Im Auge des Sturms
Nicht mitgegangen, aber mitgefangen: Israels Blick auf den Arabischen Frühling
Die wenigsten Israelis konnten der Euphorie angesichts der Umbrüche in Nordafrika viel abgewinnen. Vor allem der Zerfall von Staaten und die daraus entstehenden Gefahren bereiteten Jerusalem Kopfzerbrechen. Wie kann Israel strategische Vorteile wahren, sicherheitspolitische Verstrickungen vermeiden und einer Isolation des Landes entgegenwirken?
Kaum einer der Staaten, die nicht direkt in die Geschehnisse des Arabischen Frühlings involviert sind, spürt dessen Auswirkungen so intensiv wie Israel: Nur einen metaphorischen Steinwurf von Jerusalem entfernt, versinkt Syrien im Bürgerkrieg, geraten die prekären Balancen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Libanon, Irak und in Jordanien durcheinander und wird in Ägypten ein Machtkampf zwischen der alten etatistischen und säkularen Herrschaftsschicht und einer neuen islamistischen Führungselite ausgetragen.
All dies scheint geeignet, die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien zu gefährden und damit das Fundament, auf dem Israels strategische Ausrichtung und sein wirtschaftliches Wohlergehen wesentlich beruhen; zudem könnte es die vom Iran geführte „Achse des Widerstands“ stärken.
Die Beunruhigung in Jerusalem ist nachvollziehbar, denn Israel ist den Folgen der Aufstände, deren neuen Allianzen und unvorhergesehenen Konsequenzen unmittelbar ausgesetzt. Hoch entwickelte Waffen finden inzwischen ihren Weg aus Gaddafis Lagern in die Sinai-Halbinsel und tauchen im Besitz von Hamas, Hisbollah und Palästinensischem Islamischem Dschihad in Gaza wieder auf. Der syrische Bürgerkrieg greift auf den Libanon, Jordanien und den Nordirak über; Al-Kaida ist in erhöhtem Maß in Syrien aktiv. Die neue Macht der Muslimbruderschaft in Ägypten wird die Verhältnisse nicht nur innerhalb der sunnitischen Welt, sondern auch zwischen Sunniten und Schiiten verändern und Israels Manövrierfähigkeit im Umgang mit deren palästinensischer Bruderorganisation Hamas einschränken.
Siegeszug zur Freiheit
Für die Aufstände in Nordafrika und Nahost verwendeten Europäer und Amerikaner schnell den positiv besetzten Ausdruck Arabischer Frühling. Der Begriff weckt Assoziationen an den Prager Frühling von 1968 und an die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus. Man interpretierte die Demonstrationen in Kairo oder Tunis als lange überfälligen Aufschrei einer zum Schweigen gebrachten Gesellschaft, die sich „nun endlich Gehör verschaffte und das Recht für sich in Anspruch nahm, zu den modernen Nationen dieser Welt zu gehören“.1
Dass eine junge, durch moderne Medien vernetzte Generation die alten Diktatoren beiseite fegte, wurde als arabische Version westlicher Freiheitsrevolutionen interpretiert. Kaum jemandem kam in den Sinn, dass sich die Islamisten zur wesentlichen politischen Kraft und zu den Gewinnern der Aufstände entwickeln könnten. Zu gut passten sie in das Bild eines „Siegeszugs zur Freiheit“, der passenderweise begann, als der Westen dringend Selbstvertrauen benötigte. Wenn die Demokratie endlich auch in der MENA-Region verankert würde, dann stünde ihr nichts mehr im Wege. Radikale Islamisten und Dschihad-Ideologen tauchten nur noch als Relikte einer vergangenen Zeit auf, die sich der Strahlkraft des Fortschritts auf Dauer nicht würden widersetzen können.
Die meisten Israelis konnten solcher Euphorie nicht viel abgewinnen – auch wenn sie sich der Vorzüge der Demokratie für den Aufbau eines dauerhaft stabilen und friedlichen Nahen Ostens durchaus bewusst waren. Und ihre Skepsis sollte sich nicht nur bestätigen, sie war noch untertrieben. Die jungen, urbanen, liberalen und säkularen Kräfte hatten zwar die alten Diktatoren gestürzt; doch die Früchte dieses Erfolgs konnten sie nicht ernten. Es waren die Islamisten, die mit Ausnahme Libyens bisher jede Wahl gewonnen haben und die auch unter den Aufständischen in Syrien und dem Jemen eine maßgebliche Rolle spielen.
Dabei ist es nicht das Ende der Autokratien alten Stils, das Jerusalem Kopfzerbrechen bereitet. Viel problematischer ist der beginnende Staatszerfall, fehlt es den Regierungen doch an Handlungsfähigkeit, den Staatsgefügen an Legitimität und damit den Bevölkerungen an Sicherheit. Es entstehen immer mehr „unterregierte“ Räume, in denen prämoderne, neomittelalterliche, nichtstaatliche Herrscher wie Stammesführer, Warlords und kriminelle Banden oder transnationale terroristische Netzwerke mit organisatorischen Fähigkeiten wie Hisbollah oder Hamas die Herrschaft übernehmen.
Ebenso wie die meisten Länder südlich der Sahara – dem Gebiet mit der größten Dichte an Failed States – entstanden die arabischen Staaten nicht am Ende eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses von Rechtsstaatlichkeit und nationaler Identität, sondern als Ergebnis der raschen Auflösung der Kolonialreiche. Sie wurden Staaten, bevor sie sich zu Nationen entwickeln konnten. Bis heute sind sie kaum in der Lage, die wesentlichen Güter für alle ihre Bürger bereitzustellen oder den Konflikt zwischen moderner nationaler Identität und prämodernen ethnischen Loyalitäten zu lösen.
Libyen – wo es mindestens 140 verschiedene Stämme gibt, von denen die meisten miteinander verfeindet sind – ist zu einem der wichtigsten Waffenlieferanten geworden. Im Jemen, in Syrien und Ägypten ist das bis zu den Aufständen (weitgehend) existierende Gewaltmonopol des Staates erodiert oder gänzlich zusammengebrochen. Unter diesen Umständen könnte die Sinai-Halbinsel zu einem veritablen Sicherheitsproblem für Israel werden. Sie wurde 1979 im Rahmen des Friedensvertrags als entmilitarisierte Zone – und damit als Gebiet mit absichtlich reduzierter Souveränität – an Ägypten zurückgegeben. Da beide Seiten die konventionellen Streitkräfte des jeweils anderen fürchteten, einigte man sich darauf, im unmittelbaren Grenzgebiet nur wenige Truppen mit leichter Bewaffnung zu stationieren. So war Ägypten nie in der Lage, die rund 61 000 Quadratkilometer große Fläche vollständig zu kontrollieren. Die etwa 300 000 dort lebenden Beduinen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit Tourismus und Fischfang, aber auch mit Drogen- und Menschenschmuggel verdienen, genossen faktisch Autonomie.
Im Sinai – und seit der Machtübernahme der Hamas 2005 auch im Gaza-Streifen – ist der Umfang krimineller Aktivitäten und des Waffenschmuggels enorm gewachsen, darunter häufiger auch moderner Flugabwehr- und Boden-Boden-Raketen. Im Mai 2012 fingen ägyptische Behörden (die seit dem Sturz Mubaraks weit weniger effizient agieren) dort eine Lieferung hoch entwickelter Waffen ab, die für Gaza bestimmt waren. Laut israelischem Geheimdienst hatten die Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) schon größere Lieferungen erhalten. 2007 wurde ein Terroranschlag des PIJ in Eilat verübt. Im August 2011 wurden bei einem Attentat an der israelisch-ägyptischen Grenze acht Israelis getötet und 31 verletzt. Bei der anschließenden Schießerei kamen fünf ägyptische Grenzsoldaten ums Leben, was die Beziehungen zwischen den beiden Ländern enorm belastete. Anfang August überfielen Islamisten ägyptische Grenzsoldaten und töteten 16 Männer, bevor sie mit einem gestohlenen Panzerwagen die Grenze nach Israel durchbrachen und von israelischen Militärs getötet wurden. Wegen des Friedensvertrags von 1979 darf Israel keine Aufklärungsdrohnen im Sinai einsetzen und ist somit von der Effizienz ägyptischer Sicherheitskräfte abhängig. Das Länderdreieck am nördlichen Ende des Golfs von Akaba entwickelt sich zu einer der größten Gefahrenzonen in der Region.
Israel hat sich bisher defensiv verhalten und versucht, jegliches Risiko zu vermeiden. Dan Halutz, ehemaliger Stabschef der israelischen Armee, brachte die Haltung des politischen und Sicherheitsestablishments auf den Punkt: „Während eines Erdbebens lässt man sich nicht auf Abenteuer ein: Man stellt sich unter einen Türrahmen und bewegt sich nicht.“2
Diese Vorsicht ist in der Tat angebracht. Israel ist seinen Nachbarn militärisch und wirtschaftlich überlegen, aber gleichzeitig existenziell verwundbar; die politischen Entwicklungen in der Region sind unberechenbar, und die derzeitige Regierungskoalition ist instabil. Deshalb ist Israel bedacht, den Status quo zu erhalten, strategische Vorteile zu wahren, sicherheitspolitische Verstrickungen oder politische Experimente zu vermeiden und einer fortschreitenden Isolation des Landes in der Region entgegenzuwirken. Derzeit lassen sich vier einander verstärkende Prinzipien erkennen, mit denen man dies erreichen will.
Strategisch schweigen
Schon in den ersten Besprechungen während der unmittelbaren Aufstandsphase wurden Minister, Diplomaten und Offiziere auf ein „strategisches Schweigen“ verpflichtet. Das offizielle Israel hatte jeglichen Eindruck zu vermeiden, dass es sich in die inneren Angelegenheiten der arabischen Nachbarn einmischen oder gar für eine bestimmte Gruppierung Partei ergreifen wolle. Man war sich ganz offensichtlich der enormen Feindseligkeit gegenüber Israel und dem ausgeprägten Hang zu Verschwörungstheorien in der arabischen Welt bewusst. Jeder Reformer, der nur in den leisesten Verdacht geraten wäre, israelische Sympathien zu genießen, hätte sofort riskiert, als „zionistischer Kollaborateur“ und damit als politisch desavouiert zu gelten.
Man verstand aber auch, dass es in den Aufständen nicht um Israel ging. Zum ersten Mal seit der Entstehung Israels wurde eine nahöstliche Norm durchbrochen: Die Demonstranten hatten begriffen, dass die zahlreichen Notstandsgesetze und Geheimdienste in den meisten arabischen Staaten eben nicht der Bekämpfung des „zionistischen Feindes“ dienten, sondern der Unterdrückung der eigenen Bürger. Das war einer der Lichtblicke der Aufstände, und langfristig lässt das sogar auf einen Frieden hoffen.
Nicht zuletzt sagt Israels Zurückhaltung auch etwas aus über das Selbstverständnis des jüdischen Staates. Als militärisch überlegene und wirtschaftlich prosperierende Demokratie, die an Staaten mit zerrissenen Gesellschaften grenzt, wäre es in diesem historischen Moment der Aufstände nicht ganz abwegig gewesen, endlich die Demokratie als sichersten Weg zu Wohlstand und Frieden aktiv anzupreisen. Nur: Israel pflegt nicht das Selbstverständnis einer „City upon a hill“, einer regionalen Macht, die es als ihren zivilisatorischen Auftrag empfände, das universale Gut der Demokratie in der arabischen Nachbarschaft anzupreisen.
Als kleiner, junger und weitgehend auf sich selbst konzentrierter Staat, der erst vor Kurzem ein gewisses Maß an Wohlstand erreicht hat und in den exklusiven Kreis der OECD-Länder aufgenommen worden ist, hat Israel sich nie für das Geschäft der Demokratieförderung im Ausland berufen gefühlt. Im Gegenteil, Israels sicherheits- und außenpolitisches Establishment ist eher skeptisch, was die Aussichten eines erfolgreichen Aufbaus demokratischer Institutionen in den arabischen Ländern angeht.
Errungenschaften bewahren
In einer Situation, in der in allen Nachbarstaaten Israels Revolutionen, Unruhen oder gar Bürgerkriege stattfinden oder drohen, ist es Israels höchste Priorität, vier strategische Positivposten zu erhalten: An erster Stelle steht die Wahrung des Friedens mit Ägypten. Mit 82 Millionen Einwohnern ist es das größte und wichtigste arabische Land; es verfügt über eine schlagkräftige Armee, die von den USA ausgerüstet wird, und es war bis zum Friedensvertrag von 1979 Israels stärkster Gegner. Wohl blieb der Frieden zwischen Israel und Ägypten „kalt“ – engere Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften, die viele Israelis sich durchaus wünschten, sind nie entstanden und gewiss von Kairo nicht aktiv gefördert worden.
Dennoch hielt der Frieden, und mehr noch: Ägypten hat sich stets als guter Vermittler in den Beziehungen zu den Palästinensern und als verlässlicher Partner bei der Bekämpfung von Terrorismus und bei allen Angelegenheiten, die Energieversorgung oder Schifffahrt betreffen, erwiesen.
Der Sturz Mubaraks und der Aufstieg salafistischer und islamistischer Parteien stellen Israel vor ein Dilemma. Einige Islamistenführer haben sich öffentlich für eine Auflösung des Friedensvertrags ausgesprochen; viele wollen den Gaslieferungsvertrag an Israel nicht neu verhandeln, sondern kündigen, und die meisten stellen in der Öffentlichkeit einen kaum verhohlenen Antisemitismus zur Schau.3
Bislang hat Israel sich nicht zu Kommentaren hinreißen lassen und eher eine Haltung „forcierter Normalität“ gezeigt. Schließlich ist Jerusalem darum bemüht, den ohnehin schon leidenschaftlichen ägyptischen Nationalismus nicht noch weiter anzuheizen. Den israelischen Streitkräften ist klar, dass ägyptische, palästinensische und globale Dschihadisten versuchen, vom Sinai aus Terroranschläge gegen Israel zu verüben, um damit Gegenschläge und eine Krise zwischen Ägypten und Israel herbeizuführen. Bis heute haben sich weder Ägypten noch Israel in diese Falle locken lassen.
Israels zweiter wichtiger und unbedingt zu erhaltender Posten sind die Beziehungen zu Jordanien. Israel hat ein unmittelbares Interesse daran, dass das haschemitische Herrscherhaus nicht gestürzt und der 1994 geschlossene Friedensvertrag nicht untergraben wird. Wie vor ihm sein Vater König Hussein unterhält König Abdullah enge Beziehungen zu Israel; Jordanien unterstützt den Aufbau einer Verwaltung in den palästinensischen Gebieten, es verhindert aktiv eine Infiltration von Dschihadisten in die Westbank und unterbindet höchst effektiv Waffenschmuggel in die palästinensischen Gebiete. Das Königshaus aber gehört einer Minderheit an; die Mehrheit der Bevölkerung identifiziert sich eher und gerade nach den Erfolgen der Islamisten in Ägypten mit den palästinensischen und jordanischen Zweigen der Muslimbruderschaft.
Die Unruhen in den arabischen Ländern könnten also genau zu einer Zeit nach Jordanien übergreifen, in der die Stabilität des haschemitischen Königreichs so wichtig für den Frieden und die Sicherheit Israels und der gesamten Region ist wie nie zuvor. Mit dem Rückzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak wächst auch dort das Risiko eines Staatszerfalls, was ethnische und religiöse Gewalt, ein Wiedererstarken von Al-Kaida und eine Infiltration durch iranische Kräfte nach sich ziehen könnte.4
Sollte der Irak auseinanderfallen, dann wäre das kleine Königreich die einzige Pufferzone zwischen Israel und dem Chaos an Jordaniens längster östlicher Grenze.
Das dritte strategische Pfund, das Israel zu bewahren versucht, ist nicht in einem formellen Friedensvertrag verankert, jedoch von zentraler Bedeutung: Baschar al-Assad mag ein enger Verbündeter des Iran sein und die Hisbollah und Hamas aktiv unterstützen. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat Syrien jede direkte Konfrontation mit Israel konsequent vermieden. Mit dem Zusammenbruch des Assad-Regimes wäre auch die bislang ruhige Grenze zu Syrien gefährdet. Manche israelische Experten schließen nicht aus, dass Baschar al-Assad versuchen könnte, in einem letzten verzweifelten Versuch sein politisches Überleben durch einen Krieg gegen Israel zu sichern – denn so könnte er sich zum „Bezwinger des zionistischen Erzfeindes“ stilisieren. Sehr wahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Da Syrien über die größten Mengen an chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten verfügt, ist es aber auch nicht auszuschließen.
Das Chaos in Syrien kann dazu führen, dass größere Menschenmengen – seien es Flüchtlinge, Kämpfer oder auch vom Regime instrumentalisierte Demonstranten – versuchen, die Grenze nach Israel zu überqueren. Der 12. Mai 2011, an dem etwa hundert syrische und palästinensische Demonstranten die syrisch-israelische Waffenstillstandslinie auf den Golan-Höhen überqueren wollten, darf als Präzedenzfall gelten. Weniger akut, aber ebenfalls nicht zu unterschätzen ist eine Infiltration militanter Dschihadisten nach Syrien. Beides hat zu einer intensiveren Sicherung der Grenzen zwischen Israel und Syrien sowie dem Libanon geführt.
Als letztem strategischen Posten liegt Israel daran, die Politik einer begrenzten Abschreckung zu bewahren, die es mit dem Libanon-Krieg von 2006 gegenüber der Hisbollah und mit der Operation „Gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 gegenüber der Hamas etabliert hat. Nur: Faktisch hat Israel weder auf den anhaltenden Raketenbeschuss aus dem von der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen reagiert, noch hat es versucht, die Aufrüstung palästinensischer Milizen im Gaza-Streifen mit hoch modernen Waffen durch weitere größere Militäraktionen zu unterbinden. Zu groß ist die Furcht vor einer Eskalation, die zu einem Bruch mit Ägypten, einer Stärkung der radikalen Kräfte in der ganzen Region und womöglich zu weiteren Konfrontationen führen könnte, in die Israel hineingezogen würde.
Nukleare Aufrüstung verhindern
Israels Haltung ist also: konsequent schweigen und die Entwicklungen in den Nachbarländern scharf beobachten. Dabei sind nicht Jordanien, Ägypten oder Syrien, die Hisbollah oder die Hamas die größte Gefahr für die Sicherheit oder gar das Überleben Israels, sondern der Iran. Über dem Drama des Arabischen Frühlings, so fürchtet man in Israel, könnte die Staatengemeinschaft die dringendste Aufgabe vergessen, nämlich eine nukleare Aufrüstung des Iran zu verhindern. In diesem Sinne sind die arabischen Revolten eine unliebsame Ablenkung. Ein Nebenschauplatz, der ausreichend Potenzial birgt, Israel in kleinere oder größere Konflikte hineinzuziehen, wodurch weniger Ressourcen für das übergeordnete strategische Ziel zur Verfügung stünden, den Iran mit allen Mitteln – möglichst mit solchen der Diplomatie, notfalls auch mit „Zwangsmaßnahmen“ – davon abzuhalten, Nuklearmacht zu werden. Auch wenn Israel den hohen Preis einer Aufrüstung von Hamas und Hisbollah zahlen muss, so ist doch die erste Regel, sich nicht in bewaffnete Konflikte verwickeln zu lassen.
Neue Freunde finden
Israels unmittelbare Nachbarschaft wird unberechenbarer und feindseliger. Nicht zuletzt deshalb sucht Jerusalem nach neuen Partnern in der Region. Dieses vierte Leitprinzip in Reaktion auf die Ereignisse des Arabischen Frühlings ergibt sich aus der Einschätzung, dass die alten, von den USA geknüpften regionalen Bindungen dünner werden – dass sich aber aus der Neuausrichtung der Region auch neue Chancen ergeben.
Im östlichen Mittelmeer hat Israel vor allem in den vergangenen drei Jahren seine diplomatischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen besonders zu Griechenland und Zypern wesentlich intensiviert. Dabei erwies sich nicht nur die Entdeckung von größeren Erdgas- und Erdölvorkommen in seinen Hoheitsgewässern von Vorteil.
Die „Gereiztheit“ der Türkei gegenüber Israel, Zypern und Griechenland hat durchaus dazu beigetragen, dieser Annäherung Auftrieb zu verschaffen. Israel versucht also den Verlust seines ehemaligen Partners Türkei wettzumachen, indem es sich als „kreatives Zentrum“ und als Entwickler moderner Technologien und Infrastruktur für Griechenland und Zypern anbietet.
Eine zweite Möglichkeit zur Gewinnung neuer Partner ergibt sich mit dem Zerfall von Staaten in Ostafrika und im Nahen Osten. Dass Israel dem neu entstandenen Südsudan so schnell Hilfe angeboten hat, kann man als Wiederbelebung der „Peripherie-Strategie“ von Israels erstem Ministerpräsidenten David Ben Gurion verstehen. Da die arabischen Nachbarn den Staat Israel ablehnten, strebte Ben Gurion eine Intensivierung der Beziehungen zu nichtarabischen Staaten im Nahen Osten an. Die erste Auslandsreise nach der Unabhängigkeit des Südsudan im Juli 2011 führte dessen Präsidenten Salva Kiir jedenfalls nach Jerusalem. Begleitet wurde er von seinem Außen- und seinem Verteidigungsminister.
Obwohl der Südsudan als armer und fragiler Staat Ostafrikas vor gewaltigen Herausforderungen steht, bietet er Israel großes wirtschaftliches und diplomatisches Potenzial. Da er als südlicher Nil-Anrainer auch bei der Verteilung von Wasserressourcen mitzureden hat, verfügt er zudem über Druckmittel gegenüber Ägypten.5 Israel wiederum bietet dem Südsudan Hilfe auf den Gebieten Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung an.
Auch die Intensivierung der Beziehungen zu Griechenland und Zypern – und daneben auch zu den Berbern oder Kurden – ist Teil der „Strategie der Peripherie“. Gerade die Kurden, die nicht zuletzt dank der großen kurdisch-jüdischen Minderheit in Israel gute Beziehungen zum jüdischen Staat unterhalten, sind von besonderem Interesse. Sollte die ohnehin schwierige Kooperation zwischen den Parteien und Fraktionen im Irak zerbrechen, auf die man sich Ende 2010 geeinigt hatte, dann könnte der ohnehin schon weitgehend autonome kurdische Nordirak noch größere Autonomie oder gar seine Unabhängigkeit anstreben. In jedem Fall wird Israel versuchen, seine Beziehungen mit dieser nichtarabischen Insel relativer Freiheit und wirtschaftlicher Dynamik zu stärken, nicht zuletzt in seinem Bemühen, jeglichen iranischen Einfluss auf den Irak zu begrenzen.
Dr. AMICHAI MAGEN, Marc & Anita Abramowitz Senior Fellow and Head of Political Development, Institute for Counter-Terrorism (ICT), IDC Herzliya.
- 1Fouad Ajami: Demise of the Dictators. The Arab Revolutions of 2011, Newsweek, 14.2.2011, S. 18.
- 2Kommentar von Dan Halutz bei einem Vorbereitungstreffen der Herzliya-Konferenz, Januar 2011, Interdisciplinary Center (IDC) Herzliya.
- 3Siehe Robert S. Wistrich: Post Mubarak Egypt. The Dark Side of Islamic Utopia, Israel Journal of Foreign Affairs 1/2012, S. 23–32.
- 4Siehe Ned Parker: The Iraq We Left Behind, Foreign Affairs, März/April 2012, S. 94–110.
- 5Daniel Pipes: South Sudan, Israel’s New Ally, The Washington Times, 3.1.2012.
Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 80-87