu entdecktes Schiefergas zu fördern. Die Staaten Europas geben ein heterogenes Bild ab. 

Auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für mögliche Investoren sind unterschiedlich. Im Grundsatz offen für private Investoren sind Nordamerika, Australien und West­europa. China dürfte weiterhin seine Besonderheiten aufweisen, auch Südamerika hat spezifische Herausforderungen. Russland konzentriert sich trotz großer Schiefergasressourcen weiter stark auf die konventionelle Erdgasförderung.

Entwicklungen in China

China hat aufgrund seiner wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung einen enormen Energiebedarf. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn es seine großen Schiefergasressourcen nutzen wird. Die EIA-Analyse schätzt die technisch verfügbaren Schiefergasressourcen Chinas auf etwa 31 565 Mrd. m³. Bei Erdgas ist China 2007 zum Nettoimporteur geworden; seitdem sind die Gasimporte Schritt für Schritt gestiegen. 2010 hat China etwa 17 Mrd. m³ Erdgas importiert, davon 12,7 Mrd. m³ in Form von Liquefied Natural Gas (LNG) und 4,4 Mrd. m³ über Pipelines aus Turkmenistan. Diese Mengen trugen etwa 16 Prozent zum gesamten Gasverbrauch Chinas im Jahr 2010 bei. Die Importe sind laut Schätzungen 2011 im Vergleich zum Vorjahr auf etwa 31 Mrd. m³ angestiegen. Fast 30 Prozent des gesamten LNG-Imports kamen aus Australien, der Rest aus Katar (19 Prozent), Indonesien (16) und Malaysia (13).

Die China National Offshore Oil Corporation hat inzwischen mit einem ersten heimischen Schiefergasprojekt begonnen. Die Regierung erlaubt Investoren aus Drittstaaten, Joint Ventures für die Exploration und Produktion von Schiefergas in China zu gründen, zudem hat sie die Großhandelspreise für Schiefergas liberalisiert. Unternehmen wie Shell und Total sind bereits an Joint Ventures mit chinesischen Unternehmen beteiligt. Nach Aussage von Experten plant die Volksrepublik bis 2020 einen Anteil von rund 10 Prozent an der weltweiten Gesamtfördermenge zu ­erreichen. 

Neuen Meldungen zufolge will China bis 2015 etwa 6,5 Mrd. m³ Schiefergas fördern und dies bis 2020 auf etwa 100 Mrd. m³ ausdehnen. Dabei wolle allein Shell jährlich eine Milliarde Dollar in den Abbau von Schiefergas in China investieren. Aber Wissenschaftler warnen vor den Risiken, die mit den Bohrungen in Chinas Süden verbunden seien, da es eine ausgewiesene Erdbebenregion ist. 

Unterschiedliche Prognosen

Prognosen zur künftigen Produktion und Nutzung von Schiefergas auf den Weltenergiemärkten sind derzeit nur ungenau. Es ist wahrscheinlich, dass es über die nächsten Jahrzehnte weltweit zu einem Anstieg der Förderung kommt und Schiefergas seine Rolle im Energiemix findet. Damit könnte Erdgas bei gleichzeitiger Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien weltweit der wichtigste fossile Energieträger werden. Die Internationale Energieagentur (IEA) erwartet beim Schiefergas eine fortdauernde Aufmerksamkeit von Unternehmen und Regierungen, sieht aber zumindest bis 2018 keine wesentlichen Entwicklungen außerhalb von Nordamerika und möglicherweise China.

Der Energiekonzern BP geht von einem Anstieg der Schiefergasproduktion aus. Für 2030 erwartet BP eine Pro­duktionsmenge von 517 Mrd. m³/a bis 1137 Mrd. m³/a. Danach würde in Nordamerika mit knapp 0,8 Mrd. Rohöleinheiten das meiste Schiefergas produziert; Europa und Eurasien lägen bei 0,15 Mrd. Rohöleinheiten, der asiatisch-pazifische Raum bei etwa 0,1 Mrd., vor Mittel- und Südamerika und Afrika. Für den Mittleren Osten sieht BP trotz vorhandener Ressourcen offenbar keine Perspek­tiven für eine Schiefergasproduktion bis 2030. 

Dass die Aussichten für Schiefergas auch von gesellschaftspolitischen Entwicklungen abhängen, zeigen die „New Lens-Szenarien“ von Shell (2013). Nach dem „Mountains-­Szenario“ könnte Erdgas zum Rückgrat des weltweiten Energiesystems werden, die Förderung von Schiefergas einen immer größeren Teil des globalen Gasangebots ausmachen und über 2050 hinaus ansteigen. Hingegen würde nach dem „Oceans-Szenario“ die Förderung von Schiefergas nicht die ursprünglichen Erwartungen erfüllen und der Erfolg außerhalb Nordamerikas wegen ausbleibender politischer Unterstützung und teilweise wegen geologisch begründeter technischer Misserfolge relativ gering bleiben. Die IEA wiederum prognostiziert in ihrem „World Energy Outlook 2013“ einen Anstieg des weltweiten Gasbedarfs insgesamt bis 2035 um 48 Prozent.

Auswirkungen auf Russland

Russland, der größte Nettoexporteur von Erdgas, setzt auf steigenden Gasbedarf in Europa. Die russische Energiewirtschaft trägt mit ihren Öl- und Gasexporten etwa die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei. Auch bei den Verhandlungen über mögliche Gas­lieferungen nach China hat Russland offenbar Fortschritte gemacht. Doch es gibt auch Probleme für Gazprom: So wurden Investitionen gekürzt, zum Beispiel bei der Erschließung des Schtokmann-Feldes; und es laufen Unter­suchungen der EU-Kommission zu angeblichen Verstößen gegen das europäische Kartellrecht. 

Angesichts der sich seit einigen Jahren in Europa zeigenden Auswirkungen der amerikanischen Schiefergasproduktion kamen die Langfristverträge für Pipelinegas mit ihren Preisformeln unter Druck. Durch die Binnenmarktliberalisierung in Westeuropa wurde eine ohnehin politisch gewollte verbesserte Liquidität der Gasmärkte zusätzlich beflügelt. Zudem wurde verflüssigtes Erdgas aus dem Mittleren Osten (z.B. aus Katar) nicht mehr in die USA, sondern nach Europa geliefert. Aus diesen Gründen setzen die europäischen Partnerunternehmen im Rahmen ihrer Verhandlungen darauf, die Verträge mit ­Gazprom an die neue Marktlage anzupassen.

Ein Boom des Schiefergases könnte den Druck auf russische Exportmengen verstärken und sich negativ auf den Haushalt und das russische Bruttoinlandsprodukt auswirken, wenn die Einnahmen bei geringerem Export künftig sinken würden. Wladimir Putin hat als Regierungschef in einer Rede vor dem Parlament im April 2012 vom heimischen Energiesektor Handlungen eingefordert: „In den USA entwickelt sich in den letzten Jahren die Technologie der Förderung von Schiefergas. Die einheimischen Unternehmen sollten unbedingt schon jetzt Antworten auf diese Herausforderung haben.“

Auch eine Studie des Instituts für Energieforschung (INEI) der Russischen Akademie der Wissenschaften kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Export von russischem Gas und Öl in den nächsten zehn bis 15 Jahren um über 20 Prozent verringern könnte, wenn die Schiefergasförderung in anderen Teilen der Welt einen Durchbruch erlebt.

Natürlich zeigt man sich auf russischer Seite weiterhin skeptisch, was die Perspektive von Schiefergas und auch die Gedankenspiele von LNG-Exporten der USA nach Europa angeht. Noch im April 2013 betonte Präsident Putin in einer Fragestunde mit Bürgern, es sei schwer zu sagen, ob Russland die Schiefergasrevolution verschlafen habe; noch würden die Förderkosten von Schiefergas um ein Vielfaches höher liegen als beim Erdgas, das konventionell gefördert werde. Zudem sei die Förderung mit Umweltschäden verbunden. Nach Meinung des Chefs der Gazprom Export, Alexander Medwedew, gingen LNG-Mengen hauptsächlich nach Südostasien, wo der Bedarf drastisch steige und wo die Preise angemessen seien. Er schätze das Potenzial für LNG-Exporte der USA in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht höher ein als 20 bis 25 Mrd. m³. Selbst wenn diese Mengen nach Europa kommen würden, müsse man prüfen, ob sie aufgrund des hohen Bedarfs an Importgas den Markt überhaupt grund­legend beeinflussen könnten.

Es ist nachvollziehbar, dass Russland amerikanischen Exportambitionen bzw. einer weiteren globalen Schiefergasentwicklung mit Skepsis begegnet, gerade wenn diese die Einnahmen des bisherigen Exportschlagers Erdgas langfristig negativ beeinflussen sollten. Eine solche Entwicklung kurzfristig vorbeugend umzusteuern ist denkbar schwierig, zumal die Förderung und der Verkauf von Erdgas auf dem eigenen Markt für Gazprom aufgrund des inländischen Ordnungsrahmens mit regulierten Gaspreisen nicht wirtschaftlich sind.

Unabhängig davon kommt auch das Thema LNG in Russland in Bewegung. Die Unternehmen Rosneft und Novatek, der bislang größte unabhängige Gaskonzern, bestehen auf der Abschaffung des Monopols für den LNG-Export. Die Regierung hat Ende Oktober 2013 einen Gesetzentwurf gebilligt, der die unabhängigen Gasproduzenten zum selbständigen LNG-Export berechtigen würde; dieser liegt nun beim Parlament. Novatek und der chinesische Energiekonzern CNPC haben sich bereits auf eine Koopera­tion beim Gasprojekt „Jamal LNG“ auf der russischen Halbinsel Jamal geeinigt. Rosneft hat mit den japanischen Unternehmen Marubeni und Sodeco Verträge über LNG-Lieferungen ab 2019 unterzeichnet.

Die Schiefergasentwicklung durch mögliche zukünftige LNG-Exporte aus den USA oder die Erschließung eigener westeuropäischer Quellen könnte auch einen wettbewerbsorientierten Gasmarkt in der EU weiter beleben. Gazprom könnte mit seiner Erfahrung in Europa ein wichtiger Partner für europäische Unternehmen bleiben, wenn das Unternehmen zu markt­adäquaten Bedingungen lieferte.

Globale Auswirkungen

Die Aussichten für die amerikanische Schiefergasproduktion bleiben positiv. Die Produktion steigt weiter an, und die zur Verfügung stehenden Mengen könnten sogar über dem Gasbedarf auf dem heimischen Markt liegen. Realistisch erscheint daher, dass die USA bis 2020 zu einem Exporteur von Erdgas in Form von LNG werden. Auch für Europa gibt es Perspektiven zur Förderung von Schiefergas. Doch aufgrund von Umweltschutzbedenken zur Fracking-Technologie, wegen anderer geografischer und gesellschaftspolitischer Umstände sowie vor allem wegen der Frage nach dem kommer­ziellen Mehrwert dürfte das Thema nicht zu einem „Game Changer“ werden. China kann eine wichtige Rolle spielen. Allerdings sind dort die technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Förderung noch nicht so gut wie in den USA. 

Schiefergas wird sich immer mehr auf die Dynamik der Gasmärkte und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auswirken. Das belegen schon die derzeitigen Preisunterschiede zwischen den USA, Europa und Asien. Die Wirkung auf die Energiemärkte insgesamt zeigt der Export der US-Kohle, weil man für die Stromproduktion dort nun auf Gas setzt. 

Schiefergas als Chance

Die Schiefergasentwicklung sollte als Chance gesehen werden; die Perspektiven einer praktischen Förderung und der damit verbundene kommerzielle Mehrwert müssen jedoch nüchtern abgewogen werden. Das hängt im Einzelfall auch sehr von den länderspezifischen Voraussetzungen ab. Diese können bei dem im Gassektor zu beobachtenden Oligopol der nur wenigen Produzentenstaaten auch die Chance bieten, die vorhandenen Lieferquellen noch besser zu diversifizieren. Wenn dadurch die Liquidität der Gasmärkte weiter steigt, könnte dies mittelfristig auch die Ölpreisbindung in langfristigen Erdgasimportverträgen in Frage stellen.

Diese Entwicklung mag auf den ersten Blick den Anteil russischer Erdgaslieferungen zumindest in Westeuropa perspektivisch verringern. Russland als derzeit größter Netto­exporteur von Erdgas wird aber auf absehbare Zeit auch für Europa ein wichtiger Partner bleiben. Schon heute zu sagen, dass sich Russlands Anteil in Europa erheblich reduziert und dass mögliche Schiefergaslieferungen aus den USA („Atlantik Korridor“) oder auch aus europäischen Quellen Europa weniger abhängig von russischem Erdgas mache, griffe schlicht zu kurz.

Russland ist als langfristiger Partner, nicht als Gegner zu betrachten. Da Russland ebenfalls von Europa abhängig ist, bleibt es ein wichtiger Teil der europäischen Gasdiversifizierung. Daraus ergeben sich auch neue Chancen und Möglichkeiten für europäische Unternehmen, in Russland zu investieren: in die Erdgasexploration, in den Strommarkt oder perspektivisch in den großen Bereich der Energieeffizienz, die Russland verbessern möchte. 

Zusätzliche Schiefergasmengen können für Europa insgesamt komplementär wirken und die bislang von russischer Seite eher skeptisch betrachteten langfristigen Auswirkungen auf die Gaspreise im Sinne des Wettbewerbs positiv beeinflussen.

Dr. Joachim Lang leitet die Berliner Repräsentanz der E.ON SE. 

Peter Hohaus verantwortet dort die Gasthemen und Internationale Angelegenheiten. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Januar/Februar 2014, S. 102-107

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