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01. Juni 2006

Imperiale Versuchungen

Eine Entgegnung auf Alan Poseners „Empire Europa“

„Empire Europa“ war kürzlich ein kleines Loblied auf das Imperium von Alan Posener in der IP betitelt. Die Traumrolle scheint derzeit vakant. Den USA ist sie nicht auf den Leib geschrieben. Aber ist sie nicht passend für die EU?, fragte Posener. Tatsächlich ist die Position des Imperiums heute wohl nicht im Angebot. Die Herausforderung von Europas imperialem Erbe an die Staatenwelt bleibt freilich bestehen. Sie hat einen hässlichen Namen: prekäre Staatlichkeit.

1 Es gibt Zeiten, in denen die Konstellationen internationaler Politik ganz offen zu liegen scheinen, während sie zu anderen Zeiten in einem verwirrenden Durcheinander verschwinden. So ist es heute. In der Zeit des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation dagegen stellte sich die Situation einfach dar. Sie war mit ihrem Gleichgewicht des Schreckens lebensgefährlich, konnte aber gerade deshalb stabil erscheinen. Die „blockfreie Welt“ war eine Nebenerscheinung dieses repressiven Ordnungsmechanismus, aber gewiss nicht seine Negation. Mit dem Ende der Blockkonfrontation zerfiel sie schneller als die Blöcke. Hier fanden nach 1989 die blutigsten Konflikte statt, angefangen mit der Besetzung Kuwaits durch den Irak und den Auflösungskriegen Jugoslawiens.

Eine postimperiale Welt

Die blockfreie Welt wurde im Wesentlichen durch die Staaten gebildet, die über die verschiedenen Phasen der Unabhängigkeitsbewegung aus den europäischen Kolonialreichen hervorgegangen waren. Am Beginn dieser Bewegung standen die Unabhängigkeitserklärung und die Gründung der USA. Diese postimperiale Welt wurde durch den Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Auflösung der Sowjetunion noch einmal gehörig erweitert.

Dass im blockfreien Teil der Welt leicht entzündbare Konfliktherde liegen, war bekannt und geläufige Erfahrung. Nicht anders steht es um die postimperiale Welt von heute. Auffällig ist, dass in diesen Konflikten zunehmend die Strukturen selbst in Frage gestellt werden, die es bisher erlaubt hatten, die Konflikte als „innerstaatliche“ aus der internationalen Politik hinaus zu definieren.

Vor allem in Afrika, aber auch in Teilen Südosteuropas und Asiens stehen in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen die Staaten selbst auf dem Spiel. Das gilt für die Kriege im Gebiet der „Großen Seen“, es gilt für den Sudan, für Sri Lanka, für den Kaschmir-Konflikt, aber auch für die Auseinandersetzungen auf dem Balkan und im Kaukasus. Es handelt sich bei diesen Konflikten nicht um „Bürgerkriege“, also Kriege zur Eroberung der Staatsmacht durch sozial definierbare und politisch unterdrückte Teile des Staatsvolks, sondern um Staatsauflösungs- und Staatsbildungskriege ethnisch und religiös mobilisierter Gruppierungen, die das bisherige Zusammenleben in einem Staat aufkündigen.

Vor 1989/91 konnte der Eindruck überwiegen, man habe es fast nur noch mit „Bürgerkriegen“ zu tun. Er entstand einerseits durch die formelle Sicherung der Staatsform via Mitgliedschaft in den UN und die damit verbundene gegenseitige Anerkennung der Mitglieder als souveräne Staaten. Andererseits verhinderte der Blockmechanismus, an dieser Form zu rütteln: ohne sie keine Berechenbarkeit und kein Gleichgewicht der Blöcke, dem durch die glaubhafte Drohung gegenseitiger Vernichtung doch nicht zu entrinnen war.

Nach 1989/91 zeigte sich: Während der Ordnungsrahmen der UN eher aufgewertet wurde, stellte sich mit dem Wegfall des Ordnungsmechanismus der Blöcke die Frage nach Ordnungsmacht in einer globalisierten, aber in ihren Bausteinen fragilen Staatenwelt ganz massiv. Auf diesem rissigen Grund werden das Zerbröseln des Nichtverbreitungsregimes von Atomwaffen und das Aufkommen eines islamistischen Terrorismus zu akuten sicherheitspolitischen Herausforderungen der internationalen Ordnung. Da es keine Zentralgewalt gibt, sind „Staatsbildung“ wie „Imperium“ gleichermaßen populäre, jedoch entgegen gesetzte Schlagworte der konzeptionellen Debatten in den Medien und Thinktanks der westlichen Welt.

Wie lässt sich globale Ordnungsmacht bilden, wenn der bisherige Ordnungsmechanismus des Gleichgewichts der Blöcke mit den beiden Supermächten an der Spitze außer Kraft gesetzt ist und der bestehende Ordnungsrahmen der UN ohne entsprechende Macht nicht zur Geltung kommt, selbst aber diese Macht nicht erzeugen kann? Die Frage ist akut, und sie ist als Frage nach globaler Ordnungsmacht neu. Eine solche Ordnungsmacht müsste die unabgeschlossenen, prekären Staatsbildungsprozesse fördern und durch regionale und globale Integration ebenso stützen wie einhegen.

Es ist nahe liegend, die Frage nach globaler Ordnungsmacht mit historischen Analogien zu beantworten. Könnten nicht die USA in die Rolle eines neuen Rom schlüpfen? Könnten sie nicht eine höhere Form des untergegangenen britischen Empire errichten? Für solche Gedanken gibt es zwei Anknüpfungspunkte: die Größe der Herausforderungen an die internationale Ordnung und die überragende Stärke der einzig verbliebenen Supermacht.

Den überlappenden Bedrohungen von prekärer Staatlichkeit im Spektrum starker Schurkenstaaten bis hin zu schwachen zerfallenden Staaten, von Verbreitung nuklearer wie anderer Massenvernichtungswaffen und dem neuen Terrorismus könnten doch, wenn überhaupt irgendeine bestehende Macht, allenfalls die USA gewachsen sein? Wer die Frage so stellt, hofft darauf, dass die USA als Imperium globale Ordnungsmacht errichten. Tun sie das nicht, wird entweder ihre mangelnde Bereitschaft beklagt oder ihre antiimperiale Tradition bewundernd bedauert. Niall Ferguson,2 der Spross eines Britentums, das schon lange um „the white man’s burden“ weiß, schwankt zwischen Appell an die USA und Resignation. Die Herausforderungen an Ordnungsmacht bestehen unabhängig von den USA. Wenn die USA sie nicht annehmen, werden sie dadurch nicht geringer. Im Gegenteil: Der Zustand der Welt wird nur umso gefährlicher. Chaos oder Imperium, das scheint die Wahl zu sein. Da die USA das Imperium nicht „annehmen“, sondern nur zu kurzatmigen Interventionen in der Lage sind, wird das Chaos um sich greifen.

Man kann aber auch fragen: Zu was sonst als zu imperialer Macht könnte sich die „einzig verbliebene Supermacht“ entwickeln? Dann wird eher eine immanente Logik der Macht-entfaltung unterstellt, bei der aus der Supermacht folgerichtig die imperiale Hypermacht hervorgeht, wenn der Gegenpol der anderen Supermacht verschwunden ist und die Herausforderungen an der Peripherie nicht abnehmen. Für diese Supermacht wird alles außerhalb ihrer selbst zur Peripherie, von der Bedrohungen der eigenen Sicherheit ausgehen können. Das kann man gut finden oder schlecht. Macht und erst recht Supermacht haben eben ihre eigene Logik. So denkt Herfried Münkler.3 Schön sind auch diese Aussichten nicht.

Alan Posener lobt Ferguson und Münkler als Akademiker, die sich „einen neuen, nicht einfach denunziatorischen Blick auf das Projekt Imperium erlauben“. Doch gingen sowohl der „Imperialist Ferguson“ als auch der „Nationalist Münkler“ von falschen Voraussetzungen aus: „Wenn das Wort irgendeinen Sinn haben soll außer ,sehr großer und mächtiger Staat‘, dann ist Amerika kein Imperium. Russland hingegen schon.“ Ferguson ist wahrscheinlich kokett genug, sich durch die Kennzeichnung „Imperialist“ nicht angesprochen zu fühlen. Doch ihm Herfried Münkler als „Nationalisten“, wenn auch in Anführungszeichen, gegenüberzustellen, führt in die Irre. Münkler denkt nicht in der Alternative Imperium oder Nationalstaat. Seine Ausgangsfrage ist vielmehr „Staatenwelt oder Imperium?“, also die Frage nach Form und Charakter der künftigen internationalen Ordnung. Daher ist mit dem Hinweis auf die antiimperiale Tradition der USA noch nicht die Frage beantwortet, wie die USA mit den Herausforderungen einer zunehmend fragilen und gefährdeten, damit aber auch gefährlichen Staatenwelt umgehen werden.

Sowieso geht es ja nicht darum, wie diese oder jene Macht begrifflich zu fassen ist, sondern wie sie auf die neue Herausforderung der Bildung globaler Ordnungsmacht reagiert. Das ist die Fragestellung von Ferguson und Münkler. Deshalb haben Ferguson, eher von den Herausforderungen an die internationale Ordnung ausgehend, und Münkler, eher die imperiale Logik nachzeichnend, die USA im Auge, wenn sie von Imperium reden. Dass keine andere einzelne Macht in der Lage ist, globale Ordnungsmacht zu bilden, liegt auf der Hand. Deshalb drehen sich ihre Überlegungen um die USA und nicht etwa um Russland, obwohl letzteres eine imperiale Tradition hat, erstere dagegen fast gar keine.

Doch ist es nicht so oder so anachronistisch, ausgerechnet im „Imperium“ die Antwort auf die Frage nach globaler Ordnungsmacht zu suchen, wenn der Zyklus imperialer Expansion Europas gerade zu einem Abschluss gekommen ist – wobei das imperiale Erbe Europas überall Probleme der Staatsbildung hinterlassen hat?

Alan Posener geht es weniger um Fragen globaler Ordnung als um den Gegensatz von Nationalstaat und Imperium nach ihrer inneren Verfassung und ihrer europäischen Bedeutung. So schwenkt er locker von den USA auf die EU, weil sie am ehesten den konstitutionellen Formen nahe zu kommen scheint, denen sein Lob des Imperiums gilt. Mit „Empire Europa“ gibt er zugleich der Debatte um das „amerikanische Imperium“ eine ironische Wendung: Auf Grund ihrer gesellschaftlichen und politischen Prägung werden die USA die Position des Imperiums gar nicht einnehmen wollen und können. Die EU dagegen, wo die Kritik am amerikanischen Imperium ihre Blüten treibt, muss sich ihrerseits mit der Rolle des Imperiums anfreunden, wenn sie die Aufgaben, die vor ihr liegen, lösen will. Das impliziert zweierlei:

  • Auch wenn die USA nicht in die Rolle des Imperiums schlüpfen, weil sie ihnen nicht passt, bleibt diese Rolle doch auf dem Spielplan.
  • Auch wenn sich die EU ihrer Rolle noch nicht bewusst sein mag, ihren Aufgaben wird sie nur als Imperium gerecht werden. Die globale Perspektive Fergusons und Münklers verengt sich damit auf Europa und dessen Ordnung.

Die Erfindung der EU

Die Ausbildung der postimperialen Welt hatte eine Kehrseite: das Zurückstutzen der europäischen Kolonialreiche auf ihre Mutterländer. Schon diese erste „Rückkehr nach Europa“ wurde durch die europäische Integration, also den Auf- und Ausbau von EWG, EG und schließlich der EU, erleichtert und aufgefangen. Als die mittelosteuropäischen Staaten, deren kurze Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Sowjetunion beendet worden war, erneut in die Unabhängigkeit aufbrachen, fanden sie – im Unterschied zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – in der EU eine Form vor, die es ihnen erlaubte, ihre Rekonstruktion als Nationalstaaten mit der Integration in die in Westeuropa entwickelten Strukturen zu verbinden.

Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg und Mittelosteuropa nach dem Kalten Krieg fanden sich auf der Sonnenseite der postimperialen Welt wieder. Die Staaten- und Bürgerunion, zu der sich die EU im Laufe ihres Verfassungsprozesses herausgebildet hatte, erlaubte es, die historischen Konflikte  unter ihren Mitgliedsstaaten auf politische Reibungen und wirtschaftlichen Wettbewerb herabzustufen. Der Beitrittsprozess wirkte bereits integrierend und machte alle Befürchtungen über ein Neuaufflammen der alten Konflikte gegenstandslos. So war das Angebot der Mitgliedschaft in den ersten Jahren nach 1989 das entscheidende außenpolitische Instrument der EU in Europa. Das hatte auch schon in Westeuropa für die von diktatorischen Rückschlägen bedrohten Demokratien Spaniens, Portugals und Griechenlands gegolten; es gilt schon lange für die Türkei und nach Abschluss des Stabilitätspakts für Südosteuropa auch für die Staaten, die aus Jugoslawien hervorgegangen sind.

Der jahrhundertelange Staatsbildungsprozess in Europa war bekanntlich nach außen wie nach innen nicht besonders friedlich. Erst unter den Bedingungen der Blockkonfrontation, der Spaltung Europas und Deutschlands und der transatlantischen Orientierung auf beiden Seiten des Ozeans war es in Westeuropa gelungen, Staatsbildung und europäische Integration konstitutionell miteinander zu verknüpfen. Mit der Erfindung der EU gelang es schließlich, sowohl der deutschen Einigung den Boden zu bereiten, ohne das europäische Gleichgewicht zu sprengen, als auch den Staaten aus den Gewitterzonen der europäischen Kontinentalmächte mit ihren Status- und Grenzfragen den Raum moderner Staatsbildung zu sichern.Das Neue an der EU, der ersten großen Erfindung der modernen Staatsgeschichte nach Gründung der USA,4 nun ausgerechnet mit imperialen Analogien erklären zu wollen, führt in die Irre. Sie hat ihre Wurzeln in der Geschichte des europäischen Staatensystems, in der frühen enormen Dichte wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vernetzung durch Kommunen, die auch in den Zeiten des übelsten Nationalismus nicht völlig zerstört werden konnten. Aber sie brach mit der imperialen Expansion in Übersee wie auf dem Kontinent.

Auch dort, wo die EU Gefahr läuft, in die paternalistische Falle zu gehen, bewegt sie sich nicht auf imperialer Fährte. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um das Erbe Jugoslawiens wollte die EU zunächst als innere Angelegenheit und drohenden Bürgerkrieg behandeln. Sie versuchte zu mäßigen. Der Versuch erwies sich schnell als illusionär. Der scheinbare Bürgerkrieg entpuppte sich als eine Reihe von Staatsbildungskriegen, begonnen mit dem Versuch Milosevics, das in seiner Einheit gefährdete Jugoslawien zu möglichst großen Teilen in ein neues Großserbien zu überführen. Die Gegenbewegung setzte auf die Rechtsform der jugoslawischen Republiken, um sie zu unabhängigen Staaten auszubilden. Auf diesem Weg musste die Auflösung Jugoslawiens nicht in die Zerstörung jeder Staatlichkeit umschlagen, die einigen afrikanischen Staaten droht. Mit ihrer Neutralität gegenüber den Parteien eines vermeintlichen Bürgerkriegs versäumte es die EU jedoch, diesen Weg frühzeitig zu unterstützen. Es dauerte lange, bis die EU und die NATO-Staaten schließlich begriffen hatten, dass sie es in Jugoslawien mit Staatsbildungsprozessen zu tun hatten – und zwar auf einem Boden, wo sich die großen Kontinentalimperien Osmanisches Reich, Habsburger und Zarenreich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in blutiger Rivalität gegenübergestanden hatten. Jugoslawien war als „Miniimperium“, so Alan Posener zu Recht, in dieses Erbe eingetreten.

Doch nach dem Ende der Kriege expandiert hier kein Empire, sondern die EU versucht, ihren in West- und Ostmitteleuropa erfolgreichen Weg auch dem „westlichen Balkan“ zugänglich zu machen und die Staatsbildung, ohne die es in der Moderne keine gleichberechtigte Partizipation am Weltgeschehen gibt, durch transnationale Integration einzuhegen. Wenn dieser Weg die Staaten der Region schließlich in die EU führt, führt er zu gleichberechtigter Mitgliedschaft – und nicht vom äußeren Balkan zum inneren Balkan. Das ist Umgang mit imperialem Erbe, aber durch eine EU, die den klassischen europäischen Gegensatz von Staat (Partikularismus) und Imperium (Universalismus) in ein spannungsreiches, aber verfasstes Miteinander von Staatsbildung und Integration überführt hat. Erweiterung der EU ist Eröffnung dieses Weges, keine imperiale Expansion.5

Nun ergeben sich die Überlegungen Alan Poseners auch nicht aus der bisherigen Geschichte der EU, sondern aus den neuen Aufgaben der Außenpolitik der EU, die aufhören muss, bloße Erweiterungspolitik zu sein, wenn sie nicht ihren Grundcharakter als Staaten- und Bürgerunion verlieren will. Wo immer man die Grenzen der Erweiterungsfähigkeit zieht: Die EU sollte es jedenfalls vorziehen, ihre Außen- und Nachbarschaftspolitik komplex und abgestuft zu gestalten, statt zu Formen hierarchisch geschichteter Mitgliedschaft überzugehen. Das wäre auch noch kein Imperium. Das Hauptproblem eines solchen Gebildes bliebe die Machtbalance unter Staaten, die weniger als jetzt durch europäische Institutionen entschärft wäre.

Wenn Alan Posener meint, an den Rändern der EU entstünden Probleme, für deren Lösung aus der Konzeption des „Imperiums“ Denkanstöße gewonnen werden könnten, trifft er sich mit Herfried Münkler, der allerdings unterscheidet zwischen einer imperialen Rolle, in die die EU durch äußere Herausforderungen gedrängt werden könnte und dem Imperium als Herrschaftsform. Ich meinerseits denke, dass die EU nicht nur im Äußeren auf postimperiale Probleme stößt, für die sie postimperiale Lösungen finden muss. Die EU selbst ist ja als postimperiale Institution ins Leben getreten.

Unter der Hand hat Posener eine Begriffsverschiebung vorgenommen, die freilich im Begriff des Imperiums selber angelegt ist. Wenn von den USA als Imperium gesprochen wird, wird der ganze Globus als Raum ihrer realen oder potenziellen Herrschaft unterstellt. Es geht um ein globales De-facto-Imperium. Denkt man dagegen die EU als Imperium, geht es um eine Rechtsform von Herrschaft mit offensichtlich eingeschränkter regionaler Reichweite. In dieser begrifflichen Undeutlichkeit zeigt sich schon, dass Imperium als Erklärungsmuster oder gar Perspektive von Herrschaft im Zeitalter der Globalisierung wahrscheinlich untauglich ist. Was aber verbirgt sich dann in den unscharfen Debatten um das Imperium? Schließlich wäre, falls die EU als Empire regional funktionierte, die Frage globaler Ordnungsmacht ja keineswegs beantwortet.

Das „Zeitalter der Globalisierung“ ist durch die Verallgemeinerung der Staatsform und der kapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt. Tendenzen zur Globalisierung gibt es schon lange, aber zur Verallgemeinerung dieser Doppelstruktur ist es erst gekommen, als sich China dem Weltmarkt öffnete und das Sowjetimperium zusammenbrach. Seitdem ist jeder Winkel in der Welt formell durch einen souveränen Staat besetzt, und die ganze Welt wird zunehmend durch die kapitalistische Wirtschaftsweise geprägt.

Offensichtlich sind die Prinzipien der Staatenwelt und der Weltwirtschaft nicht deckungsgleich. Territoriales Souveränitätsprinzip und weltwirtschaftliche Vernetzung stehen in einem Spannungsverhältnis und bedingen sich zugleich gegenseitig. Wie sollen weltweite Netze stabil sein, ohne territorial durch funktionierende Staaten garantiert zu werden? Und wie sollen sich Staaten gegenüber anderen Staaten behaupten können, wenn sie in der vernetzten Weltwirtschaft nicht präsent sind? So bilden im Zeitalter der Globalisierung territoriale Souveränität von Staaten und weltweite Vernetzung der Wirtschaftsweise einen neuen, widersprüchlichen, aber nicht auflösbaren Wirkungszusammenhang: Funktionierende Staaten sichern die weltwirtschaftliche Vernetzung, und ohne weltwirtschaftliche Vernetzung ist heutzutage kein Staat zu machen.

Zugleich ist offensichtlich, dass die Staatsbildung gerade in den postimperialen Zonen auf große Schwierigkeiten stößt. Oft ist die Staatsform nur eine Hülle, aber keine Funktionsweise guter Regierung. Die weltwirtschaftliche Vernetzung schafft keine Homogenität. Oft verschärft sie Unterschiede bis zur Fragmentierung von Gesellschaften und Regionen. Dennoch ist jene „Gestaltung der Globalisierung“, von der heute so viel die Rede ist, nur in dem Spannungsfeld von Staatsform und transnationaler Vernetzung zu finden – und nicht in der Negation einer ihrer Seiten.

Das Imperium ist diese Negation in doppelter Hinsicht. Es negiert in seinem Inneren die Staatsform und reduziert die Teile der Welt, die es sich einverleibt, auf Provinzen. Nach außen unterbindet es die Vernetzung und verwandelt wechselseitige Verbindungen in Kulturgefälle. Schon auf der Ebene theoretischer Überlegung ist das Imperium ein Anachronismus. Praktisch verfehlt es schlicht die reale Situation.

Die Staatenwelt wird durch formell gleiche, sich gegenseitig als souveräne Staaten anerkennende Mitglieder der UN gebildet. Ihrem Gewicht nach unterscheiden sich die Staaten freilich erheblich. Wie im europäischen Staatensystem seinerzeit gibt es auch in der globalisierten Staatenwelt von heute „große Mächte“. Sie mögen im Inneren – wie Russland und in geringerem Maße China – imperiale Züge tragen. Sie mögen sich als „einzig verbliebene Supermacht“ noch nicht damit abgefunden haben, dennoch Staat unter Staaten zu sein. Sich jedoch gegenseitig zu negieren und in ihrer je partikularen Form die Staatenwelt insgesamt ihrer eigenen imperialen Herrschaft oder auch nur Hegemonie unterwerfen zu wollen, und gleichzeitig die weltwirtschaftliche Vernetzung aufrechterhalten und garantieren zu können – das ist noch keiner der großen Mächte eingefallen.

Selbst die imperiale Versuchung, der sich die USA in einem vermeintlichen „unipolar moment“ und unter den akuten Bedrohungen nicht immer entziehen konnten, entsprang nicht der Hoffnung auf eigene Weltherrschaft, sondern der verfehlten Annahme, universale Werte, die weit über den eigenen Staat hinaus geteilt werden, durch eben diesen Staat, also in partikularer Form, allgemein durchsetzen zu können.

Globale Ordnungsmacht wird sich entweder als unter und durch die großen Staaten konzertierte Macht bilden oder überhaupt nicht. Der Rahmen für solche konzertierte globale Ordnungsmacht ist mit den UN und ihrem Sicherheitsrat gegeben. Unter heutigen Bedingungen wäre Imperium immer eine Abkehr von Globalisierung. Imperium ist eine Welt für sich. So lange Imperien nichts oder wenig voneinander wissen, können Imperien koexistieren. Unter Bedingungen der Globalisierung verwandeln sich Imperien in Staaten unter Staaten, oder sie gehen unter.

„Imperium“ mag als einzige Auffangstellung übrig bleiben, wenn es nicht gelingt, die Prozesse der Globalisierung mit einer globalen Integrationspolitik zu beantworten. Diese würde zuallererst verlangen, dass die großen Mächte, etablierte und neu aufkommende, ihr Heil nicht in gegenseitigen Hegemonialkriegen und imperialen Rivalitäten suchen. Sie haben daran ein erhebliches politisches Interesse. Denn sie profitieren von der einen Welt am meisten. Partizipation an globaler Ordnungsmacht ist unter Bedingungen der Globalisierung mehr wert als ein eigener abgeschlossener Herrschaftsbereich.

Der EU kommt unter den großen Mächten eine besondere Bedeutung zu. Neben ihrem beträchtlichen Gewicht hat sie den Weg zur Lösung eines zentralen Problems der globalen Ordnung gefunden, indem es ihr gelang, Staatsbildung und Integration zu verknüpfen. Traditionell stehen Imperien für ausgreifende Integration und Staaten für Absonderung. Integration ist global durch keine imperiale Macht zu verwirklichen. Die Staaten können nicht in Absonderung verharren. Die EU ist kein Modell, weil ihre Geschichte unwiederholbar ist. Sie hat aber den Schlüssel zur Lösung des allgemeinen Problems gefunden: Wenn die Staatsform unerlässlich für die Sicherung der weltwirtschaftlichen Vernetzung bleibt und imperiale Integration allenfalls Teile der Welt erfassen könnte und in Konfrontation treiben müsste, müssen Staatsbildung und Integration neu verknüpft werden. Regional und global.

JOSCHA SCHMIERER, geb. 1942, Studium der Geschichte und Philosophie, Publizist, bis 1999 Redakteur der Kommune, Forum für Politik, Kultur und Ökonomie. Ab 1999 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Buchveröffentlichungen: „Die neue Alte Welt oder wo Europas Mitte liegt“ (1993); „Mein Name sei Europa. Einigung ohne Mythos und Utopie“ (1996).

  • 1Alan Posener: Empire Europa, Internationale Politik, Januar 2006, S. 60–67.
  • 2 Niall Ferguson: Empire: The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, New York 2004 und Colossus: The Rise and Fall of the American Empire, New York 2005.
  • 3 Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 332.
  • 4Mit den USA wurde die moderne Republik, demokratisch und die Liberalität durch checks and balances sichernd, erfunden. Die EU zeigt, wie sich in einer Region verfestigter staatlicher und nationaler Gegensätze demokratische Souveränität und überstaatliche Integration verknüpfen lassen.
  • 5Wenn man den Begriff des Imperiums auf seinen Gegensatz zum Nationalstaat reduziert, kann man freilich mit Robert Cooper behaupten: „The most far-reaching form of imperial expansion is that of the European Union.“ (The Breaking of Nations. Order and Chaos in the Twenty-first Century, London 2003, S. 71). Ein Nationalstaat ist die EU nicht, sie hat sich aber erweitert: „imperial expansion“ also. Coopers Buch ist dennoch sehr anregend.

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