Der Nahe Osten rückt noch näher
Fünf Aufgabenfelder für europäische Politik
Nach zehn Jahren euro-mediterraner Partnerschaft kann bislang nur eine ernüchternde Bilanz gezogen werden. Und auch die Konflikte im Nahen Osten stellen die Europäische Union vor große Aufgaben, die engagiert angegangen werden müssen. Die wichtigsten werden hier benannt.
Der Nahe Osten wird in den nächsten Jahren eine zentrale Rolle in den internationalen Beziehungen spielen. Daraus resultiert eine besondere Herausforderung für die Außenbeziehungen der EU im Allgemeinen und die deutsche Außenpolitik im Besonderen. Deutschland verfolgt im europäischen Rahmen folgende Interessen in dieser Region:
- Unterstützung des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Reformprozesses in den Staaten der Region, um die Ursachen für Migration und Fundamentalismus zu bekämpfen;
- Kooperation im Kampf gegen den islamistisch motivierten Terrorismus, der die öffentliche Sicherheit in Europa bedroht;
- Sicherung der Existenz des Staates Israel, verbunden mit stabilem Ausgleich im israelisch-arabischen Konflikt;
- Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen, um militärischen Konfrontationen und Rüstungswettläufen vorzubeugen;
- Erweiterung der Exportchancen für die deutsche Wirtschaft und Sicherung der Energieversorgung.
Perspektiven für den Nahost-Konflikt
Der israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen hat die Realitäten vor Ort sowie die Dynamik des Konflikts entscheidend verändert. Zum ersten Mal seit 1967 hat Israel Siedlungen auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina geräumt und ein großes, zusammenhängendes Gebiet komplett der palästinensischen Selbstverwaltung übergeben. Trotz punktueller Kooperation und Koordination mit der palästinensischen Seite war der Abzug als einseitige Aktion Israels angelegt und nicht Ergebnis eines Verhandlungsprozesses. Insofern ist er nicht genuin aus den Vorgaben des Friedensplans (Roadmap) des internationalen Vermittler-Quartetts ableitbar, das auf zwischen beiden Seiten auszuhandelnde Lösungen setzt. Es kommt jetzt darauf an, den Abzug für die Implementierung der in der Roadmap vorgesehenen weiterführenden Schritte anschlussfähig zu machen.
Herstellung des Gewaltmonopols und Stärkung der Institutionen: Die Situation im Gaza-Streifen ist nach dem Abzug extrem fragil. Die Sicherheitsorgane der Autonomiebehörde müssen in die Lage versetzt werden, das Gewaltmonopol gegenüber islamistischen Gruppen wie Hamas und verschiedenen Ablegern der Fatah durchzusetzen. Daher sollten die EU und andere externe Geber auf der einen Seite gezielte externe Unterstützung bei Reorganisation und Stärkung von Institutionen, vor allem bei den Sicherheitskräften, anbieten. Die Reform des Justiz- und Polizeiapparats muss die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes ziviler Freiheiten zum Ziel haben. Die EU sollte die bestehende Mission (European Union Coordinating Office for Palestinian Police Support) vergrößern und organisatorisch zu einem ESVP-Einsatz aufwerten. Auf der anderen Seite bedarf es eines demokratischen politischen Prozesses, um die starke islamistische Strömung einzubinden und den Behörden die notwendige Legitimation zur Befriedung der instabilen Lage zu verleihen. Die EU sollte die Durchführung von demokratischen Parlamentswahlen (voraussichtlich im Januar 2006) unterstützen und beobachten.
Wirtschaftliche Erholung: Die Wirtschaftslage im Gaza-Streifen hat sich seit Beginn des Friedensprozesses durch Blockaden, den Ausfall von Transferleistungen und die Zerstörung von Infrastruktur drastisch verschärft. Eine Verbesserung der individuellen Lebensumstände der Palästinenser ist unabdingbar, um die notwendige Unterstützung für eine Verhandlungslösung mit Israel zu gewinnen. Am 15. November 2005 einigten sich Israelis und Palästinenser, unter der Moderation von US-Außenministerin Condoleezza Rice, auf die Öffnung des Grenzübergangs Rafah zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen.
Die EU sollte daher im Rahmen des Nahost-Quartetts gezielt auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine rasche wirtschaftliche Erholung hinarbeiten, insbesondere auf die Erleichterung des Waren- und Personenverkehrs von und nach Gaza. Die EU entsandte 50 Beobachter zur Überwachung des Waren- und Personenverkehrs an der palästinensisch-ägyptischen Grenze bei Rafah, die am 25. November geöffnet wurde. Das Quartett unterstützt die Wiedereröffnung des Flughafens in Rafah, den Bau eines Hafens in Gaza sowie die Einrichtung einer sicheren Passage in die Westbank einen Monat nach der Grenzöffnung. Die EU sollte außerdem die Rahmenbedingungen für Investitionen in den Autonomiegebieten durch Unterstützung von Infrastrukturprojekten und Hilfe bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen verbessern.
Politische Perspektive: Israelis und Palästinenser benötigen eine klare und von der internationalen Gemeinschaft garantierte politische Perspektive für eine dauerhafte Regelung des Kon-flikts. Der geplante Ausbau israelischer Siedlungen nahe Jerusalem hat Befürchtungen genährt, dass der Abzug aus Gaza mit dem Ausbau der Siedlungsaktivitäten in der Westbank und dem „Einfrieren“ des Friedensprozesses auf unbestimmte Zeit einhergehen werde. Der Verlauf der von der israelischen Regierung vorangetriebenen Sperranlage in der Westbank und Ost-Jerusalem wirkt sich negativ auf die Lebensumstände vieler Palästinenser aus und erschwert durch die Schaffung territorialer Fakten die Umsetzung der angestrebten Zwei-Staaten-Lösung.
Die EU sollte gemeinsam mit ihren Partnern im Quartett auf die Umsetzung der in der Roadmap spezifizierten ersten Phase der Vertrauensbildung drängen, die die Palästinenser zur Bekämpfung des Terrorismus und Israel zum Einfrieren der Siedlungsaktivitäten verpflichtet. Damit wäre ein wichtiger Beitrag zur Vertrauensbildung und zur Stärkung der Friedensbefürworter auf beiden Seiten geleistet. Um dies zu erreichen, ist der Aufbau einer signifikanten Präsenz vor Ort notwendig, die das dauerhafte Engagement für die Umsetzung des Friedensplans symbolisiert und die Implementierungsfortschritte beider Parteien überwacht.
Weiterentwicklung der Roadmap: Die Roadmap mit dem Ziel einer verhandelten Zwei-Staaten-Lösung bleibt trotz des obsoleten Zeitplans das international anerkannte Referenzdokument für Fortschritt in den israelisch-palästinensischen Friedensbemühungen. Dennoch erscheint die Aufnahme von Endstatusverhandlungen zwischen beiden Seiten in naher Zukunft ausgeschlossen. Dagegen sind weitere, mit den Palästinensern koordinierte Teilabzüge Israels aus isolierten Siedlungen in der Westbank und die Etablierung eines palästinensischen Staates mit provisorischen Grenzen denkbar. Scharons Rede vor der UN-Vollversammlung im September war in dieser Hinsicht ermutigend, und erste Vorschläge in diese Richtung werden in israelischen Sicherheitskreisen bereits diskutiert. Das Quartett sollte sich daher auf eine Weiterentwicklung des Friedensplans verständigen, der auf der einen Seite die Möglichkeit bietet, weitere Teilräumungen von Seiten Israels in der angestrebten Gesamtperspektive zu verankern. Auf der anderen Seite sollte das Quartett gezielt Parameter für eine dauerhafte Regelung des Konflikts entwickeln. Um ein offenes Engagement über Endstatusfragen zu ermöglichen, ist hier die Förderung des Austauschs zwischen der israelischen und der palästinensischen Zivilgesellschaft sinnvoll.
Zehn Jahre Barcelona: ernüchternd
Die Zehnjahresbilanz der euro-mediterranen Partnerschaft fällt trotz des umfassenden Ansatzes ernüchternd aus. Die Partnerschaft vermochte ungeachtet der Schaffung eines beträchtlichen institutionellen Apparats weder eine regionale Sicherheitsstruktur herzustellen, noch hat sie einen breiten politischen Reformprozess in den Partnerstaaten auslösen können. Fortschritte sind hauptsächlich auf der bilateralen Ebene zu verzeichnen, auf der in Assoziierungsabkommen mit allen Partnerstaaten (außer Syrien) der Übergang zum Freihandel mit industriellen Produkten vereinbart wurde. Die Ursachen für die fehlende Erfolgsbilanz liegen auf der einen Seite in der mangelnden Umsetzung getroffener Vereinbarungen durch die Partnerstaaten und der Bremswirkung regionaler Konflikte, auf der anderen Seite haben sich die duale Kompetenzstruktur und die defizitäre Akteursqualität der EU als Hemmnis erwiesen.
Die euro-mediterrane Partnerschaft wird durch die zunächst parallel angelegte europäische Nachbarschaftspolitik ergänzt, die die Schaffung eines Ringes von stabilen und prosperierenden Nachbarstaaten anstrebt. Diesen Staaten wird eine privilegierte Partnerschaft auf der Basis von „Aktionsplänen“ angeboten, die detaillierte Verpflichtungen und Zielvorstellungen in der Kooperation mit dem jeweiligen Partnerstaat beinhalten, auf deren Basis Fortschritte in verschiedenen Bereichen bewertbar gemacht und positiv konditionalisiert werden sollen. Dieses auf positiver Konditionalisierung beruhende „benchmarking“ im Rahmen der Nachbarschaftspolitik verspricht im Vergleich mit der bisherigen euro-mediterranen Praxis eine erhebliche Differenzierung und Flexibilisierung des Ansatzes gegen-über den Partnerstaaten.
Verhältnis zwischen Mittelmeer- und Nachbarschaftspolitik: Die Entwicklung der Nachbarschaftspolitik scheint mehr der Kombination der Folgen des Osterweiterungsprozesses mit der internen Gewichtung der EU als einer genuinen Analyse von Problemen und Alternativen des Barcelona-Prozesses geschuldet. Die angestrebte Bündelung der finanziellen Mittel in einem einzigen Instrument für alle Nachbarstaaten könnte sich zudem als nachteilig für den Mittelmeer-Raum erweisen. Das Verhältnis zwischen der explizit bilateral angelegten Nachbarschaftspolitik und der euro-mediterranen Partnerschaft sollte im Detail geklärt werden, um die Schaffung eines wirksamen Instruments für Stabilität und Prosperität in der Region zu ermöglichen. Die Ratifizierungszeiten ausgehandelter Abkommen sollten erheblich verkürzt und die Überlappung von Verträgen entwirrt werden.
Positive Konditionalisierung: Die mit den Partnerstaaten vereinbarten Aktionspläne listen eine große Bandbreite von kooperativen Aktivitäten in verschiedenen Bereichen auf und beinhalten neben eher allgemeinen Vorgaben auch sehr konkrete, von den Partnerstaaten zu implementierende Maßnahmen. Die parallele Umsetzung der gesamten Agenda ist eine echte Herausforderung für die Partnerstaaten; eine Prioritätensetzung wird unbedingt erfolgen müssen. Die angebotenen Gegenleistungen der EU für die Implementierung dieses Arbeitsprogramms werden jedoch jenseits allgemein gehaltener Aussagen nicht spezifiziert. Eine direkte Verknüpfung zwischen der Erfüllung von Teilvorgaben des Arbeitsplans und attraktiven Angeboten der EU würde die angestrebte positive Konditionalisierung des Programms erleichtern. Dabei müsste die EU eine zeitlich festgelegte, schrittweise Öffnung des Agrar- und Fischereimarkts für Produkte der Partnerstaaten anbieten.
Verstärkte Demokratieförderung: Die Förderung von demokratischer Partizipation an Entscheidungsprozessen und gutem Regierungshandeln in den Mittelmeer-Staaten hat sich trotz zahlreicher rhetorischer Bekräftigungen als dorniges Terrain erwiesen. Die Notwendigkeit umfassender Reformen ist zwar ein nicht mehr weg zu denkender Bestandteil des öffentlichen Diskurses geworden, bei der Umsetzung von Reformen in sensiblen politischen Bereichen bleibt jedoch der Kern autokratischer Machtstrukturen unberührt.1 Deshalb sollte die EU ihr Engagement in diesem Bereich verstärken. Denkbar wäre nicht nur die Schaffung eines separaten Demokratiebudgets für in diesem Bereich fortgeschrittene Partnerstaaten, sondern auch eine Verknüpfung von klassischer Entwicklungshilfe mit Demokratieförderung, z.B. durch das Management von Projektfördermitteln durch Vertreter der lokalen Zivilgesellschaft. Diverse bilaterale und multilaterale Hilfsprogramme in diesem Bereich sollten besser koordiniert werden.
Dialog mit moderaten Islamisten: Eines der Kernprobleme bei der Schaffung demokratischer Institutionen im Nahen Osten ist die Suche nach dem „demokratischen Subjekt“. Liberale westlichen Zuschnitts haben kaum Unterstützung in der Bevölkerung, während Technokraten in Regierungspositionen kaum Anreiz für fundamentale Veränderungen eines sie bevorzugenden Systems haben. Dagegen haben sich moderate Islamisten Kernpunkten der Demokratie verschrieben und genießen breite öffentliche Unterstützung. Eine in den vergangenen Jahren unter Denkern des moderaten Islamismus geführte Debatte beispielsweise forderte sowohl eine Reformulierung religiöser Dogmen, basierend auf Gewaltverzicht, als auch die Beteiligung an einem pluralistischen politischen Prozess. Die EU sollte in einen Dialog mit sorgfältig ausgewählten Gruppen treten, auch wenn dies von offizieller Seite in den Partnerstaaten Irritationen auslösen könnte.
Priorität für Bildung: Einer der Kernbereiche für nachhaltige Reformen ist der Aufbau von Wissenskapazität, wie auch im Arab Human Development Report hervorgehoben. Dieses Thema in den Dimensionen Verbreitung von Wissen (Schule, Medien) und Produktion von Wissen (Forschung und Entwicklung) wird zur politischen wie ökonomischen Entwicklung und damit zur Stabilität in der Region beitragen. Daher sollte die EU technische Hilfsprogramme und andere Formen der Zusammenarbeit anbieten: z.B. die Ausbildung von Lehrern und Austauschprogramme, die Überarbeitung von Lehrplänen sowie die Förderung von Berufsausbildungen.
Ein Sicherheitssystem am Golf
Der Irak-Krieg hat neue Möglichkeiten für regionale Zusammenarbeit sowie neue Voraussetzungen für den Entwurf einer Sicherheitsarchitektur in der gesamten Golf-Region geschaffen.2 Die Errichtung eines auf die regionalen Staaten gestützten Golf-Sicherheitssystems mit einer begrenzten Präsenz externer Kräfte wäre für alle regionalen Akteure ein Gewinn. Der Iran würde jegliche Reduzierung ausländischer Militärpräsenz in der Region begrüßen; der Irak wird zumindest mittelfristig den Abzug ausländischer Truppen von seinem Boden fordern. Auch in den Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) wächst die Sensibilität für die Nachteile des auf massive US-Militärpräsenz gestützten gegenwärtigen Systems. Obwohl die andauernden inneren Probleme des Iraks sowie die sich verhärtende außenpolitische Haltung des Irans wenig Raum für Optimismus lassen, ist eine dauerhafte Stabilisierung dieser Krisenregion nur auf der multilateralen Ebene möglich.
Das bis heute bedeutendste Beispiel eines funktionierenden regionalen Sicherheitssystems ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Diese Erfahrung kann nicht einfach als Ganzes auf die Region übertragen werden, aber die Kernelemente könnten in verschiedenen Bereichen auch in der Golf-Region eingesetzt werden. Ein weiteres Modell könnte auf dem ASEAN-Regionalforum basieren, das aus einer Reihe sich überlappender multi- und bilateraler Dialogstrukturen besteht.
Ein tragfähiges Sicherheitssystem lässt sich sicher nicht über Nacht einrichten, aber erste Schritte zur Vertrauensbildung, beispielsweise durch sektorspezifische Kooperation und informelle Kontakte auf offizieller und nichtoffizieller Ebene, sind möglich. Zielvorstellung sollte ein subregionales Sicherheitssystem nach der Formel 6+2+1 (GCC-Staaten, Iran, Irak und Jemen) sein. Obwohl externe Akteure eine stimulierende Rolle für die Realisierung eine solchen Projekts spielen könnten, muss der entscheidende Impuls von den Staaten der Region selbst kommen. Mittelfristig würde sich eine von der EU, den USA, Russland, China, Indien und Japan mitgetragene regionale Konferenz anbieten, die eine erste Diskussion zu folgenden Problemkreisen und Maßnahmen beinhalten könnte:
- Sicherheitsgarantien für die kleineren und verwundbareren Golf-Staaten und die Diskussion des Prinzips der Nichteinmischung regionaler und nichtregionaler Akteure;
- Schritte zum Abbau der Streitkräfte sowie eine Obergrenze für technische Waffensysteme in jedem Mitgliedsland;
- die Diskussion aller territorialen Streitigkeiten und den Rückzug von Truppenkonzentrationen aus diesen Gebieten und einen UN-koordinierten Einsatz entlang sensibler Grenzen;
- die Herstellung von permanenten Kommunikationsstrukturen zwischen den Militärs und den Austausch von Informationen über die militärischen Kräfte sowie jährliche Vorankündigungen militärischer Aktivitäten;
- Beobachtung wichtiger militärischer Aktivitäten unter Einbindung der UN und die Einrichtung eines durch die UN überwachten Systems der Informationsauswertung sowie unangekündigten Inspektionen der militärischen Einrichtungen.
Die EU hat mit dem Golf-Kooperationsrat einen interregionalen Kooperationsrahmen entwickelt, der bisher weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Die Beziehungen zwischen der EU und dem GCC sollten durch einen institutionalisierten politischen Dialog und Kooperation im Bildungssektor verstärkt werden. Der ökonomische Austausch wird sich durch den überfälligen Abschluss des Freihandelsabkommens sowie die Vollendung der Zollunion der GCC-Staaten intensivieren.3
Gefahrenherd Irak
Die Stabilität des Iraks ist ein Schlüsselproblem in diesem Kontext, da die dauerhafte Schwäche der staatlichen Institutionen, verbunden mit gewaltsamen Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg, die gesamte Region destabilisieren würde. Der Irak könnte nicht nur zu einer Brutstätte des internationalen Terrorismus mutieren, sondern darüber hinaus die Nachbarstaaten in einen nicht erklärten Stellvertreterkrieg auf seinem Territorium hineinziehen.
Der Verfassungsprozess scheint trotz aller Versuche zur Einbindung der durch den Wahlboykott nicht im Parlament repräsentierten Opposition das Ziel der Herstellung eines umfassenden Konsenses verfehlt zu haben. Die Dominanz einer kleinen Gruppe von Parteiführern im Verhandlungsprozess sowie der enge Zeitplan ließen kaum eine Mitwirkung der irakischen Bevölkerung zu, um dem Dokument breite Legitimation zu verschaffen. Daher sollte die EU einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung des Iraks in folgenden Bereichen leisten:4
Verfassung und Rechtsstaatlichkeit: Auch nach der Verabschiedung der Verfassung durch das Referendum am 15. Oktober 2005 bedarf die Umsetzung dieses Dokuments gezielter Unterstützung in verschiedenen Bereichen. Die EU sollte der irakischen Seite intensive Beratung in verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere im Bereich der föderalen Struktur, anbieten. Darüber hinaus sollte die EU die bereits begonnene Ausbildung von irakischen Offiziellen aus dem Gerichts- und Polizeisektor intensivieren, um einen Beitrag zum Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu leisten. Die Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Führungspersonal der irakischen Armee sollten besser koordiniert werden.
Zivilgesellschaft und Vergangenheitsbewältigung: Die EU sollte die Wiederbelebung einer pluralen irakischen Zivilgesellschaft fördern, z.B. durch Austauschprogramme für Beamte, Journalisten, Rechtsanwälte, Mitarbeiter von Parlamentariern, um die Effekte der langen internationalen Isolation des Iraks zu überwinden. Außerdem könnten die Erfahrungen speziell mittel- und osteuropäischer EU-Mitglieder in der Aufarbeitung von Verbrechen eines diktatorischen Systems von großem Nutzen sein. In diesem Rahmen ist das Angebot zur Unterstützung durch die Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Stasiakten sinnvoll.
Regionales Umfeld: Die Kooperation der Nachbarn des Iraks ist von höchster Bedeutung für die Stabilisierung des Landes. Daher sollte die EU den Dialog mit der Türkei, Iran, Syrien, Jordanien und den Staaten des GCC über die Zukunft des Iraks intensivieren. Dieser sollte sich auf die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des Iraks sowie den adäquaten Schutz der irakischen Grenzen konzentrieren. In diesem Kontext sollte auch die Frage des irakischen Zugangs zum Meer behandelt werden, die seit Jahrzehnten irakische Ansprüche gegenüber Kuwait und Iran begründet.
Veränderungen im Iran
Der Iran ist der größte und potenziell mächtigste Staat der Region und das Streben der Islamischen Republik nach nuklearer Energie eine Schlüsselfrage für zukünftige regionale Sicherheitskooperation. Das Land befindet sich mitten in einem komplexen internen Wandlungsprozess, der für Außenstehende irritierende und inkonsistente Elemente enthält. Auch wenn sich die Konservativen in jeder größeren Konfrontation durchsetzen konnten, haben die Reformer die politische Landschaft und die Natur des politischen Diskurses verändert.
Das islamische Regime konnte sich zwar generell konsolidieren, war aber bei der Bewältigung der wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme weit weniger erfolgreich. Der neue Präsident Achmadinedschad gehört einer im Sicherheitsapparat sozialisierten Elite an, die durch extremen Nationalismus geprägt ist und die Verbesserung der Position des Irans im ökonomisch-technischen Bereich durch Orientierung an Russland, China und Indien anstrebt. Die klerikale Elite unter der Führung um Revolutionsführer Khamenei behält jedoch entscheidendes Gewicht in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Die EU und die Vereinigten Staaten sollten unter Einbindung Russlands, Chinas und Indiens ihre Bemühungen um eine internationale Überwachung des iranischen Atomprogramms intensiver als bisher koordinieren, um einen Rüstungswettlauf in der Golf-Region zu vermeiden. Die EU konnte im bisherigen Verhandlungsprozess der iranischen Seite sowohl die Attraktivität ihres Kooperationsangebots als auch die Möglichkeit empfindlicher Sanktionen nicht hinreichend vermitteln. Daher sollten sowohl die Vorteile einer kooperativen Lösung für den Iran (z.B. der Transfer von Technologie) als auch die drohenden Sanktionen im Falle einer nichtkooperativen Haltung (z.B. für die finanzielle Vernetzung) deutlicher als bisher ausformuliert werden.
Ein für den Iran attraktives Angebot sollte auch formal von den USA mitgetragen werden und die Perspektive auf eine substanzielle Veränderung der amerikanischen Position gegenüber dem Iran beinhalten. Die EU sollte die Ernsthaftigkeit der europäischen Position deutlich machen, indem sie von allen Mitgliedsstaaten getragene konkrete Sanktionsmöglichkeiten ausformuliert. Ein möglicher Verhandlungsrahmen könnte nach dem Beispiel Nordkoreas direkte Verhandlungen zwischen den wichtigsten externen Akteuren und dem Iran beinhalten.
Der Nahe Osten insgesamt und insbesondere die Region des Persischen Golfes werden in den nächsten Jahren an Bedeutung für die Außenbeziehungen der EU gewinnen. Eine entscheidende Rolle wird in diesem Zusammenhang dem möglichen EU-Beitritt der Türkei zukommen, der künftig Außengrenzen der Union mit Syrien, dem Irak und Iran impliziert.
Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 108 - 114.