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01. Mai 2004

Ist Deutschland noch zu retten?

Deutsche Arbeitnehmer und Unternehmer haben immer wieder ihre Konkurrenzfähigkeit auf
dem internationalen Markt unter Beweis gestellt. Trotzdem bleibt das Wachstum der deutschen
Wirtschaft weit hinter den Erwartungen. Wie ist es dazu gekommen? Andreas Wörgötter und Eckhard
Wurzel, beide von der OECD in Paris, gehen dieser Frage nach und schlagen zur Abhilfe
unter anderem die Sanierung des Staatshaushalts, einen flexibleren Arbeitsmarkt sowie einen verbesserten
Wettbewerb bei Produkten wie bei Dienstleistungen vor.

Beispiele und Assoziationen aus der Medizin tauchen in der
Ökonomie immer wieder auf. Bereits François
Quesnay1 war durch seine medizinische Ausbildung inspiriert und
hat den Wirtschaftskreislauf analog zum Blutkreislauf gesehen.
Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise hat sich die deutsche
Sozialdemokratie intensiv mit der Frage beschäftigt, ob
sie der „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ sein
solle. Die Zeit berichtet, der Ausdruck „Deutschland
– der kranke Mann Europas“ sei eine gängige
Redewendung unter Politikern, Wirtschaftsforschern und
Journalisten.2

Trotz seines Titels wird dieser Beitrag diese Traditionen
nicht fortsetzen, sondern einige Anhaltspunkte für eine
Auseinandersetzung mit der schwachen Wirtschaftsentwicklung in
Deutschland liefern und notwendigen wirtschaftspolitischen
Handlungsbedarf zu deren Überwindung benennen.3

Indikatoren zur deutschen Volkswirtschaft sind nicht
einheitlich schlecht. Deutschland ist wieder Exportweltmeister.
Sogar bei der Innovationstätigkeit ist Deutschland auf den
vorderen Plätzen zu finden, wenn es auch im Zuge der
zunehmenden Bedeutung von Informations- und
Kommunikationstechnologien an Rang verloren hat.

Verschiedene Standortbewertungen kommen zu dem Schluss, dass
Deutschland zurückfällt, aber weiterhin vordere
Plätze belegt. So befindet sich Deutschland etwa nach dem
Ranking des International Institute for Management Development4
als bestes europäisches Land auf Rang fünf hinter den
führenden USA, Australien, Kanada und Malaysia. Ebenso
rangiert Deutschland beim Ranking des World Economic Forum5 vor
allen anderen großen europäischen Ländern.
Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass die deutsche
Volkswirtschaft seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage ist,
alle in sie gesteckten Erwartungen zu erfüllen. Was steckt
hinter dieser Entwicklung?

Die Tabelle weiter unten (in revidierter Form aus dem
OECD-Wirtschaftsbericht Deutschland 2003 entnommen) zerlegt das
Pro-Kopf- Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts für
Deutschland und die drei anderen großen EU-Länder
Frankreich, Italien und Spanien in die Wachstumsbeiträge
von Beschäftigung und Arbeitsproduktivität innerhalb
der Zeiträume 1980–90, 1991–95 und
1995–2002.

(zum Vergrößern hier klicken)

Noch in den achtziger Jahren gab es bei einem
durchschnittlichen Pro-Kopf-Wachstum von zwei Prozent keinen
Unterschied zwischen Deutschland und den anderen großen
EU-Ländern, und zu Beginn der neunziger Jahre wuchs
Deutschland sogar etwas schneller. Seit der Rezession 1993,
also seit nunmehr über zehn Jahren, ist die
wirtschaftliche Aktivität in Deutschland jedoch deutlich
schwächer als in den anderen Ländern. Gemessen ab der
Mitte der neunziger Jahre beträgt die durchschnittliche
Wachstumslücke mehr als einen halben Prozentpunkt pro Jahr
(Zeile 3 der Tabelle).

Die Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirtschaft
spiegelt sich vor allem in ihrer geringen Fähigkeit,
Beschäftigung zu schaffen. Während in den anderen
großen EU-Ländern das Arbeitsvolumen (gemessen in
Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung) nach der
Rezession von 1993 einen „turn-around“ geschafft
hat, konnte in Deutschland der weiteren Schrumpfung der
Beschäftigung nicht Einhalt geboten werden. Gemessen ab
der Mitte der neunziger Jahre ist das Arbeitsvolumen in
Deutschland um durchschnittlich 0,4% pro Jahr gefallen,
während es in den großen EU-Ländern um 1,1% pro
Jahr gewachsen ist (Zeile 4 der Tabelle).

Nur zu einem sehr geringen Teil geht diese Entwicklung auf
demographische Faktoren zurück. Der Rückgang der
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter war bisher in
Deutschland nur wenig stärker ausgeprägt als in den
anderen betrachteten Ländern (Zeile 5 der Tabelle).

Der entscheidende Unterschied zwischen der jüngeren
Entwicklung in Deutschland und der in anderen großen
EU-Ländern liegt in den Divergenzen bei der
Erwerbsbeteiligung, Beschäftigung und der Arbeitszeit pro
Beschäftigten. In Deutschland ist die Erwerbsbeteiligung
seit Mitte der neunziger Jahre um einen halben Prozentpunkt
weniger gestiegen als in den anderen Ländern (Zeile 6 der
Tabelle). Die Beschäftigungsquote ist leicht gefallen,
während sie in Frankreich, Italien und Spanien
zusammengenommen um mehr als einen halben Prozentpunkt pro Jahr
gestiegen ist (Zeile 7). Schließlich sank die Arbeitszeit
pro Beschäftigten stärker als in den anderen
Ländern (Zeile 8).

Demgegenüber nahm die Arbeitsproduktivität6 in
Deutschland stärker zu als in einigen anderen
europäischen Ländern, was wesentlich mit der
unterschiedlichen Beschäftigungsentwicklung zusammen
hängt. Seit Mitte der neunziger Jahre flachte sich das
Produktivitätswachstum von 2,4% auf 1,7% in Deutschland
ab. In den anderen großen EU-Ländern fiel es sehr
viel stärker, auf durchschnittlich 0,9%. Demnach reichte
das stärkere deutsche Produktivitätswachstum nicht
aus, um den negativen Effekt der geringen Schaffung von
Beschäftigung auf das Wirtschaftswachstum wettzumachen:
nur etwa die Hälfte des negativen Wachstumsbeitrages des
Arbeitsvolumens konnte kompensiert werden.

Faktoren des Wachstums

Wie konnte es dazu kommen und welche Rolle spielen dabei
ökonomische Schocks, insbesondere die Wiedervereinigung
oder die Einführung der gemeinsamen europäischen
Währung?

Die Einführung des Euro hat sicherlich in Ländern
mit hohen Zinsen, wie zum Beispiel Spanien oder Italien, eine
merkliche Verringerung der Zinsendienstquote für die
öffentlichen Haushalte sowie der Finanzierungskosten
für Investitionen ermöglicht und damit einen
positiven Impuls für deren Wirtschaft geliefert. Dies war
in Deutschland so nicht der Fall, wenngleich der positive
Impuls für andere Länder auch in Deutschland indirekt
über den Außenhandel wirksam wird.

Die Wiedervereinigung hatte und hat komplexe Auswirkungen
auf die deutsche Volkswirtschaft.7 Zuerst wirkte ein
Nachfrageboom, der von 1990 bis 1992 das deutsche
Wirtschaftswachstum über das Niveau anderer
europäischer Länder katapultierte. Danach machten
sich allerdings die Folgen einer raschen Lohnkonvergenz sowie
der unterschätzten Kosten der Wiedervereinigung bemerkbar,
insbesondere in Finanzierungsdefiziten der verschiedenen
Sozialsysteme, was mit drastischen Erhöhungen der
Sozialabgaben verbunden war. Der Anstieg der
Lohnstückkosten relativ zu anderen Ländern bewirkte
eine merklichen Verschlechterung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die durch
eine Aufwertung der Deutschen Mark verstärkt wurde. Dieser
Prozess konnte erst durch eine lange Periode der
Lohnzurückhaltung teilweise wieder rückgängig
gemacht werden. Immer noch ist die deutsche Volkswirtschaft auf
Impulse von außen angewiesen, ohne auf eine ähnlich
starke Binnennachfrage vertrauen zu können wie sie in
anderen europäischen Ländern besteht. In dieser
Situation bleibt die deutsche Wirtschaft
übermäßig empfindlich gegenüber externen
Schocks, wie zum Beispiel der Aufwertung des Euro oder einer
Verlangsamung des Welthandelswachstums.

Der Strukturwandel, insbesondere in den neuen
Bundesländern, hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
zweifelsohne stark beeinflusst. Aber wenn
Beschäftigungsverluste in bestimmten Bereichen auf Dauer
nicht durch Gewinne an anderer Stelle kompensiert werden
können, so muss die Flexibilität der Volkswirtschaft
insgesamt erhöht werden. Ein wichtiger Stressfaktor ist
die hohe Besteuerung der Arbeit. Innerhalb der OECD ist das
Arbeitseinkommen in Deutschland mit einem der höchsten
Effektivsteuersätze belastet, so dass Anreize fehlen,
Beschäftigung zu schaffen und Arbeitsangebote anzunehmen.
Die Folgen zeigen sich u.a. in einem hohen Maß an
Frühverrentung oder einem, teilweise staatlich
subventionierten, Ausweichen in Teilzeitbeschäftigung. Die
geringe Schaffung von Beschäftigung und über viele
Jahre zunehmende Steuerabzüge vom Arbeitseinkommen
bewirken zusammen eine Schmälerung der verfügbaren
Einkommen und hemmen die private Konsumnachfrage.

Was die Produktivität angeht, so gab es eine erhebliche
Umlenkung von Investitionen zu Lasten von Bereichen mit hohem
Produktivitätswachstum. Die aufgeblasene Bauwirtschaft in
den neuen Bundesländern steht dafür als markantes
Beispiel.

Notwendige Reaktionen

Die Wachstumsschwäche in Deutschland ist kein
Schicksal, sondern hat erklärbare Ursachen; ihre
Überwindung erfordert ökonomische Anpassungen. Die
Anpassungsfähigkeit der Volkswirtschaft kann
beträchtlich durch die Wirtschafts- und Finanzpolitik
beeinflusst werden. Die OECD-Wirtschaftsberichte für
Deutschland haben dazu eine Reihe von Vorschlägen
unterbreitet, die auch positive Erfahrungen aus den
Mitgliedsländern der OECD mit einbeziehen. Wichtige Punkte
umfassen u.a.:

–  Deutschland muss seinen Staatshaushalt
sanieren, um besser auf die Konsequenzen des Alterungsprozesses
der Bevölkerung vorbereitet zu sein und Arbeit und Kapital
von Steuern und Sozialausgaben dauerhaft entlasten zu
können. Dafür sollten vor allem die Ausgabenseite
einer strengen Evaluierung unterzogen und mittelfristige
Budgetprozeduren eingeführt werden, die die
Aufgabenerfüllung statt die Aufwandsfinanzierung in den
Mittelpunkt stellen.

–  Der Arbeitsmarkt muss flexibler gestaltet
werden, um den durch Globalisierung und strukturellen Wandel
geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen zu
können.

–  Der Wettbewerb auf den Produktmärkten
muss durch regulatorische Reformen gestärkt werden. Das
betrifft sowohl den Dienstleistungsbereich wie auch die
Netzwerkindustrien, bei denen die Zugangsmöglichkeiten
für neue Anbieter immer wieder gesichert werden
müssen.

Die Bundesregierung hat sich mit der Agenda 2010 einem
ambitionierten Reformprogramm verschrieben. Reformen betreffen
ein breites Spektrum von Politikfeldern, wie das Renten- und
Gesundheitssystem, den Arbeitsmarkt, die Gründung von
Unternehmen und andere wichtige Bereiche. Darüber hinaus
hat sich die Bundesregierung innerhalb der EU verpflichtet, ein
fiskalisches Konsolidierungsprogramm umzusetzen, das das
Staatsdefizit im nächsten Jahr wieder unter drei
Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts bringen und in der
mittleren Frist zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt
führen soll.

Eine Reihe dieser Maßnahmen wurde bereits vom
Gesetzgeber verabschiedet und verspricht Wirkung zu zeigen.
Hierzu gehören:

–  Die Gesundheitsreform: sie weitet die
Mitfinanzierung aus und erlaubt mehr Wettbewerb unter den
Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen.

–  Die Rentenreform: sie kann zu einer
Stabilisierung der Beiträge in den nächsten Jahren
beitragen und stellt einen wesentlichen Schritt in Richtung auf
eine nachhaltige Sicherung der Einkommensersatzsysteme im Alter
dar.

–  Die Reform der Bundesanstalt für Arbeit
wurde begonnen, und eine Politik des „Fördern und
Fordern“ kann zu einer Reduzierung der
Langzeitarbeitslosigkeit beitragen. Auch sind Maßnahmen
zur Erhöhung der Flexibilität des Arbeitsmarktes
wirksam geworden.

–  Die Lockerung der Zulassungsbedingungen
für eine Reihe von Handwerksberufen und steuerliche
Förderungen werden die selbständige
Erwerbstätigkeit erleichtern.

Ausstehende Reformen

Trotz der wichtigen Schritte in die richtige Richtung bleibt
noch viel zu tun, damit Deutschland sein Wachstums- und
Beschäftigungspotenzial dauerhaft steigern kann. Hierzu
gehört unter anderem:

–  Der Wettbewerb ist in zu vielen Bereichen mit
starker Partizipation des Staatssektors unterentwickelt.
Wettbewerbsorientierte Rahmenbedingungen können wesentlich
dazu beitragen, die Effizienz von Dienstleistungen zu
erhöhen, das für das Hochschulsystem ebenso wie
für das Gesundheitswesen gilt.

–  Die Staatsschulden müssen durch
Ausgabenbegrenzung abgebaut werden. Dies setzt voraus, dass
sich staatliche Ausgabenprojekte stärker an einer
Abwägung von Kosten und Nutzen orientieren als dies bisher
der Fall ist.

–  Fiskalische Verantwortlichkeiten zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden müssen stärker auf
die betreffende Gebietskörperschaft konzentriert werden
– etwa durch Abbau der Mischfinanzierung –, um die
Effizienz des Staatssektors zu erhöhen.

–  Die umfangreichen Steuervergünstigungen,
die die Allokation von Kapital und Arbeit verzerren,
müssen abgebaut werden. Dadurch kann dann der Spielraum
für die Senkung von Steuersätzen geschaffen werden.
Ebenso müssen Subventionen zurückgeführt
werden.

–  Es muss für Belegschaften und
Unternehmensleitungen einfacher werden, einvernehmliche
Lohnabschlüsse zu erzielen, die vom
Flächentarifvertrag abweichen.

–  Die Entlastung des Produktionsfaktors Arbeit
von Sozialabgaben muss weiter gehen, als dies bislang absehbar
ist. Dies setzt weitere Reformen in den Sozialsystemen voraus,
beim Design „aktiver Arbeitsmarktmaßnahmen“
ebenso wie in der Pflegeversicherung.

–  Die Leistungsfähigkeit des
Bildungssystems muss gestärkt werden, indem Schulen und
Universitäten mehr Eigenständigkeit beim Erreichen
von Bildungszielen zugestanden wird. Dies umfasst auch mehr
Autonomie auf der Ausgabenseite.

Handeln, nicht auf Wunder hoffen

Zu den wesentlichen Herausforderungen, denen sich die
deutsche Volkswirtschaft gegenüber sieht, gehören
eine rapide alternde Gesellschaft und die Tatsache, dass die
Wende hin zu selbsttragendem Aufschwung in den neuen
Bundesländern immer noch nicht geschafft ist. Gerade
deswegen müssen die Kapazität der Ökonomie,
Beschäftigung zu schaffen, erhöht und die
Wachstumsschwäche überwunden werden. Die deutschen
Arbeitnehmer haben immer wieder gezeigt, dass sie
wettbewerbsfähige Produkte herstellen können, und
deutsche Unternehmer finden nach wie vor die richtigen
Absatzmärkte und setzen die besten verfügbaren
Technologien ein. Für die Politik geht es nun darum, die
Rahmenbedingungen weiter zu reformieren, damit das vorhandene
Potenzial wachstums- und beschäftigungswirksam werden
kann. Ein neuer Aufschwung ist möglich, ohne auf ein
Wunder warten zu müssen.

Anmerkungen

1   François Quesnay (1694–1774),
Leibarzt von Ludwig XV., französischer Ökonom und
Begründer der Physiokraten.

2Vgl. „Der Mythos vom Abstieg“,
<http://www.zeit.de/2004/17/mythos&gt;.

3Analyse und wirtschaftspolitische Empfehlungen erfolgen
in enger Anlehnung an den aktuellen OECD-Wirtschaftsbericht
Deutschland (2003).

4Vgl.
<http://www02.imd.ch/documents/wcy/content/ranking.pdf&gt;.

5Vgl.
<http://www.weforum.org/_pdf/Gcr/GCR_2003_2004/
Competitiveness_Rankings.pdf>.

6Bruttoinlandsprodukt pro geleisteter Arbeitsstunde.

7Vgl. das entsprechende Spezialkapitel im
OECD-Wirtschaftsbericht für Deutschland, Mai 2001,
sowie Eckhard Wurzel,The economic integration of
Germany’s new Länder, OECD Economics Department
Working Paper Nr. 307, September 2001;
<http://www.oecd.org/dataoecd/60/57/
1899874.pdf>.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 35-40

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