Titelthema

18. Nov. 2022

Infrastruktur ohne Vision

Eine Spurensuche zu Pekings Neuer ­Seidenstraße im Nahen Osten

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Bild: Zeichnung einer Straßenbahn in Tel Aviv
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Die Geschichte Europas ist nicht denkbar ohne den Nahen Osten und die Handelswege, die ihn durchzogen. Seit 2013 lehnt sich eine Initiative der chinesischen Regierung an den bekanntesten dieser Handelswege an: Damals verkündete Präsident Xi Jinping den Beginn der Neuen Seidenstraße, auf Englisch: Belt and Road Initiative (BRI). Die Initiative ist zentraler Bestandteil chinesischer Politik und wurde 2017 sogar in die Verfassung aufgenommen. Offiziell soll mittels Infrastrukturprojekten multilaterale Konnektivität gefördert werden – Eurasien und Afrika sollen vernetzt, Handelswege geschaffen oder verbessert werden. Der Nahe Osten spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle. Doch wie steht es um die Initiative in der Region? Der folgende Beitrag begibt sich auf Spurensuche, um die BRI im Nahen Osten greifbar zu machen.



Herzstück der BRI sind mehrere Transportkorridore, die sich über den eurasischen Kontinent spannen. Drei Eisenbahnkorridore verbinden China durch Zentralasien, Russland, den Iran und die Türkei mit Europa, drei weitere über Pakistan und Südostasien mit dem Indischen Ozean und Singapur. Eine so genannte „maritime Straße“ führt von China durch den Indischen Ozean ins Mittelmeer. Neben klassischer Transportinfrastruktur investiert China auch in Energieerzeugung, digitale Infrastruktur und den Gesundheitssektor. Laut Peking liegt der Fokus der Initiative auf gemeinsamer Entwicklung, Wachstum und regionaler sowie über­regionaler ­Integration. Der globale Bedarf an Infrastruktur­investitionen ist dabei unumstritten. So schätzte die Weltbank den jährlichen Investitionsbedarf für Länder des Nahen Ostens zwischen 2010 und 2020 auf rund 100 Milliarden Dollar.



Laut einem häufigen Kritikpunkt verfolgt China innen- wie außenpolitische Eigeninteressen. Gal Luft, Leiter des Institute for the Analysis of Global Security in Washington, betont im Gespräch, China müsse „den Bau von Infrastrukturprojekten fördern, um die Staatsbetriebe auszulasten und Instabilität zu vermeiden. Jahrelang waren diese damit beschäftigt, Infrastruktur in China zu bauen, aber der Bedarf an neuer Infrastruktur ist dort allmählich aufgebraucht. Deshalb muss China externe Nachfrage generieren.“ Andere Expertinnen und Experten betonen geostrategische Interessen, wie die Sicherung alternativer Versorgungswege für Chinas Energieimporte. Außerdem versuche China im Sinne einer neoimperialistischen Politik, Kon­trolle über essenzielle Infrastrukturen zu erlangen und Länder ökonomisch von sich abhängig zu machen. Weitere Kritikpunkte umfassen die überwiegende Nutzung chinesischer Arbeitskräfte, die Vernachlässigung von Umwelt- und Antikorruptionsstandards sowie die Nichtberücksichtigung lokaler Interessen.



Ein Flickenteppich

„Der Nahe Osten war nie das Kernstück der BRI, sondern immer nur ein Nebenschauplatz“, so Luft. Aber für China wächst die Bedeutung der Region stetig, und andersherum genauso: 2021 stiegen Chinas Gesamtinvestitionen in nahöstlichen Ländern um 360 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch Carice Witte, Leiterin des israelischen Thinktanks SIGNAL, betont, dass China der größte Investor im Nahen Osten sei – und das auch bleiben werde: „Während Investitionen in BRI-Projekte weltweit zurückgegangen sind, sind sie im Nahen Osten gestiegen. Pekings Blick auf den Nahen Osten hat sich also definitiv geändert.“



Aber welche Konturen nimmt die BRI in der Region an? Aus der Vogelperspektive erblickt man einen Flickenteppich verschiedener Initiativen, Projekte und Investitionen, die auf schwer zu durchschauende Weise miteinander verknüpft sind. Die BRI ist alles andere als transparent: Es gibt keine offizielle Website, keine Liste von Projekten. Sie wird von verschiedenen Stellen in chinesischen Ministerien gesteuert und aus unterschiedlichen Quellen finanziert. Zunächst bildeten konventionelle Infrastrukturprojekte wie Häfen, Straßen und Schienen das Herzstück, aber unter dem amorphen Label tummelt sich mittlerweile auch im Nahen Osten eine Vielzahl an Sub­initiativen wie die Health Silk Road oder die Digital Silk Road. Dieser Flickenteppich wirft viele Fragen auf: Verfolgt China eine ganzheitliche Vision für die Region? Wie wirkt sich die BRI im Nahen Osten auf grenzüberschreitende wirtschaftliche Integration aus? Und warum nimmt Israel wie so oft im Nahen Osten eine Sonderrolle ein?



Die BRI verfügt über keine übergeordnete rechtliche Basis. Als Grundlage dienen sogenannte Memoranda of Understanding (MoU) – oftmals vage Absichtserklärungen, die von der Regierung in Peking mit einzelnen Ländern getroffen werden. Während Israel und Jordanien bislang keine MoU auf Regierungsebene unterzeichnet haben, und Libanon (2017), Oman (2018) und Syrien (2022) jeweils nur eines, haben andere regionale Mächte wie Saudi-Arabien, Ägypten, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Laufe der vergangenen Jahre eine Vielzahl an MoU unterzeichnet. Hinzu kommen noch zahlreiche MoU auf Unternehmensebene.



Außerdem gibt es zahlreiche Projekte mit chinesischer Beteiligung in der Region, die zwar einen BRI-ähnlichen Charakter aufweisen und oft als solche behandelt werden, jedoch offiziell nicht der Initiative angehören. Ein Beispiel hierfür ist der Bau des neuen Hafenterminals in Haifa. Die Finanzierung der Projekte ist ähnlich vielschichtig wie die rechtliche Basis. Während chinesische staatseigene Banken und der staatliche Seidenstraßen-Fonds einen großen Teil übernehmen, beteiligen sich auch Israel sowie westliche Geberländer über die Asian Infrastructure and Investment Bank an der Finanzierung.



Ein Label für verschiedenste Projekte

Nicht nur die fragmentierte rechtliche Grundlage führt dazu, dass die Initiative oft vage erscheint. So umfasst die Belt and Road Initiative mehr als nur klassische Transportinfrastruktur, die man mit regionaler Konnektivität assoziieren würde. Im Nahen Osten baut China im Rahmen der BRI auch fossile wie erneuerbare Energie-­Infrastruktur aus. 2020 be­zog das Land 47 Prozent seiner Rohölimporte aus dem Nahen Osten. Chinesische Firmen sind in den Bau von fossilen Kraftwerken im Irak, in Jordanien, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten involviert.



Darüber hinaus beteiligen sich chinesische Staatskonzerne immer stärker am Ausbau und auch der Förderung von Öl- und Gasfeldern. ­Sinopec hat beispielsweise 49 Prozent der Anteile am irakischen Gasfeld Manuriya übernommen, und PetroChina beteiligt sich an verschiedenen Konzessionen in Abu Dhabi. Saudi-Arabien, die VAE und China kooperieren zudem immer stärker im Sektor erneuerbare Energien. So erwarb der Silk Road Fund 49 Prozent der „Clean Energy“-Sparte des saudischen Konzerns Acwa Power, und die chinesische Firma Jinko Power beteiligt sich am Bau einer der weltgrößten Photovoltaik-Anlagen in Al-Dhafra in den VAE. Dabei bleibt unklar, ob dies alles nur Einzelprojekte sind oder ob sie einer klaren regionalen Strategie folgen.



Bei klassischer Transportinfrastruktur ergibt sich ein durchwachsenes Bild. In der BRI spielen Häfen nach wie vor eine zentrale Rolle. Chinesische Investoren erwarben im vergangenen Jahrzehnt Anteile von Hafenanlagen oder investierten in den Ausbau von Terminals in Ägypten, Israel, den VAE, Kuwait, dem Oman, Saudi-Arabien und der Türkei. Darüber hinaus entstehen wie beispielsweise in Ägypten mit der Suez Canal Economic Zone rund um diese Hafenanlagen große Sonderwirtschaftszonen mit umfassender chinesischer Beteiligung. Gemeinsam mit geplanten oder bereits abgeschlossenen Hafenprojekten in Myanmar, Sri Lanka, Pakistan, Kenia sowie in Griechenland und Italien reihen sich diese Häfen gemäß der sogenannten „Perlenketten-Strategie“ der Maritime Road auf.



Der Fokus auf Hafenanlagen zeigt: China scheint lieber bestehende Infrastruktur auszubauen oder zu sichern, statt für gewaltige Kosten Neues zu schaffen. Dementsprechend liegt der Ausbau von regionalen Straßen- und Schienennetzen aktuell eher nicht im Fokus. Dabei sind das die Projekte, die die Öffentlichkeit oft mit der BRI in Verbindung bringt. Zwei solcher Projekte, die schon länger diskutiert werden – die Red-Med Railway, eine Eisenbahnverbindung zwischen Eilat am Roten Meer und Ashdot am Mittelmeer, und die sogenannte Peace Railway, die Haifa mit dem Persischen Golf verbinden soll –, sind trotz des angeblichen Interesses chinesischer Geldgeber aus finanziellen und ökologischen Gründen schon länger fraglich. „Beide Projekte leiden jenseits von politischen Problemen unter einer zweifelhaften wirtschaftlichen Tragfähigkeit. Daher ist ihre Verwirklichung unwahrscheinlich“, sagt Galia Lavi, Expertin für israelisch-chinesische Beziehungen am Institute for National Security Studies in Tel Aviv.



Auf bilateraler Ebene unterstützt China den Ausbau und die Erneuerung von Eisenbahnnetzen noch. Ein ägyptisch-chinesisches Konsortium plant den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen den Häfen Ain Sokhna und Alamein, während die China Exim Bank den Bau der Stadtbahn zwischen Madinat al-Aschir min Ramadan und der neuen ägyptischen Verwaltungshauptstadt finanziert. Aber andernorts wurden ähnliche Projekte in den vergangenen Jahren stillschweigend aufgegeben. Chinesische Geldgeber zogen sich beispielsweise 2021 aus der Elektrifizierung der Teheran-Mashhad Railway zurück. Andere prominente, grenzüberschreitende Eisenbahnprojekte kommen ebenfalls nicht über die Diskussions- und Planungsphase hinaus. So konnten sich türkische Behörden und das chinesische Transport- und Infrastrukturministerium bisher nicht über den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke Edirne-Kars einigen, die den China-Central Asia-West Asia-Corridor ergänzen würde.



Chinas digitale Seidenstraße hat hingegen in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Im Nahen Osten umfasst sie mindestens 500 Projekte, darunter alles von 5G-Netzen und Unterseekabeln bis hin zu mobilen Bezahlplattformen und Bioengineering. China reagiert damit auf einen unbestreitbaren Bedarf an digitaler Infrastruktur: Laut Weltbank könnte eine umfassende Digitalisierung der Volkswirtschaften im Nahen Osten und Nordafrika das regionale BIP pro Kopf im Laufe von 30 Jahren um 46 Prozent steigern. Der Ausbau von 5G-Netzen spielt dabei eine zentrale Rolle: „Je schneller die Netzanbindung in einer Region, desto schneller kann sich diese Region entwickeln“, argumentiert Dale Aluf, Forschungsdirektor von SIGNAL. Die digitale Seidenstraße ermöglicht wiederum China die Schaffung eines umfassenden digitalen Ökosystems, in dem alle Datenströme nach Peking fließen. Diese Datenmengen dienen als Grundlage für Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz oder maschinelles Lernen. Darüber hinaus gibt es auch sicherheitspolitische Bedenken. Die US-Regierung warnt regelmäßig vor den Konsequenzen einer technologischen Abhängigkeit von China. Die Länder im Nahen Osten zeigen sich davon unbeeindruckt, insbesondere da die USA keine Alternativen bieten können. Gleichzeitig scheint es verfrüht, von chinesischer Dominanz zu sprechen: „Die Realität vor Ort ist wesentlich komplizierter. Tatsächlich sehen wir [bei 5G] einen heftigen Wettbewerb zwischen europäischen, japanischen und chinesischen Unternehmen“, so Aluf. Die Staaten in der Region sind also durchaus in der Lage, zwischen den Mächten zu manövrieren und von deren Wettbewerb zu profitieren.



Prestige statt Substanz?

Statt regionale Konnektivität voranzutreiben, bestand der Ausbau der physischen Belt and Road Initiative in den vergangenen Jahren eher aus Prestigeprojekten wie der neuen ägyptischen Verwaltungshauptstadt, der saudischen NEOM City oder dem kuwaitischen Projekt Silk City. Expertinnen wie Carice Witte vom Thinktank SIGNAL gehen deshalb davon aus, dass es kein gesamtstrategisches Vorgehen gibt: „Ich sehe keinen holistischen Ansatz im Nahen Osten. Im Moment geht es vor allem darum: Was kann man hier tun? Was kann man dort tun? Welche Bedürfnisse gibt es, welche Vorteile? Ich sehe da keine integrierte chinesische Politik.“



Trotz des hochfliegenden Leitbilds vom „gemeinsamen Schicksal“ der Teilnehmerstaaten scheint Peking eher einen pragmatischen Ansatz zu verfolgen, bei dem man ad hoc länder- und kontextspezifische Gelegenheiten ergreift. Laut Lavi versteht China es bestens, „Ideen zu entwickeln, die später, je nach Bedürfnissen, situationsbedingt konkrete Gestalt annehmen können“. Dennoch betont Luft, dass Chinas Partner im Nahen Osten – insbesondere unter den ölfördernden Ländern – über sehr unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen, Wirtschaftsstrukturen und Bedürfnisse verfügen, was das Verfolgen einer einheitlichen Vision erschwert: Wirtschaftlich schwache, krisengebeutelte Länder wie Syrien oder Irak müssen „die Produktion überhaupt erst wiederherstellen, anstatt darüber nachzudenken, wie sie sich erhöhen ließe. Wohlhabende Länder wie Saudi-Arabien brauchen an sich keine chinesischen Investitionen, denn sie haben ausreichend Ressourcen. Was sie brauchen, ist Marktintegration. Sie müssen Nachfragesicherheit gewährleisten.“



Neben der Frage nach einer regionalen Vision stellt sich auch die nach der Umsetzung konkreter Projekte. Nach Jahren vollmundiger Ankündigungen, aber auch wachsender Kritik, ist es merklich ruhiger geworden um die BRI. Zuletzt wurden immer wieder große Projekte auf Eis gelegt: Die ägyptische Regierung stoppte 2021 den Bau eines gewaltigen 6-MW-Kohlekraftwerks in Hamrawein aufgrund ökologischer und sozialer Bedenken. Pläne für einen großen saudisch-chinesischen Ölraffineriekomplex im saudischen Yanbu sind ebenfalls seit 2020 in der Schwebe, große Prestigeprojekte wie der Mubarak-al-Kabir-Hafen – Teil des kuwaitischen Megaprojekts Silk City – werden aufgrund finanzieller Hürden derzeit nicht aktiv weiterverfolgt. Die wirtschaftlichen Verwerfungen der Covid-19-Pandemie haben in China wie auch unter den Partnerländern den Appetit auf große Infrastrukturprojekte gedämpft.



Große Visionen, komplizierte Realitäten

Oft ist es nicht nur die finanzielle Machbarkeit, die die Umsetzung einer ambitionierten Initiative ausbremst. Da eine umfassende Vision fehlt und unausgegorene Projekte oft nicht auf lokale Umstände abgestimmt sind, kommt es immer wieder zu Verstimmungen. Anschläge auf Infrastrukturprojekte in der pakistanischen Provinz Belutschistan und antichinesische Proteste in Kasachstan zeigen, dass so auch lokale Spannungen verschärft werden. Kritiker beklagen immer wieder fehlende chinesische Bereitschaft, sich in der Planungsphase genügend mit lokalen Bedürfnissen zu befassen und soziale, ökologische und wirtschaftliche Folgen ausreichend zu berücksichtigen. „Die betroffenen Länder haben auch begriffen, dass die BRI keine Gans ist, die goldene Eier legt“, so Lavi.



Auch blieben Versuche, Dritte in die Finanzierung und Umsetzung von BRI-Projekten einzubinden, weitestgehend erfolglos. Witte bemühte sich über mehrere Jahre, Einblicke in die Vergabe- und Teilnahmerichtlinien von BRI-Projekten zu erlangen, um die Einbindung israelischer Firmen und israelischen Know-hows zu stärken: „Nichts davon führte zu Ergebnissen. Die Antworten der chinesischen Seite lauteten immer: ‚Wir können keine Auskunft geben. Das ist nicht unsere Aufgabe.‘ Wir konnten nicht herausfinden, wer die Projekte verwaltet, was genau sie umfassen und wie wir uns daran beteiligen könnten.“ Trotz chine­sischen Interesses verliefen Versuche, israelische Sicherheitsfirmen am Schutz des Ausbaus des ägyptischen Stromnetzes durch chinesische Firmen zu beteiligen oder israelische Agrartechnologien mithilfe chinesischer Gelder nach Ägypten zu exportieren, im Sand. Im Zuge wachsender Kritik betonten Vertreter der chinesischen Regierung, verstärkt mit lokalen Partnern und Dritten zusammenarbeiten zu wollen. Viele Projekte in der Region, wie zum Beispiel in Ägypten und Saudi-Arabien, werden heute tatsächlich von binationalen Konsortien geführt. Dennoch scheint die BRI im Nahen Osten nach wie vor eher einer bilateralen als multilateralen Logik zu folgen.



Multilaterale Verhandlungen sind komplizierter und erfordern ein höheres Maß an politischem Engagement, um zahlreiche, teils widersprüchliche regionale Interessen miteinander zu vereinen. Ist China gewillt, das erforderliche Maß an Engagement aufzubringen? Vieles deutet darauf hin, dass China dazu trotz wachsender Präsenz im Nahen Osten bisher nicht bereit ist. Laut Yoram Evron von der Universität Haifa präsentiert sich China als „jedermanns Freund“ und versucht, Spannungen mit allen Partnerländern möglichst gering zu halten. So titelte die Global Times im Frühjahr 2022: „China hat keine Feinde, nur Freunde im Nahen Osten“.



Dies zeigt sich auch in Chinas wachsender Beteiligung an Konfliktmediation. Vor allem im Rahmen wachsender ökonomischer Verflechtungen mit Ländern entlang der BRI hat Peking dort in verschiedenen Konflikten Mediationsversuche gestartet, so zum Beispiel in Afghanistan, Jemen oder zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde. Greifbare Ergebnisse blieben jedoch die Ausnahme. Aluf sieht diese Mediationsverfahren oft eher als Produkt chinesischer Eigeninteressen wie den Schutz ökonomischer Interessen oder der Profilierung auf der internationalen Bühne. Die Bereitschaft, komplexe Interessenkonflikte durch aufwendige Mediationsverfahren auszuräumen und ambitionierte grenzüberschreitende Projekte wie die „Peace Railway“ möglich zu machen, fehle aber bislang.



Die BRI in Israel: eine Fata Morgana

Der mangelnde Wille Pekings, sich mit komplexen und potenziell konfliktträchtigen Situationen zu befassen und in tiefgreifende Beziehungen zu investieren, zeigt sich auch in Chinas Politik gegenüber Israel. 2016 bezeichnete die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften Israel noch als wichtiges Partnerland der BRI. Heute scheint die Realität jedoch eine andere zu sein: „Es gibt keine Belt and Road Initiative in Israel. Wir haben kein BRI-Abkommen und wir haben keine BRI-Projekte“, so Witte. Bestehende chinesische Infrastrukturprojekte wie das neue Hafenterminal in Haifa und die neue Stadtbahn in Tel Aviv gehören formell nicht zur BRI. Selbst die Bereitschaft, in Israels Hightech-Sektor zu investieren, ­schwindet: „Israel ist der letzte Ort, an dem China jetzt investieren möchte. Sie wissen, dass es dort so viele Einschränkungen geben wird. Und ich denke, dass jeder chinesische Planer sein hart verdientes Geld lieber dort anlegen wird, wo nicht im letzten Moment ein amerikanischer Regierungsbeamter den Israelis sagt, sie sollen eingreifen“, so Luft. Auf die Frage, ob China ernsthaft zwischen Israelis und Palästinensern vermitteln würde, antwortet er: „Absolut nicht, sie würden das Thema nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen.“



Ein offenes Ende?

Was bleibt also von den großen Visionen grenz­überschreitender Konnektivität im Nahen Osten, ermöglicht von China? Chinesische Firmen werden sich in naher Zukunft zweifelsohne an weiteren Infrastrukturprojekten in der Region beteiligen. Doch kann man nicht von einem holistischen Vorgehen Pekings sprechen. Trotz der wachsen­den chinesischen Präsenz spricht vieles eher für einen pragmatischen punktuellen Ansatz. Da China tiefergehendes regionales Engagement zu scheuen scheint, rücken große grenzüberschreitende Handels- und Transportkorridore vorerst in weite Ferne. Chinesische Firmen investieren eher bilateral und bevorzugen digitale und energiebezogene Projekte vor Transportinfrastruktur. Multilaterale Zusammenarbeit an BRI-Projekten bleibt eine Seltenheit. Zudem geraten ambitionierte BRI-Projekte immer wieder in finanzielle und logistische Schwierigkeiten. Von multilateraler Konnektivität unter chinesischer Ägide scheint der Nahe Osten also noch weit entfernt zu sein.



Dennoch schafft der große Infrastrukturbedarf wachsende Spielräume für China. „Ich denke, dass China auf jeden Fall eine Menge gemeinsamer Interessen finden könnte. Vor allem mit Ländern, bei denen es das Gefühl hat, dass es die Infrastruktur gegen Öl- und Gaslieferungen eintauschen könnte“, so Luft. Insbesondere da die BRI nicht wirklich Konkurrenz fürchten muss. Zwar verkündeten die G7 zuletzt eine 600 Milliarden Dollar schwere „Partnerschaft für globale Infrastruktur“. Luft zufolge vertritt die G7-Initiative aber ein fundamental anderes und abstrakteres Verständnis von Infrastruktur, das – im Gegensatz zur BRI – möglicherweise an dem vorbeigeht, was Schwellenländer im Nahen Osten erwarten. Er kritisiert auch den Versuch, Infrastrukturprojekte über private Investitionen zu finanzieren: „Dazu kann man nur viel Glück wünschen. Ich finde es lächerlich. Der Privatsektor mag Infrastruktur überhaupt nicht.“ Trotz der zahlreichen Mängel der BRI braucht der Nahe Osten mehr physische wie digitale Infrastruktur. Sei es also unter dem Label BRI oder unter einem anderen, ob multilateral oder bilateral – China wird weiterhin eine Rolle spielen.

Bibliografische Angaben

IP Special 07, November 2022, S. 6-13

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Maximilian Brien studiert seit Sommer 2021 Analysis and Policy in Economics im Master an der Paris School of Economics. Seinen Bachelor hat er in Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Heidelberg und ­Madrid abgeschlossen. Anschließend absolvierte er ein Praktikum beim International Trade Centre in Genf. Seit 2018 engagiert er sich beim Heidel­berger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK). Dort war er als Co-Chefredakteur mitverantwortlich für die Herausgabe der ­Konfliktbarometer 2020 und 2021.

 

Giacomo Köhler studiert seit Herbst 2021 Conflict Studies im Master an der London School of Economics, im Anschluss an ein Bachelor-Studium in Politikwissenschaft und Geschichte in Heidelberg und Dublin. Er absolvierte Praktika beim Auswärtigen Amt und bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Seit 2017 engagiert er sich beim Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK). Dort war er als Co-Chefredakteur mitverantwortlich für die Herausgabe des Konfliktbarometers 2020. Sein Forschungsinteresse umfasst soziale Bewegungen, Protest und Repression u.a. in Nordafrika und in China.