Illusion der Gleichheit
In Amerikas Städten vertiefen alte, unsichtbare Grenzen die Spaltung der Gesellschaft.
Das ist nicht Oakland“, sagt der Polizist auf der Polizeiwache im Eastmont Town Center und lacht. Er hatte mich gefragt, wo ich wohne: Montclair, durchaus ein Stadtteil von Oakland. Das liegt in den Hills und grenzt an den East Bay Regional Park im Osten, viele der Häuser dort haben einen Blick auf die Bay, San Francisco und das Golden Gate. Wer in Montclair wohnt, gehört zumindest finanziell zur amerikanischen Mittelschicht.
Nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, in den Flatlands von Oakland, liegt das Einkaufszentrum, in dem das Oakland Police Department eine Außenstelle unterhält. „Ich zeige dir gleich mal das richtige Oakland“, sagte der Beamte, und also fuhr ich an jenem Freitagabend mit ihm Streife. Es wurde eine lange Nacht. Oakland hatte ein massives Problem mit Gangs, Schießereien und einer hohen Mordrate von jährlich deutlich über 100 Toten.
East Oakland ist ein vor allem von Afroamerikanern und Latinos bewohntes Stadtviertel, verarmt, heruntergekommen, vergessen. Gewalt, Drogenmissbrauch, Prostitution, Bandenkriminalität: Dieser Teil der Stadt war lange Zeit mehr als verrufen. Als ich Ende der 1990er Jahre von San Francisco nach Oakland zog, wurde ich ermahnt, East und West Oakland zu meiden. Wenn man nach den Gründen forscht, stößt man auf „Redlining“ – einen Begriff, mit dem die meisten Amerikaner kaum etwas anfangen können; dabei hat er ihre Gesellschaft im 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt.
Redlining war eine imaginäre Stacheldrahtziehung in amerikanischen Städten und Gemeinden. Die Regierung in Washington hatte dabei durch den sogenannten National Housing Act von 1934 Nachbarschaften in A, B, C und D unterteilt. A stand für eine rein weiße Nachbarschaft, das galt als erstrebenswert für die Mittelklasse. Schon eine farbige Familie in der Gegend drückte die Einsortierung auf B. Das hatte gravierende Folgen – nicht nur, dass eine A-Straße rein „weiß“ sein sollte, die anderen Stadtteile wurden gezielt benachteiligt. Afroamerikaner erhielten für den Häuserkauf in A- oder B-Gegenden keine staatlich geförderten Hypotheken, konnten für Häuser keine Versicherungen abschließen. Sie wurden so in Stadtteile gedrängt, in denen weniger geschäftlich und städtebaulich investiert wurde und wo sich kaum Geschäfte ansiedelten. Bis in die 1970er Jahre blieb diese Form der urbanen Diskriminierung gängige Praxis. Mit Folgen bis heute.
Ghettoisierung
Redlining beförderte über Jahrzehnte die Ghettoisierung in den Großstädten und traf vor allem die Afroamerikaner. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Hilfe einer Fördermaßnahme für rückkehrende Soldaten („GI-Bill“) zogen viele Weiße in die Vorstädte. Damit wurde die Rassentrennung noch einmal zementiert, schildert Anthony Iton von der Organisation California Endowment: „Die Vorstädte wurden zum Inbegriff des amerikanischen Lebens. Die Menschen verließen die Innenstädte, um draußen zu wohnen, mit ihrem weißen Zaun, dem kleinen Garten, dem Einfamilienhaus. Zurück ließen sie die Afroamerikaner.“
Und die wurden mit einer mehr und mehr militarisierten Polizei kontrolliert, die viel zu lange das heute verbotene Racial Profiling umsetzte. Doch auch wenn es offiziell abgeschafft wurde, gehöre es nach wie vor zum Alltag für Afroamerikaner, Latinos, Menschen mit nichtweißer Hautfarbe, erzählt Howard Pinderhughes, Soziologie-Professor an der University of California in San Francisco: „Es gibt in der afroamerikanischen Community etwas, das zum Alltagswissen gehört. Irgendwann, wenn sie etwa acht Jahre alt sind, führt man mit seinem Sohn das Gespräch. Und das dreht sich darum, wie man am Leben bleiben kann, wenn sich Polizisten nähern, man von ihnen kontrolliert und festgehalten wird.“ Pinderhughes ist Afroamerikaner, ruhig, gelassen. Auch er wurde schon mehrfach von der Polizei kontrolliert, lag auf dem Bürgersteig mit ausgestreckten Armen und Beinen nur wenige Meter von seinem Haus in Berkeley entfernt. „Wenn du schwarz und männlich bist, bist du verdächtig. Selbst dann, wenn sie einen 1,90 großen Schwarzen suchen und dafür einen 1,70 großen Mann wie mich stoppen.“
Das Redlining wurde offiziell mit der Verabschiedung des Fair Housing Act (1968), des Home Mortgage Disclosure Act (1975) und des Community Reinvestment Act (1977) abgeschafft; an der tiefen Spaltung Amerikas hat das nichts geändert. Über Jahrzehnte hat das Redlining Grenzen in den Städten gezogen, die auf den ersten Blick zwar nicht sichtbar sind, das Leben in den USA aber bis heute prägen. Es waren und sind nicht nur die Grundstückspreise, die eine weiße Nachbarschaft von einer schwarzen unterscheiden (weiße Familien haben im Durchschnitt ein zehnmal größeres Vermögen als schwarze Familien); sie sind vielmehr eine Reflexion der Rahmenbedingungen in den betroffenen Stadtteilen, die einst mit einem roten Stift markiert wurden: fehlende Parks, kaum Supermärkte, keine Fahrrad- und Fußgängerwege, eine stärkere Umweltbelastung durch angesiedelte Fabriken, der Bau von Schnellstraßen mitten durch Nachbarschaften. Sogar einfachste Infrastruktur-Baumaßnahmen wie Bürgersteige sind verwahrlost. Alles hing über Jahrzehnte davon ab, ob Stadtplaner sich von einem Projekt einen Wert für die betroffenen Gegenden versprochen haben.
In der politischen Debatte dieser Tage wird gerne erklärt, Amerika sei farbenblind, alle seien gleich, Fördermaßnahmen für Minderheiten würden nicht mehr benötigt. Die Geschichte lehrt etwas anderes. Die Folgen sind bis heute spürbar und konkret zu besichtigen, zum Beispiel in East Oakland.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 114-115
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