Im Irrgarten der Asymmetrie
Eine politiktheoretische Expedition auf unübersichtliches Terrain
Russische Soldaten in der Ukraine, die Enthauptungsvideos des „Islamischen Staates“, die Terroranschläge auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo: In den asymmetrischen Kriegen des 21. Jahrhunderts muss westlichen Gesellschaften das Paradox gelingen, das „richtige Maß“ zu finden – und zuweilen mit zweierlei Maß zu messen.
Als die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz über hybride Kriegführung referierte, sprach sie von einer „der wesentlichsten Zukunftsfragen der Sicherheitspolitik“. Das fundamental Neue seien, so von der Leyen, „die Kombination und die Orchestrierung dieses unerklärten Krieges, bei dem erst die Gesamtbetrachtung der einzelnen Mosaikstücke den aggressiven Charakter des Plans entlarvt“. Diese neuartige Kriegführung erfordere neuartige Gegenmaßnahmen: „Es sind die unkonventionellen und vielfältigen Mittel des hybriden Krieges, die unkonventionell und vielfältig bekämpft werden müssen.“
Wie aber kann eine offene Gesellschaft unkonventionell und vielfältig auf den hybriden Krieg reagieren? Muss sie selbst zu unkonventionellen Mitteln greifen, um sich zu verteidigen? Sollte sie also ihrerseits verdeckte Kämpfer ohne staatliche Uniformen und Hoheitsabzeichen in die irregulären Kämpfe schicken, ganz so, wie sie als prorussische Separatisten in der Ostukraine operieren?
Sollte sie ihren Verteidigungskampf in die Sphären der Medien, der sozialen Netzwerke und gar des Kulturellen hineintragen, in denen der „Islamische Staat“ mit seinen brutalen Enthauptungsvideos und seinen terroristischen Angriffen auf Karikaturisten und „Ungläubige“ die westliche Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit attackiert? Und welche dieser Mittel kann und will diese Gesellschaft einsetzen, ohne dadurch ihre Offenheit aufzugeben, die sie doch gerade zu verteidigen strebt?
Willkommen im Dschungel
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, findet in Politik- und Strategiedokumenten derzeit nur wenig Orientierung. Auch die neue amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie, die Barack Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice Anfang Februar vorgestellt hat, macht um diese Fragen einen Bogen. Zwar verspricht Präsident Obama in seinem Vorwort eine „Vision“ für eine Sicherheitspolitik in einer „komplexen Welt“. Doch bleiben die entscheidenden Fragen unbeantwortet: Wie soll die offene Gesellschaft auf die Widersprüche in der „komplexen Welt“ reagieren? Wie soll sie sicherstellen, dass sie, in Obamas Worten, „die Fähigkeiten hat, die sie benötigt, um im Ausland auf Bedrohungen reagieren zu können, und dabei zugleich in Übereinstimmung mit unseren Werten handelt“?
Unter den Orientierungsangeboten auf dem unübersichtlichen Sicherheitsterrain des 21. Jahrhunderts erscheint vor allem die Unterscheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen hilfreich. Kriege können als symmetrisch beschrieben werden, wenn sich die Kontrahenten wechselseitig als Gleiche anerkennen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der konventionelle Staatenkrieg der europäischen Geschichte.
Als asymmetrisch hingegen lassen sich Kriege bezeichnen, in denen die Kontrahenten einander als ungleichartig wahrnehmen – etwa in der Auseinandersetzung zwischen einem Staat und einem Terrornetzwerk oder zwischen Imperium und Staat. Entscheidend ist, dass in symmetrischen und asymmetrischen Konstellationen unterschiedliche Handlungslogiken und Eskalationsdynamiken wirken.
Diese zu verstehen, ist eine Voraussetzung dafür, die Dilemmata auf dem Sicherheitsterrain des 21. Jahrhunderts zu meistern. Denn hier überlagern sich Symmetrien mit Asymmetrien – gleichsam ein „Zwischenterrain“ zwischen einer symmetrischen und einer asymmetrischen Kriegführung.
Das Terrain des asymmetrischen Krieges gleicht einem Dschungel. Nicht nur geografisch führt dieser Krieg die regulären Soldaten staatlicher Armeen auf schwer zugängliches, unübersichtliches Gelände: in die sumpfigen Wälder Vietnams, in die Wüste des Irak, in die Berge Afghanistans. Auch politisch-strategisch und begrifflich-konzeptionell liegt sein Terrain jenseits des vertrauten, überschaubaren Gebiets, das Europa seit dem Westfälischen Frieden 1648 nach Art der Gartenbaukunst politisch und theoretisch zu kultivieren versucht hatte: jenseits des gehegten, geordneten und begrenzten Barockgartens des symmetrischen Krieges.
Geometrie der Gleichartigkeit
Der Barockgarten, der bis ins 18. Jahrhundert den europäischen Gartenbau dominierte, ist mit seinen gradlinigen Alleen, seiner Ausrichtung auf den Fürstensitz und seiner symmetrischen Anordnung, durch die er die Mannigfaltigkeit der Natur einer strengen Geometrie der Gleichartigkeit unterwirft, das Abbild des symmetrischen Krieges, wie er vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein die kriegshistorische und kriegstheoretische Landkarte Europas prägte. In diesem Krieg herrscht Gleichartigkeit vor. Im Mittelpunkt der „Gartenordnung“ des symmetrischen Krieges stehen souveräne Staaten. Direkte, lineare Strategien dominieren die Kriegführung.
Die symmetrische Ordnung dieses Barockgartens gerät seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter Druck. Drei Entwicklungen tragen dazu bei, dass die symmetrische Gartenanlage von Asymmetrien untergraben und überwuchert wird. Erstens wachsen Ungleichartigkeiten und Ungleichgewichte im internationalen System. Das Wettrüsten während des Kalten Krieges führt dazu, dass die USA und die Sowjetunion sich von den anderen internationalen Akteuren uneinholbar absetzen, bis schließlich nach Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 die USA als einzige Supermacht an der Spitze einer nunmehr unipolaren, hegemonialen bzw. imperialen Weltordnung verbleiben, die der Geometrie des Westfälischen Staatensystems entwächst.
Zweitens verlieren die Staaten auch gegenüber sub- und transnationalen Akteuren ihren wie selbstverständlich beanspruchten Platz in der Mitte des globalen „Gartens“. Partisanen, Befreiungskämpfer, Piraten, Warlords, Terroristen, Milizionäre, Separatisten und andere Profiteure von Entstaatlichung und Staatszerfall tragen dazu bei, dass die auf Staatlichkeit beruhende internationale Ordnung erodiert.
Drittens verbreiten sich mit dem „indirekten Vorgehen“ und verwandten Methoden der „nichtlinearen“ Kriegführung unkonventionelle Strategien wie die Guerilla und der transnationale Terrorismus. Deren Entdeckern und ihren Nachahmern geht es darum, die geraden, breiten „Alleen“ der linearen Strategie auf verschlungenen Pfaden zu umgehen und zu durchkreuzen.
Wie sieht der zukünftige nicht- bzw. postsymmetrische Krieg konkret aus? Nehmen wir zur Veranschaulichung einmal das bekannte Beispiel vom Kampf Davids gegen Goliath und den asymmetrischen Angriff mit der Steinschleuder. Goliaths schwere Rüstung schützt den Riesen nicht, sondern behindert eine schnelle und flexible Reaktion. Doch wie würde Goliath – oder ein Nachfolger – sich verhalten, wenn es zu einer Wiederholung dieses ungleichen Zweikampfs käme? Würde er sich wieder auf eine schwere, womöglich noch schwerere Rüstung und auf ein noch längeres Schwert verlassen und also die Asymmetrie der Kraft, von der er zu profitieren meint, durch Asymmetrierung weiter vergrößern? Oder würde er sich eher der Kampfweise Davids anpassen, um flexibler, unkonventioneller und schneller operieren zu können? Würde er also auf eine Resymmetrierung der Strategie und der Organisationsform setzen, was ihn freilich dazu zwänge, sich von seinem soldatischen Selbstverständnis und Ethos zu verabschieden?
Entgrenzung und Eskalation
Jenseits der Asymmetrien der Kraft, der Organisationsform und der Strategie können in asymmetrischen Konstellationen auch Asymmetrien der Entschlossenheit, der Verwundbarkeit, der Selbstbindung, der Legitimität, des Raumes und der Zeit Bedeutung erlangen. Indem Goliath und David diese Asymmetrien nutzen und manipulieren, stoßen sie eine asymmetrische Eskalationsspirale an, die im Gegensatz zu dem Ringen und Wettrüsten in symmetrischen Konstellationen innere Mechanismen und Anreize zur Mäßigung, Blockierung und Begrenzung, etwa durch reziproke Formen der (Selbst-)Bindung, nicht kennt. Die Asymmetrie führt tendenziell zur weiteren Asymmetrierung.
Der asymmetrische Krieg neigt seiner inneren Dynamik nach zur totalen Entgrenzung und Eskalation. Er breitet sich über das gesamte Kriegsterrain aus und dringt in jede gesellschaftliche Sphäre vor, in der die Nutzung und Manipulation von Asymmetrien den Kriegsparteien nützlich erscheinen. Das schließt die Sphären des Zivilen und Humanitären, des Virtuellen und Visuellen, des Moralischen und Rechtlichen, des Ideellen und Sakralen sowie des Kulturellen und Satirischen potenziell mit ein.
David taucht in der anonymen Masse des realen und virtuellen Publikums unter, um von dort aus verdeckt zu operieren und zu agitieren. Goliath greift zur Massenüberwachung und zu Präzisionswaffen, um den Gegner zu lokalisieren und zu neutralisieren. Die Rollenverteilung zwischen den Kämpfenden gerät dabei selbst zum Gegenstand des Kampfes: Wem es gelingt, sich in der Rolle Davids zu präsentieren, der darf mit Sympathien und Unterstützung für den Schwachen gegen den hässlichen Riesen rechnen. Schließlich erstreckt sich der Kampf über ein entgrenztes Dschungelterrain, auf dem die ungleichen Kämpfer einander fortlaufend zur Erkundung, Vergrößerung und Nutzung von Asymmetrien provozieren.
Angesichts dessen fordert Ursula von der Leyen in ihrer erwähnten Münchner Rede, Deutschland solle den hybriden Herausforderungen „mit dem richtigen Maß“ begegnen. Auch Barack Obama rät in seinem Vorwort für die neue Nationale Sicherheitsstrategie zu einer maßvoll ausgewogenen Antwort auf die Herausforderungen der „komplexen Welt“ und wirbt für das „vielfältige und ausbalancierte Prioritäten-Set“ der neuen Strategie.
Wo aber liegt das richtige Maß? Was sind angemessene und ausbalancierte Reaktionen auf hybride, komplexe Herausforderungen, die teils symmetrisch, teils asymmetrisch sind? Zunächst einmal wird sich die Sicherheitsforschung daran gewöhnen müssen, asymmetrische und symmetrische Herausforderungen zusammen zu analysieren – und dabei auch die Wechselwirkungen zwischen beiden. Das große Asymmetrie-Interesse im jüngeren Kriegsdiskurs darf nicht dazu verführen, nur noch den Dschungel, nicht aber mehr den symmetrischen Barockgarten wahrzunehmen und zu erkunden. Denn es ist nicht anzunehmen, dass letzterer vollständig und für alle Zeiten von der theoretischen und politischen Landkarte verschwindet.
Der Barockgarten kam während der europäischen Gartenrevolution des 18. Jahrhunderts zwar tatsächlich aus der Mode, verschwand jedoch keineswegs überall von der Landkarte. Ähnlich wie in der damaligen Gartenkunst verschwimmen auf dem hybriden und komplexen Gebiet der Kriegskunst des 21. Jahrhunderts symmetrische mit asymmetrischen Elementen, geometrische mit naturwüchsigen Prinzipien und hegende mit entgrenzenden Tendenzen.
Den Krieg neu ordnen
Um einer einseitigen Verengung des Blickes vorzubeugen, hat die Sicherheitsforschung künftig das angemessene Maß zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu wahren. Zur Bezeichnung eines solchen angemessenen Maßes verwendeten die Griechen in der Antike das Wort „symmetría“.
Dieser ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Symmetrie“ entsprechend, die sich aus den Teilen sýn (= mit) und métron (= Maß) ergibt, ist es die entscheidende Herausforderung, jene Symmetrie, die infolge der historischen Umbrüche und Asymmetrierungsschübe nach 1991 und nach dem 11. September 2001 unter- und verlorengegangen ist, durch ein neues angemessenes Maß auf höherer Ebene wieder herzustellen, also eine neue „Syn-Metrie“ als „Wohlgeordnetheit“ im Verhältnis zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu bestimmen und zu verwirklichen.
Als Leitmetapher auf der Suche nach dieser neuen Syn-Metrie bieten sich weder der Barockgarten noch der Dschungel an. Der Anforderung an eine Metapher des zugleich symmetrischen und asymmetrischen Krieges kommt jener Garten am nächsten, der in der Gartenrevolution des 18. Jahrhunderts den französischen Barockgarten als Leitmodell ablöste: der englische Landschaftsgarten. In ihm verbinden sich die Extreme auf eine vermittelnde Weise, sodass ihm im Rahmen eines politik- und kriegstheoretischen Gesamtgeländebildes der mittlere Platz zwischen dem symmetrisch geordneten Barockgarten und dem asymmetrisch wuchernden Dschungel zukäme.
Und natürlich hat nicht nur die außen- und sicherheitspolitische Forschung, sondern auch die Politik selbst nach dem richtigen Maß zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu suchen. Einfache Antworten und Lösungen, wie reine Symmetriker und reine Asymmetriker sie vorschlagen, sind insbesondere dann unangemessen, wenn sie zu einseitigen Entscheidungen zwischen ziviler Konfliktbearbeitung und militärischer Intervention, zwischen Staatsaufbau und Widerstandsbekämpfung, zwischen Soft Power oder Hard Power führen.
Die Dilemmata, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Symmetrien und Asymmetrien ergeben, treten insbesondere da zutage, wo das symmetrische Selbstverständnis der Staatengemeinschaft mit den Asymmetrien in ihrem Außen- und Binnenverhältnis kollidiert – etwa in ihrem Verhältnis zu zerfallenen Staaten, nichtstaatlichen Akteuren, aus dem Kreis der Staatenfamilie ausgeschlossenen so genannten „Schurken“ sowie imperial auftretenden Mächten.
Beispiele für den Streit zwischen Symmetrie und Asymmetrie sind etwa der Kampf der Ukraine um ihr Selbstbestimmungsrecht innerhalb des von Russland beanspruchten „Einflussbereichs“ oder die Auseinandersetzung um die Responsibility To Protect. Denn dieser umstrittenen internationalen Norm zufolge besteht ungeachtet des symmetrischen Prinzips der gleichen Souveränität der Staaten ein – asymmetrisches – Interventionsrecht, wenn nicht gar eine Interventionspflicht der Staatengemeinschaft.
Das Beste aus beiden Welten
Drittens wird auch die operative Strategie einschließlich Konfliktprävention und Friedenssicherung das richtige Maß auf dem Terrain zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu suchen haben. Die Gegner der westlichen Gesellschaften haben das längst erkannt, gleichgültig, ob es sich bei ihnen um ursprünglich nichtstaatliche oder staatliche Kontrahenten handelt. So ist der Vorstoß der Terrormiliz „Islamischer Staat“ auf das irakisch-syrische Grenzgebiet auch als Vorstoß auf syn-metrisches Terrain zu verstehen: Von ihrer ursprünglich nichtstaatlichen Organisationsform eines irakischen Ablegers des Al-Kaida-Netzwerks herkommend, bewegte sich der „Islamische Staat“ in Richtung einer vergleichsweise sichtbaren, hierarchischen und kohärenten, jedoch nur quasi-, halb- oder protostaatlichen Formation.
Diese syn-metrische Formation erlaubt es dem „Islamischen Staat“, dies- und jenseits der Grenze zwischen Symmetrie und Asymmetrie die Vorteile auszunutzen, die sich aus der Verbindung beider ergeben: eine staatenübergreifende Semi-Territorialität, ein transnational rekrutiertes Paramilitär sowie ein halbformalisiertes Spenden-, Erpressungs- und „Steuer“-Wesen, das sich „glokal“ mit dem kriminellen Handel von Bodenschätzen, Geiseln und Beutekunst vernetzt.
Zeitgleich mit den Kämpfern des „Islamischen Staates“ stießen von der „anderen“ Seite der Syn-Metrie, also von der Staatlichkeit herkommend, die als „prorussische Separatisten“ getarnten Streitkräfte Russlands ohne Hoheitsabzeichen auf das Terrain zwischen Symmetrie und Asymmetrie vor, das sich in ihrem Fall über die Krim und die Ostukraine erstreckt.
Während sich die IS-Milizionäre strategisch-operativ in Richtung der Staatlichkeit bewegten, gingen die russischen Kräfte den umgekehrten Weg: Sie tauschten ihre vormalige Sichtbarkeit, Hierarchie und Kohärenz als reguläre Truppen einer Staatenarmee – teilweise – gegen die Unsichtbarkeit, Netzwerkstruktur und Flexibilität nichtstaatlicher, dezentraler Kampfgruppen ein, um die Vorteile beider miteinander zu verbinden. Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin jede Verantwortung für diese irregulären Grenzübertritte bestritt – oder besser gesagt: gerade weil er sie bis zum März 2015 so nachdrücklich zurückwies –, entsprach der Vorstoß auf die Krim und in die Ostukraine den Direktiven, die sein Generalstabschef Waleri Gerassimow ein Jahr zuvor für die asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts ausgegeben hatte.
Um solchen Vorstößen künftig angemessen begegnen zu können, wird es darauf ankommen, ihren syn-metrischen Charakter zu verstehen und strategisch-operativ das richtige Maß im Umgang mit ihnen zu finden. Solange die entsprechenden Dilemmata aber begrifflich nicht durchdrungen sind, werden die Verteidiger der symmetrischen Ordnung darauf angewiesen bleiben, die Vorstöße ihrer Kontrahenten auf dem Terrain zwischen Symmetrie und Asymmetrie reaktiv und situativ zu parieren, statt präventiv im Rahmen angemessener Gesamtstrategien zu agieren.
Viertens stellt die Suche nach dem richtigen Maß die offene Gesellschaft insgesamt vor erhebliche Herausforderungen. Denn die Suche nach angemessenen Antworten auf die partielle Asymmetrierung des Krieges führt über die klar umgrenzten Felder der staatlichen Politik und des staatlichen Militärs hinaus, denen die sicherheitspolitischen Probleme entgleiten und entwachsen. An der Stelle, wo der symmetrische Staatenkrieg einst seine Grenzen fand, bleibt ein Kontinuum der Unsicherheit zwischen Krieg und Frieden zurück.
Leben mit zweierlei Maß
In diesem Kontinuum die Balance zu halten, wird letztlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. So haben Gesellschaften ihr Verhältnis zu Krieg und Frieden neu festzulegen, indem sie unter Bedingungen der Nicht-Symmetrie den Zweck, das Ziel und die Mittel ihrer Kriegführung und Friedenssicherung neu definieren. Jenseits des Politisch-Strategischen stellt sich ihnen dabei die grundsätzliche Frage, wie sie leben und ihre Lebensweise verteidigen oder gar „exportieren“ wollen: Wofür und auf welche Weise – symmetrisch oder asymmetrisch – darf, soll und muss (nicht) gekämpft werden? Solange diese Frage gesellschaftlich nicht verhandelt wird, können Politik und Militär schwerlich das richtige Maß bei der Begegnung mit nichtsymmetrischen Kriegen und Bedrohungen wahren.
Dabei geht es letztlich um das Maß zwischen politisch-normativen und strategisch-operativen Erfordernissen, deren Dilemmata die am zukünftigen Krieg Beteiligten – wie auch die vermeintlich Unbeteiligten – kaum noch widerspruchsfrei werden auflösen können. Stattdessen werden sie die schwierige und unbefriedigende Aufgabe zu bewältigen haben, zwischen ihnen eine angemessene Balance zu finden, die eine effektive Verteidigung der eigenen Lebensweise erlaubt und zugleich ein Abgleiten auf der schiefen Ebene der Asymmetrie verhindert. Letztlich könnte es sich als entscheidend erweisen, mit normativen und operativen Inkonsistenzen, Aporien und Doppelstandards leben zu lernen.
Ein solches Leben mit zweierlei Maß, also nach Maßgabe von Symmetrie und Asymmetrie, ist allerdings für die symmetriegepolten, rechtsstaatlich verfassten, völker-, kriegs- und menschenrechtlich verankerten offenen Gesellschaften des Westens mit existenziellen Problemen verbunden.
Die Probleme entstehen dort, wo diese Gesellschaften sich genötigt sehen, unter dem Druck der Asymmetrierung zentrale zivilisatorische Errungenschaften in ihrem Umgang mit dem Krieg neu zu beurteilen, um sie in veränderter Form zu bewahren und zu verteidigen: das staatliche Gewaltmonopol etwa, die rechtliche Einhegung des Krieges, die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant, die Grenzziehung zwischen Soldat und Zivilist. Ob und eventuell wie solche Grenzziehungen und die durch sie geschützten Prinzipien aus der symmetrischen Ära in das postsymmetrische Zeitalter hinübergerettet werden können, wird zu diskutieren sein.
Dabei stellt sich auch die Frage, ob und wie eine Gesellschaft ihre regulären Streitkräfte in Zukunft weiterhin an die symmetriebezogenen normativen und organisatorischen Grenzen des Staatenkriegs gebunden sieht. Vor allem das Berufsbild des Soldaten ist neu zu bestimmen und in ein neues Verhältnis zu anderen Berufen zu setzen, etwa zu Polizisten, Entwicklungshelfern, Geheimdienstmitarbeitern, Diplomaten, Sozialarbeitern, IT- und Social-Media-Spezialisten, Journalisten, Religionswissenschaftlern und Karikaturisten. Das betrifft auch das Selbstverständnis, das Ethos und die Konstitution der zukünftigen Kämpfer und Kämpferinnen, die womöglich keine regulären, uniformierten Soldaten im symmetrischen Sinne mehr sein werden – und darüber hinaus das Selbstverständnis, das Ethos und die Konstitution derjenigen Gesellschaft, die diese Kämpfenden in die künftigen Kriege führt.
Im Ringen um das richtige Maß bei der Bewältigung der sicherheitspolitischen Dilemmata des 21. Jahrhunderts wird die offene Gesellschaft darüber zu streiten haben, wo sie sich zwischen dem symmetrischen und dem asymmetrischen Ordnungs- und Kriegsmodell verortet. Der Diskussionsprozess im Vorfeld des neuen Weißbuchs bietet hierzu eine gute Gelegenheit. Verzichtet er auf klare Begriffe, um das hybride und komplexe Zwischenterrain zu durchdringen, auf dem sich Symmetrien und Asymmetrien überlagern, so drohen sich Politik, Militär und die offene Gesellschaft insgesamt auf dem Sicherheitsterrain des 21. Jahrhunderts zu verlaufen und zu verlieren.
Felix Wassermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorie der Politik an der HU Berlin. Sein Buch „Asymmetrische Kriege“ erscheint im Mai im Campus-Verlag.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 52-59