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01. Juli 2004

Irak verstehen

„Nation Building“ mit einem strategischen Konzept

Über ein Jahr nach dem Sturz des Saddam-Regimes in Bagdad wird immer deutlicher, wie
schwierig die Schaffung einer demokratischen Ordnung in Irak ist. Die diversen Strategiewechsel,
so Felix Neugart, zeugen auch von einem mangelnden Verständnis von Struktur und Dynamik
der irakischen Gesellschaft. Er stellt fünf Neuerscheinungen vor, deren Lektüre das Wissen um
Geschichte und Gegenwart des Landes zu vertiefen vermag.

Mehr als ein Jahr nach dem Sturz des Saddam-Regimes in
Bagdad wird immer deutlicher, dass es der Besatzungskoalition
nicht nur an Truppen mangelt, um die vollmundig
angekündigte Schaffung einer demokratischen Ordnung in
Irak umzusetzen. Die diversen Strategiewechsel in dem
Bemühen, einen tragfähigen politischen Prozess in
Gang zu brigen, zeigen vielmehr ein mangelndes Verständnis

von Struktur nd Dynamik der irakischen Gesellschaft. Daher
lohnt sich der Blick auf neuere Monographien, die verschiedene
strukturelle Aspekte der irakischen Geschichte analysieren.

Eine ungewöhnliche Perspektive auf die
britische Mandatsherrschaft der zwanziger Jahre
ermöglicht der britische Politologe Toby Dodge in
seinem Buch „Inventing Iraq“. Der Autor stellt
die These auf, dass die liberale Zielsetzung des
Völkerbundsmandats nicht nur an der schwindenden
Ressourcenbasis einer im Abstieg befindlichen Weltmacht,
sondern in entscheidendem Maße an den
orientalistischen Stereotypen der kolonialen
Administratoren scheiterte. Die britischen
Mandatsbehörden schufen die Grundlagen eines
ungleichen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft,
das die von Instabilität und periodischen
Gewaltausbrüchen gekennzeichnete irakische Geschichte
durchzieht und letztlich in die totalitäre Diktatur
Saddam Husseins mündete.

Dodge beschreibt, wie Kernelemente dieser Ordnung direkt den
romantisch-verklärten Vorstellungen der britischen
Kolonialbeamten von der unberührten „Natur“
des arabischen Beduinen entsprangen, die dichotomisch mit der
pseudomodernen „Korruptheit“ der osmanisch
geprägten Städte kontrastiert wurden. Große
Teile der nichturbanen irakischen Gesellschaft wurden daher
nicht als Individuen, sondern kollektiv nur als Angehörige
eines Stammes wahrgenommen. In ihrem Bemühen, ein
einheitliches Steuersystem zu errichten, verschärften die
Briten die bereits unter den Osmanen begonnene rapide
Transformation der sozialen Verhältnisse, indem sie
– entsprechend dem europäischen liberalen Ideal des
Privatbesitzes – große agrarische Nutzflächen
im Namen bestimmter Individuen, für gewöhnlich des
Scheichs und seiner Familie, registrierten. Die exklusive
Registrierung gemeinschaftlich bewirtschafteten Landes als
Privatbesitz und die Nominierung bestimmter Scheichs als
öffentliche Hoheitsträger durch die
Mandatsbehörden führten zur rigiden Rationalisierung
des traditionell komplexen und diffusen tribalen Systems. Die
daraus erwachsene extrem ungleiche Landverteilung und die
gesetzlich sanktionierte Abhängigkeit der
Landbevölkerung von den Großgrundbesitzern erwiesen
sich als belastende Hypothek für den entstehenden
irakischen Staat. Widerstand gegen diese nach den idealisierten
Vorstellungen der europäischen Kolonialherren geschaffene
„natürliche“ Ordnung wurde durch den brutalen
Einsatz von Bombenflugzeugen gebrochen, die eine wirksame
kollektive Bestrafung aufständischer Stämme ohne die
Notwendigkeit territorialer Kontrolle und Durchdringung
ermöglichten. Dodges Buch ist eine äußerst
lesbare und detailreiche Studie der verhängnisvollen
Wurzeln des irakischen Staates, deren Analyse weit über
den zeitlichen Kontext in die Gegenwart verweist.

Den Versuch einer an den aktuellen Problemen der
amerikanischen Besatzung aufgehängten Synthese von
Geschichte und gesellschaftlicher Struktur Iraks bis in die
Gegenwart haben die beiden jungen Briten Liam Anderson und
Gareth Stansfield mit ihrem Buch „The Future of
Iraq“ vorgelegt. Das Buch gliedert sich in einen
kursorischen Abriss der Geschichte Iraks und einen
Überblick über die drei großen
ethnisch-konfessionellen Gruppen (Schiiten, Sunniten und
Kurden), der in der relativ ungeschminkten Empfehlung, Irak in
zwei oder gar drei Staaten aufzuteilen, gipfelt. Die
chronologische Darstellung hebt insbesondere die
künstliche Natur des irakischen Staates hervor, der aus
der Erbmasse des im Ersten Weltkrieg untergegangenen
osmanischen Reiches entstand. Die Briten übertrugen einer
kleinen, sunnitisch geprägten Elite die Kontrolle des
Staatsapparats, die über eine nach
ethnisch-konfessionellen und tribalen Linien gespaltene
Gesellschaft ohne signifikantes nationales
Zusammengehörigkeitsgefühl herrschte. Nach einer
Periode der Instabilität konnte dieser Staat nur durch die
extreme Gewalt und die gesellschaftliche Durchdringung der
totalitären Baath-Diktatur unter Hassan al-Bakr und seinem
Kronprinzen Saddam stabilisiert werden.

In der mit allerlei Wiederholungen gespickten
Querschnittsanalyse wird die irakische Gesellschaft auf den
griffigen Dreisatz Schiiten, Sunniten und Kurden reduziert.
Auch wenn der Text zuweilen differenzierter mit diesen kruden
Kollektivbegriffen umgeht, drängt sich doch der Eindruck
einer vorschnellen Primordialisierung der irakischen
Gesellschaft anhand dieser Kategorien auf, die die
mehrdimensionalen und kontextabhängigen
Identitätsstrukturen realer Akteure ignoriert. Eine
besonders wohlwollende Behandlung lassen die Autoren der
kurdischen Minderheit angedeihen, die sich seit Beginn der
neunziger Jahre einer weit gehenden politischen Autonomie von
der Zentralregierung in Bagdad erfreut. Sie versteigen sich
schon mal zu der Behauptung, die politischen Strukturen der
Autonomiegebiete seien bereits quasi demokratisch. Auch die
Aussage, die Kurden hätten als größte nationale
Minderheit der Region ein Recht auf einen Nationalstaat, wirkt
etwas antiquiert. Die Neubestimmung kolonialer Grenzen entlang
ethnisch-religiöser Linien hat historisch selten stabile
Nachfolgestaaten hervorgebracht, sondern eher
Mobilisierungsprozesse auf der Basis verschiedener
Gruppenidentitäten ausgelöst und zu gewaltsamen
Auseinandersetzungen und der Unterdrückung von
Minderheiten geführt. Die Präsenz von mindestens
einer Million Kurden im Großraum Bagdad wird von den
Autoren gar nicht erst erwähnt. Insgesamt greift die
Analyse der Probleme der irakischen Gesellschaft, die sich eben
nicht nur aus der mangelnden Integration der kurdischen
Minderheit erklären lassen, zu kurz. Die grundlegende
These, in Irak seien die gesellschaftlichen Grundlagen einer
nationalen Identität kaum vorhanden, kann nur partiell
überzeugen. Jüngste empirische Erhebungen und
zahlreiche anekdotische Informationen deuten darauf hin, dass
der irakische Nationalismus eine nicht zu unterschätzende
Strömung ist, die sich sicher nicht auf die
Unterstützer des alten Systems beschränkt.

Eine wesentlich sensiblere Analyse der politischen
Mobilisierung der irakischen Schiiten unternimmt Faleh Abdel
Jabar in seiner Monographie „The Shiite Movement of
Iraq“. Der Autor stützt sich auf eine beeindruckende
Vielfalt von Primärquellen, insbesondere die interne
sechsbändige Selbstdarstellung der von Schiiten
gegründeten Da’wa-Partei sowie zahlreiche Interviews
mit relevanten Akteuren. Jabar bemüht sich um eine
behutsame Einordnung der schiitischen Bewegung Iraks, der der
Kontextabhängigkeit und Heterogenität des
Phänomens gerecht wird. Er unterscheidet mit
beeindruckender Detailkenntnis und scharfem analytischen Blick
drei qualitativ unterschiedliche Phasen der islamischen
Bewegung

Die Revolution von 1958 und der wachsende Einfluss der
Kommunistischen Partei lösten eine Gegenreaktion des in
den Schreinstädten Nadschaf und Kerbala konzentrierten
schiitischen Klerus aus, der zur Verbindung von jungen
Geistlichen mit radikalen Laien in der Da’wa-Partei
führte. Während die Ausrichtung in der
Gründungsphase durchaus universal-islamisch war,
verstärkten sich unter der Diktatur der
„Arif-Brüder“ die
partikularistisch-konfessionellen Untertöne, als der
zunehmende Ausschluss der Schiiten von der politischen Macht
deutlich wurde. In der dritten Phase nach der
Machtübernahme der Baath-Partei führten die
totalitären Züge des Regimes und der Einfluss der
iranischen Revolution zu einer Radikalisierung der Bewegung,
die sie Ende der siebziger Jahre in eine aussichtslose
Konfrontation mit dem Regime trieb. Von diesem Rückschlag
erholte sie sich auf Grund schwacher organisatorischer
Strukturen und einer dünnen Ressourcenbasis nicht mehr
vollständig, und ihre überlebenden Kader wurden im
Teheraner Exil zunehmend für
die iranischen Kriegsanstrengungen instrumentalisiert.
Innerhalb dieses Rahmens unternimmt Jaber eine Reihe von
Ausflügen in diverse Zusatzaspekte des Gegenstands, wie
die sakralen Institutionen und Riten oder das ideologische
Gebäude des großen Theoretikers Muhammad Baqir
al-Sadr. Trotz der zuweilen übergroßen Dichte der
Information ist dies ein höchst empfehlenswertes Buch, das
eine wichtige Lücke im Verständnis der Entwicklung
der irakischen Gesellschaft schließt.

Einen bewährten Überblick über die Geschichte
Iraks bietet zudem die Neuauflage des Klassikers „The
Modern History of Iraq“ von Altmeisterin Phebe Marr, die
eine im Vergleich zur Originalversion (1985) gestraffte und
für die letzten beiden Jahrzehnte erheblich erweiterte
Darstellung bietet. In deutscher Sprache ist als
Einführung der schmale, aber höchst lesenswerte Band
„Kleine Geschichte des Irak“ von Henner Fürtig
ebenfalls zu empfehlen.

Toby Dodge, Inventing Iraq. The
Failure  of Nation Building and a History
Denied,  New York: Columbia University Press 2003, 260
S., 24,95 $.

Liam Anderson/Gareth Stansfield, The
Future of Iraq. Dictatorship, Democracy, or Division?
Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, 260 S., 24,95 $.

Faleh A. Jabar, The Shi’ite
Movement of Iraq, London: Saqi 2003, 391 S., 55,00 $.

Phebe Marr, The Modern History of Iraq.
Second Edition, Boulder: Westview 2004, 392 S. , 40,00
$.

Henner Fürtig, Kleine Geschichte
des Irak, München: Beck 2003, 170 S., 9,90 EUR.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 109-112

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