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01. Juni 2006

Erinnerung und Ausblick

Die deutsch-israelischen Beziehungen: ein gemeinsames Papier

Ein deutsch-israelisches Papier zum 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen

Aus Anlass des 40. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland haben die Planungsstäbe des deutschen Auswärtigen Amtes und des israelischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten zum ersten Mal ein gemeinsames Papier erarbeitet. Im Zentrum ihrer Überlegungen standen Fragen nach dem Stellenwert der Erinnerung für das Selbstverständnis der beiden Staaten und ihrer Beziehungen zueinander und grundsätzliche Überlegungen zu den gemeinsamen Werten und Interessen beider Länder. Es besteht die gemeinsame Hoffnung, dass dieses Papier als Grundlage weiterer Überlegungen über die hier genannten Themen dienen wird.

Erinnerung

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind erst 60 Jahre vergangen – ein Wimpernschlag in der Geschichte und doch für einen Menschen fast eine Lebensspanne. In diesen 60 Jahren führte unser Weg vom Tode zum Leben, von der Verzweiflung zur Hoffnung und vom Niedergang zu neuem Aufbau.

60 Jahre sind vergangen, und doch ist die Erinnerung an den Holocaust nicht verblasst. Sie ist womöglich im Laufe der Zeit noch intensiver geworden. Erinnerungen spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Herausbildung der deutschen und israelischen Identität. Israel stellt für das jüdische Volk, das enteignet, seiner Heimat beraubt und wehrlos war, eine historische Lösung dar, während das demokratische und tolerante Deutschland die Antithese zum Nazi-Staat bildet.

40 Jahre lang kam der historischen Erinnerung eine wichtige Rolle beim Brückenschlag zwischen den beiden Völkern zu. Im Laufe der Jahre wurden weitere Brücken gebaut, und es hat sich ein dichtes und vielfältiges Netzwerk von Beziehungen entwickelt. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Verpflichtung zur Bewahrung der Erinnerung und des moralischen Bekenntnisses Deutschlands zur Sicherheit und zum Wohl des Staates Israel ist das wechselseitige Verständnis zwischen beiden Ländern und Völkern ein fortlaufender Prozess, dessen wesentliche Bestandteile sich kontinuierlich weiterentwickeln.

Die beiden Länder und Völker sind aus entgegengesetzten Positionen in diesen Prozess eingetreten, und dies macht ihr Verhältnis so einzigartig. Zum einen gibt es ein gemeinsames Bekenntnis zur Erinnerung an das Vergangene, weil wir die Überzeugung teilen, dass der historischen Erinnerung als Bestandteil des gemeinsamen Erbes unserer Gesellschaften eine wichtige Rolle zukommt. Zum anderen gibt es einen Unterschied zwischen beiden Seiten bei der Wahrnehmung dieser Erinnerung – es gibt die Erinnerung der Opfer und die der Täter.

Wir stehen somit vor der Herausforderung sicherzustellen, dass die gemeinsame Basis erhalten bleibt, auch wenn die Wahrnehmung der Erinnerung und die daraus resultierende Identitäts- und Bewusstseinsbildung Veränderungen unterliegt. Dies stellt uns vor die Aufgabe, den Dialog zwischen unseren Gesellschaften und Bürgern und insbesondere zwischen Intellektuellen, Historikern und Meinungsführern zu intensivieren.

Wir können uns dieser Herausforderung durch die Schaffung eines normativen Rahmens stellen, der sich aus der Erinnerung selbst ableitet. Kernstück dieses Rahmens sind vier Grundsätze:

  • Bewahrung der Erinnerung über den Generationenwechsel hinaus. Schon bald werden die letzten Zeitzeugen, die uns noch ihre Geschichte erzählen konnten, nicht mehr unter uns sein. Wir stehen vor der großen Herausforderung sicherzustellen, dass der Holocaust nicht zu einem beliebigen Kapitel in den Geschichtsbüchern wird und dass historische Tatsachen nicht getilgt, verwässert oder entstellt werden. Wir müssen gewährleisten, dass wir die Gesichter, die persönlich erlebten Geschichten und auch die besonderen Umstände, die zum Holocaust geführt haben, nicht vergessen.
  • Nein zum Völkermord. Wir müssen unterstreichen, dass es vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Holocaust – des schrecklichsten jemals begangenen Völkermords – unser gemeinsames Ziel ist, gegen massenhafte Gewaltanwendung und drohenden Völkermord vorzugehen. Dies hat konkrete Auswirkungen auf unsere Außen- und Sicherheitspolitik.
  • Fortgesetzter Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Antisemitismus kann in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommen, manchmal offen, dann wieder in latenter Form. Neonazis und viele rechtsextreme Gruppierungen sind offen antisemitisch eingestellt. In den vergangenen vier Jahrzehnten verwandelten sich kritische Meinungen zur israelischen Politik zuweilen in eine krass antiisraelische Gesinnung, die mit altbekanntem Antisemitismus einhergehen konnte. Der radikale Islamismus ist oft Katalysator solcher Prozesse. Wir müssen uns der Herausforderung stellen, dem Antisemitismus in allen seinen Ausprägungen entgegenzutreten und die klare und unmissverständliche Botschaft auszusenden, dass dieses Phänomen in keiner Form zu tolerieren ist, und gleichzeitig sicherzustellen, dass dabei die Isolation und der Hass gesellschaftlicher Randgruppen nicht noch verstärkt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Welt durch den Rassismus in die Barbarei gestürzt. Von Anfang an ist der Kampf gegen den Rassismus jeder Form durch diese Erinnerung geprägt gewesen.
  • Kampf gegen antidemokratische Kräfte. Die Erinnerung an den Zusammenbruch der Demokratie und das große Leid breiter Bevölkerungsschichten infolge der Nazidiktatur vor mehr als 60 Jahren verpflichtet uns zur Wachsamkeit beim Schutz der Demokratie und in unserem Kampf gegen jene, die demokratische Institutionen direkt oder indirekt bedrohen.

Werte

Nachdem der Zweite Weltkrieg Tod und Zerstörung gebracht hatte, wurde ein Neuanfang gemacht. Zu dieser neuen Wirklichkeit gehörte auch der Wunsch nach einer besseren Welt, einer Welt voller Hoffnung, in der gewährleistet ist, dass die nachfolgenden Generationen nicht wie ihre Vorfahren die Schrecken des Krieges erleben müssen. Israel und Deutschland betonen gemeinsam die Bedeutung von Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Menschenwürde als den Grundwerten ihrer Staaten.

Diese Leitprinzipien sind im deutschen Grundgesetz sowie in der Unabhängigkeitserklärung und den Gesetzen Israels verankert; sie haben den Weg dafür geebnet, dass staatliche Institutionen entstehen konnten, der Grundsatz der Gewaltenteilung gewährleistet ist und sich Sozial- und Bildungssysteme, kommunale Institutionen und wirtschaftliche Regelwerke herausbilden konnten, die für dynamische, moderne und entwickelte Gesellschaften ein dichtes und tragfähiges Netzwerk darstellen.

Israel und Deutschland haben sehr vieles gemeinsam. In beiden Ländern gibt es eine freie Presse, eine dynamische Bürgergesellschaft, ein rechtsstaatliches Regierungssystem mit einem fortschrittlichen Rechtswesen, einen Wohlfahrtsstaat, der soziale Gerechtigkeit und eine gerechte Verteilung der Ressourcen gewährleistet, das Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Frau und ein starkes Augenmerk auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen. Schließlich haben beide Länder repräsentative Volksvertretungen, in denen die verschiedenen Strömungen ihrer Gesellschaften zum Ausdruck kommen können.

Deutschland und Israel stehen vor ähnlichen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. In einer offenen und globalisierten Welt, in der Kapital und Arbeit nicht ortsgebunden sind, wollen beide Länder sicherstellen, dass die sozialstaatlichen Grundsätze gewahrt bleiben und dass es weiterhin möglich sein wird, auf den Weltmärkten zu konkurrieren.

Aufgrund ihrer so verschiedenen geographischen und politischen Rahmenbedingungen haben Israel und Deutschland unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen gemacht. Doch die verschiedenen geographischen Umfelder ändern nichts daran, dass beide Länder sich regional und weltweit für den Frieden einsetzen. Heute ist sogar deutlicher denn je, dass Deutschland und Israel angesichts gemeinsamer Bedrohungen und Herausforderungen zusammenstehen. Sie sind Partner in dem Bemühen, die Zukunft der Bürgergesellschaft und der freiheitlichen Demokratie zu sichern.

Dies ist auch die Grundlage unserer bilateralen Beziehungen. Letztendlich lässt sich dies nicht von dem Bekenntnis zur Erinnerung an das Vergangene trennen. Nur zwischen offenen Gesellschaften kann es einen aufrichtigen Dialog über die Vergangenheit geben.

Gemeinsame Interessen: globale Herausforderungen

Die weitreichenden Veränderungen durch das Ende des Kalten Krieges und die wachsende Dynamik der Globalisierung stellen die internationale Gemeinschaft vor eine Reihe von Herausforderungen. Eine der wichtigsten besteht darin, eine neue Weltordnung zu schaffen, die sich auf einen effizienten multilateralen Rahmen stützen kann, der in der Lage ist, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren. Die Erkenntnis, dass es eine zunehmende gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Staaten gibt und dass ihre Zusammenarbeit intensiviert und wirkungsvolle internationale Übereinkünfte geschlossen werden müssen, haben das Bedürfnis Israels und Deutschlands, auf internationaler Bühne gemeinsam zu agieren, nur gestärkt.

Wir sind daran interessiert, auf der Grundlage gemeinsamer Werte zusammenzuarbeiten. Wir befürworten internationale Kooperation zur Abwendung der neuen Bedrohungen, die sich insbesondere nach Ende des Kalten Krieges herausgebildet haben. Hierzu zählen unter anderem der Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Ausbreitung radikaler Ideologien und illegale Menschen-, Güter- und Kapitalströme.

Wir befürworten die Zusammenarbeit im Bereich der Exportkontrollmechanismen im multilateralen Rahmen, damit die Weitergabe sensitiver Materialien und Ausrüstungen an Staaten, die Anlass zu Besorgnis geben, unterbunden und insbesondere verhindert wird, dass solches Material in die Hände von Terroristen gelangt. Bei der Umsetzung der EU-Politik zur Proliferationsverhütung berücksichtigt Deutschland die spezifische Situation Israels.

Israel und Deutschland sind daran interessiert, bei der Hilfe für Entwicklungsländer, bei der nachhaltigen Entwicklung, der Bekämpfung der Wüstenbildung und in anderen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen zusammenzuarbeiten. Deutschland und Israel werden ihren Meinungsaustausch zur Frage der Reform und Effizienzsteigerung der Vereinten Nationen fortsetzen, unter anderem indem sie sich für die Normalisierung der Rechtsstellung Israels in internationalen Organisationen einsetzen. Beide Länder werden auch innerhalb der demokratischen Staatengemeinschaft hinsichtlich globaler Fragen zusammenarbeiten.

Regionale Herausforderungen: Deutschland und der Nahe Osten

Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen ihren lokalen Umfeldern haben Israel und Deutschland die gleichen regionalen Interessen, darunter an erster Stelle die Herbeiführung von Frieden und Stabilität im Nahen Osten. Israel liegt in einem überwiegend feindlich gesonnenen Umfeld, das weder sein Existenzrecht noch sein Recht auf Frieden und Sicherheit anerkennt. Deutschland wiederum ist wichtiger Pfeiler eines regionalen Integrationsprozesses und dient Staaten, die bereit sind, Elemente ihrer Souveränität mit anderen Staaten gemeinsam wahrzunehmen, um regional Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, als Vorbild.

Die genannten Unterschiede im Hinblick auf das regionale Umfeld und unterschiedliche historische Erfahrungen haben zu Verzerrungen in der Wahrnehmung der jeweils anderen Seite geführt. Dies ist vor allem in Phasen zunehmender Instabilität im Nahen Osten spürbar.

Beide Länder stehen vor der Herausforderung, ihre gemeinsamen Werte und Zielsetzungen zu akzentuieren, einschließlich ihres gemeinsamen Wunsches, Frieden im Nahen Osten zu schaffen und ihre Zusammenarbeit mit arabischen Staaten, die ebenfalls dieses Ziel anstreben, zu intensivieren.

Deutschland setzt sich wie die anderen Mitglieder der EU seit vielen Jahren dafür ein, die oben genannten Ziele zu erreichen, sei es durch politische Initiativen oder durch wirtschaftliche Aktivitäten. Israel betrachtet den deutschen Beitrag auf diesem Gebiet als sehr positiv und würdigt ausdrücklich auch den Beitrag der EU, wobei es sein Interesse an der Ausweitung dieser Aktivitäten zum Ausdruck bringt. Für eine wirkliche Bewältigung der komplexen Lage im Nahen Osten einschließlich ihrer sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekte ist eine umfassende internationale Zusammenarbeit vonnöten. Kein Staat, gleich welcher Größe, kann allein handeln.

Deutschland und der Europäischen Union kommt eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Beziehungen zwischen Israel und seinen Nachbarn zu. Hierdurch leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses in der Region. Diese Aktivitäten könnten Israel ermöglichen, eine wichtige Rolle in der Region zu spielen, die seinen Fähigkeiten und den Beiträgen, die es zur Entwicklung der Region leisten kann, gerecht wird. Die Verbesserung des Profils Israels im Mittelmeer-Raum würde es dem Land ermöglichen, für Deutschland und andere Staaten Europas eine Handels- und Finanzbasis in der Region zu werden. Verbesserungen der politischen und sicherheitspolitischen Bedingungen im Nahen Osten stellen für beide Planungsstäbe eine wichtige Grundlage für künftige Vereinbarungen zu Sicherheitsfragen dar und könnten das Zustandekommen eines regionalen Dialogs über solche Fragen erleichtern.

Israel erkennt Deutschlands Beitrag zur Entwicklung des Mittelmeer-Raums an und dankt für seine Bemühungen sowie die der EU zur Beschleunigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und zum Prozess der regionalen Integration auf der Grundlage des Barcelona-Prozesses an.

Israel und die Europäische Union

Eine viele Generationen zurückreichende Geschichte jüdischen Lebens in Europa bildet die Grundlage der Beziehungen Israels zu diesem Kontinent, die in einem gemeinsamen Erbe und gemeinsamen Werten verwurzelt sind. Diese Beziehungen gründen auch auf der Tatsache, dass die Europäische Union und Israel freie Marktwirtschaften sind. Die Essener Erklärung, die von den Staats- und Regierungschefs 1994 verabschiedet wurde, verdankt sich der Initiative und Förderung Deutschlands. Diese Erklärung brachte zum ersten Mal den privilegierten Status zum Ausdruck, der Israel im Verhältnis zur Europäischen Union zukommt.

Gegenwärtig befassen sich Israel und die Europäische Union mit der Umsetzung eines Aktionsplans, auf den man sich im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik geeinigt hat. Wenngleich diese jüngste Entwicklung ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist, hat die privilegierte Partnerschaft zwischen Israel und Europa doch noch keine konkrete Form angenommen. Deutschland hat Israels Interessen in der Europäischen Union stets unterstützt und tritt für die weitere Einbindung Israels in den Gemeinsamen Europäischen Markt ein.

Bilaterale Herausforderungen

Im Laufe der vergangenen 40 Jahre haben Deutschland und Israel erfolgreich Brücken gebaut, die als Grundlage eines historischen Prozesses der gegenseitigen Verständigung dienen. Dieser Prozess läuft bereits seit langem und findet gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen statt – auf offizieller, zwischenstaatlicher Ebene und auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft und der einzelnen Bürger. Wir sind davon überzeugt, dass es im Interesse beider Länder liegt, sich auf den Dialog zwischen den Zivilgesellschaften und den Bürgern zu konzentrieren. Dies ist keine zufällige Wahl, sie liegt vielmehr in der moralischen, historischen, kulturellen und menschlichen Dimension begründet, die die Beziehungen zwischen unseren Ländern so einzigartig macht und die über die üblicherweise zwischen zwei Regierungen stattfindenden Erörterungen hinausgehen. Wir glauben, dass wir unsere so umfassenden und vielfältigen bilateralen Beziehungen gerade dadurch erhalten und weiterentwickeln können, dass wir den Fokus auf die Völker und die Bürger ausrichten, die doch die Träger sowohl der Erinnerung an das Vergangene als auch der Hoffnung auf die Zukunft sind.

Das Papier wurde erarbeitet in den Monaten Juli und August 2005 und finalisiert am 8. September 2005 in Tel Aviv durch die beiden Leiter der Planungsstäbe. Für den israelischen Plannungsstab war Eli Lev (unter Beteiligung der israelischen Botschaft in Berlin) federführend, für den deutschen Planungsstab waren es Burghard Brinksmeier und Joscha Schmierer.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 77‑81

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