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01. März 2012

Ignorieren auf eigene Gefahr

Interview mit Melanne Verveer, US-Sonderbotschafterin für globale Frauenfragen

„Frauenangelegenheiten“ sind keine Angelegenheiten nur für Frauen. Von ihrer Integration profitiert die ganze, profitieren alle Gesellschaften. Denn sämtliche Erfahrungen zeigen: Regierungen, die aufgeschlossen genug sind, den Großteil des Potenzials ihrer Bevölkerungen nicht einfach brachliegen zu lassen, betreiben schlichtweg intelligente Politik.

IP: US-Außenministerin Hillary Clinton sieht den Bereich „Frauenförderung“ als elementaren Bestandteil ihres Konzepts einer außenpolitischen „Smart Power“. Wie macht sich das bemerkbar?

Melanne Verveer: Wir wollen eine Teilhabe von Frauen in all jenen Bereichen gezielt und strategisch fördern, in denen wir für unsere Außenpolitik insgesamt effektivere und bessere Ergebnisse erzielen können – sei es in der Friedens- und Sicherheitspolitik, in der Wirtschaftspolitik oder auf dem Gebiet nachhaltiger Entwicklung. Wir bringen dieses Anliegen auf vielen Ebenen und in vielen Organisationen zur Geltung, in denen wir gemeinsam mit anderen Ländern aktiv sind – sei es die Asia Pacific Economic Cooperation Platform (APEC), der 21 Länder angehören, die OECD – oder sei es während der Gespräche zu Handelsabkommen auf bilateraler Ebene vor allem mit afrikanischen Staaten. Der Gedanke ist ganz einfach: All diese Länder wollen sich entwickeln, all diese Wirtschaften wollen wachsen und dabei spielen so genannte „SMEs – small and medium enterprises“ eine wichtige Rolle. Wir konzentrieren uns ganz besonders auf kleine und mittlere Unternehmen, die von Frauen gegründet oder geleitet werden. Studien belegen immer wieder, dass solche SMEs ganz besonders wichtige und oft übersehene „Wachstumsbeschleuniger“ und „Jobmaschinen“ sind, dass aber gerade Frauen häufig mit großen Hindernissen zu kämpfen haben: Der Zugang zu Krediten bleibt ihnen verwehrt, sie werden bei Schulbildung und Fortbildung diskriminiert. In manchen Ländern dürfen sie keine Eigentumstitel besitzen oder werden im Erbrecht benachteiligt; es fehlt ihnen an den notwendigen Netzwerken und Kontakten, der Zugang zu Märkten wird ihnen erschwert. Wir nutzen ganz strategisch die oben genannten Möglichkeiten, um diese Fragen aufzuwerfen und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln – denn es ist nicht gescheit, das Potenzial, das SMEs haben, künstlich zu verkleinern, indem man bestimmte Bevölkerungsgruppen und deren Fähigkeiten brach­liegen lässt.

IP: Wo und wie macht sich die Einbindung von Frauen am deutlichsten bemerkbar?

Verveer: Schauen Sie sich einmal den „Gender Gap Report“ an, der jährlich vom World Economic Forum in Zusammenarbeit mit der Harvard University und der University of California, Berkeley, herausgegeben wird. Der Bericht misst in etwas über 100 Ländern die Kluft zwischen Männern und Frauen in vier Bereichen – Gesundheit, Zugang zu Ausbildung, wirtschaftliche und politische Teilhabe. Es geht dabei nicht darum, dass einige Frauenorganisationen so etwas einfordern. Das Interessanteste ist: Länder, in denen die Kluft zwischen Männern und Frauen kleiner ist, sind im Allgemeinen auch wettbewerbsfähiger und wohlhabender. Wir kennen das ja von den Arab Human Development Reports der vergangenen Jahre, die allzu deutlich zeigten, dass diese Länder deshalb so deutlich hinterher hinkten, weil gut die Hälfte ihrer Bevölkerung, sprich der Großteil der Frauen, eine schlechtere Schulbildung hatte und vom wirtschaftlichen und politischen Prozess weitgehend ausgeschlossen blieb. Man hat also die Hälfte des Humankapitals schlichtweg ungenutzt gelassen. Dafür zahlten – und zahlen noch immer – diese Länder einen hohen Preis.

IP: Was war zuerst da – die Henne oder das Ei? War es die wirtschaftliche Entwicklung, die auch zu offeneren Gesellschaften führte, in denen Frauen sich größere Teilhabe erkämpfen konnten, oder führt die Teilhabe von Frauen zu besserer wirtschaftlicher Entwicklung?

Verveer: Beides. Wichtig ist im Grunde nur: Alle Daten, alle Studien zeigen: Es sollte im eigenen Interesse von Regierungen und Gesellschaften liegen, Frauen stärker zu beteiligen und Potenzial, Talent, Know-how nicht unentwickelt zu lassen. Diese Tatsachen ignoriert man gewissermaßen auf eigene Gefahr – auch, wenn wir es noch mit reichlich Uneinsichtigkeit und vielen Hindernissen zu tun haben.

IP: Wo sehen Sie die größten Hindernisse?

Verveer: Natürlich ist die Kluft in den Bereichen Gesundheit und Ausbildung noch groß, auch wenn wir hier schon enorme Fortschritte gesehen haben. Was die Teilhabe an wirtschaftlichen Aktivitäten betrifft – gleich auf welcher Ebene, ob als Kleinunternehmerin oder im Aufsichtsrat großer Unternehmen – gibt es natürlich noch reichlich zu tun. Gerade in den sich entwickelnden Ländern, in denen Landwirtschaft eine große Rolle spielt, werden Frauen oft extrem benachteiligt, weil sie kein Land besitzen oder erben dürfen und damit von einem Kleinunternehmertum auf dem Agrarsektor völlig ausgeschlossen sind. Die größte Kluft, die Frauen nur sehr schwer überwinden können, ist aber der Bereich der politischen Teilhabe. In Deutschland wurden hier große Fortschritte gemacht, denn die meisten Parteien haben dafür gesorgt, dass das politische Leben heute diverser ist und mehr Frauen daran teilnehmen. In vielen Ländern bleibt es aber schwierig – und das beginnt schon mit der Tatsache, dass Frauen kaum die Möglichkeit offensteht, solche Aktivitäten auch finanzieren zu können oder überhaupt Zugang zu Geldern zu erhalten – sei es durch ihre Regierungen oder durch private Geber. Dazu kommen natürlich tief verwurzelte Ansichten über die Frage, ob Frauen überhaupt ein Platz in der Politik gebührt. Hier stehen kulturelle Faktoren der Entwicklung im Wege.

IP: In vielen Ländern gerade des Nahen Ostens fürchten aber nicht nur Männer einen „Traditions- und Kulturverlust“, weil die als „dekadent“ empfundene westliche Moderne als Bedrohung für lang gewachsene Strukturen gilt.

Verveer: Natürlich wird es immer Elemente geben, die sich gegen Änderungen wehren – oft auch im Namen der Religion. Aber die Spielräume sind größer als man denkt. In Marokko hat man vor einigen Jahren mit einer Reform des Familienrechts begonnen – und das in einem Land, in dem Frauen zuvor noch verhaftet wurden, weil sie öffentlich eine Änderung des Scheidungsrechts forderten, also nur die schlichte Möglichkeit, selbst die Scheidung einreichen zu können. Schließlich begannen sie mit einer Kampagne, die zeigen sollte, dass ihre Forderungen keineswegs im Widerspruch zu ihrer Religion und dem Koran stehen; sie haben also ihr Interesse daran bekundet, die Tradition durchaus wahren zu wollen und gleichzeitig darauf gedrungen, dass „Tradition“ keine auf Ewigkeiten in Stein gemeißelte Angelegenheit ist, sondern neuen Umständen gemäß interpretiert werden muss.

Nachdem König Mohammed VI. sich hinter diese Forderungen stellte, wurden die Reformen des Familienrechts jeweils mit dem Koran begründet. Wir sehen immer mehr Frauen und Männer, die finden, dass Religion nicht dazu missbraucht werden sollte, Dinge auf ewig festzuschreiben – sondern dass Religion auch neuen Anforderungen genügen muss. In Afghanistan haben Imame in ihren Predigten Gewalt gegen Frauen verurteilt. Wo immer wir solche „Verstärker“ haben, oft auch religiöse Führer, da sehen wir auch große Fortschritte. Man wird nicht falsch liegen, wenn man sagt, dass die wirtschaftliche und politische Zukunft der gesamten MENA-Region davon abhängt, wie Frauen, die sich ja auch während der Revolution Gehör verschafft haben, weiterhin einbezogen werden.

IP: Grundsätzlich: Ohne Männer wird es nicht gelingen?

Verveer: In den USA haben wir lange für eine gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit gekämpft. Man hat das leider lange für eine reine „Frauenangelegenheit“ gehalten. Dann haben die Männer verstanden, dass es auch um sie, um das Einkommen für die gesamte Familie geht: Benachteiligt man die Frauen, benachteiligt man die ganze Familie. Ich bin immer sehr frustriert, wenn man diese Themen als „Frauensache“ bezeichnet. Natürlich ist es nur recht, dass Frauen nicht benachteiligt werden – aber eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen, bringt nachweislich Vorteile für die ganze Gesellschaft – aller Gesellschaften! Es geht nicht nur darum, Rechte zu gewähren. Frauenförderung ist einfach kluge Politik, die auf glasklaren Fakten basiert. Das müssen wir noch sehr viel klüger und strategischer vermitteln.

IP: Dass man nicht die Hälfte des Wirtschaftspotenzials einer Gesellschaft brachliegen lassen will, leuchtet ein – aber was bringen Frauen denn spezifisch in den politischen Prozess ein?

Verveer: Vor über einem Jahrzehnt hat man in Indien ein ganz besonderes Programm aufgelegt, eine Quote für Frauen in den kommunalen Verwaltungen, den so genannten Panchayats. Inzwischen sind über eine Million Frauen in dieses System eingebunden, das manche die „stille demokratische Revolution Indiens“ nennen. Mehrere Studien, die dazu durchgeführt wurden, darunter auch von amerikanischen Universitäten, stellen sehr positive Auswirkungen fest: Die Effizienz der Verwaltung habe sich verbessert, Panchayats seien viel erfolgreicher darin, den Bedürfnissen einer Kommune Rechnung zu tragen – von der Notwendigkeit funktionierender Abwassersysteme bis zu den Bereichen Schule und Ausbildung. Ich habe viele dieser Frauen getroffen, und es hat mich immer wieder beeindruckt, welche Hindernisse sie zu überwinden hatten, aber mit wie viel Zähigkeit und Fantasie sich selbst Frauen durchgesetzt und für die Belange der Gemeinde stark gemacht haben, die nicht einmal über eine formale Schulbildung verfügen. Noch einmal: Die Hälfte einer Bevölkerung, deren Tatkraft, Ideen, Kreativität aus dem politischen Prozess auszuschließen, „weil wir das halt immer schon so gemacht haben“, das schädigt die gesamte Gesellschaft.

IP: Aber trotzdem kann man nicht auf die Durchsetzungskraft von Frauen vertrauen – es bedarf einer Reihe von Fördermaßnahmen. Welches wären die richtigen?

Verveer: Da muss jede Regierung natürlich ihren eigenen Weg finden. Aber ohne „affirmative action“, ohne entsprechende Gesetze des irakischen Parlaments oder der afghanischen Loja Dschirga – oder der klaren Ermutigungen durch die Länder, die Afghanistans Wiederaufbau unterstützen – hätte es keine Fortschritte gegeben. Hier bleibt mir in Erinnerung, was mir eine Afghanin während der Afghanistan-Konferenz in Bonn im Dezember 2011 gesagt hat: Natürlich seien die Afghaninnen sehr besorgt, dass alle Fortschritte, die zweifelsohne für sie erzielt worden sind, nach einem Rückzug der Truppen wieder zunichte gemacht würden. Aber trotzdem läge ihr am Herzen, uns im Westen zu sagen: „Betrachtet uns bitte nicht als Opfer, sondern als die potenziellen Führerinnen, die wir auch sind.“ Und das wiederum weist auf einen ganz wichtigen Bereich hin: die enorme Rolle, die Frauen spielen sollten – aber aus vielerlei Gründen noch nicht spielen –, wenn es um nachhaltige Konfliktlösungsstrategien geht.

IP: Im Dezember 2011 verabschiedete Präsident Barack Obama per „executive order“ den „United States National Action Plan on Women, Peace, and Security“, der zusammen mit dem amerikanischen Verteidigungsministerium erarbeitet wurde. Die Einbeziehung von Frauen in Konfliktlösungsprozesse spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Verveer: Der Außenministerin war sehr daran gelegen, dass dieser Action Plan zusammen mit dem Verteidigungsministerium und anderen Institutionen wie USAID ausgearbeitet, getragen und umgesetzt wird. Mehr als 30 Länder haben bereits ähnliche Initiativen begonnen. Das State Department und das Verteidigungsministerium haben eine Ausbildung von über 2000 weiblichen Peacekeepers ermöglicht – viele aus afrikanischen Ländern, in denen Frauen und Kinder am meisten unter den oft langjährigen Konflikten leiden. Auch hier können wir wieder nur sagen: Aufgrund klarer Evidenzen, von Nordirland bis hin zu Ruanda, sehen wir, dass Konfliktlösungen haltbarer sind, dass der Übergang von Konfliktgesellschaften in zivile Gesellschaften besser funktioniert, wenn Frauen in den Lösungsprozess direkt einbezogen werden. Das ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass Frauen – man denke nur an die hunderttausenden Vergewaltigungen im Kongo – in überwältigendem Maß Opfer gerade ethnischer oder asymmetrischer Kriege sind. Sondern auch der Tatsache, dass wir viel zu viele „Konfliktlösungen“ haben scheitern sehen. Wo immer aber Frauen in den Prozess einbezogen waren, sahen wir auch haltbarere Ergebnisse. Ein strategischer, kluger und tragfähiger Weg zu Stabilität und ja, einem haltbareren Frieden kann man nicht an den Frauen vorbei führen, die von einem bestimmten Konflikt betroffen sind. Wir haben Teams von Soldatinnen nach Afghanistan geschickt, wo sie helfen sollen, speziell Gewalt gegen Frauen einzudämmen, aber auch bestimmte Aufgaben übernehmen müssen – männliche Soldaten können beispielsweise keine Hausdurchsuchungen in den Frauenquartieren übernehmen. Bis zum Jahr 2014 sollen auch 5000 afghanische Polizistinnen ausgebildet werden. Das ist eine Mammutaufgabe, die sich aber auszahlen wird.

IP: Was genau tragen Frauen zu einer nachhaltigeren Konfliktlösung bei?

Verveer: In von Kriegen zerrissenen Gesellschaften geht es zunächst auch immer darum, einen Weg der Reintegration von Kämpfern oder auch von Versöhnung einzuschlagen. Es gilt, eine profunde Änderung herbeizuführen, die meist Männern, die „heldenhaft“ für „ihre Sache“ kämpften, den Weg in eine zivile Gesellschaft ebnet. Das ist ohne die Frauen in dieser Gesellschaft nicht denkbar – das haben wir während der vergangenen Jahre in Afghanistan gelernt. Es geht darum, ein „Alltagsleben“ wieder herzustellen; wann immer Frauen bewusst auch in die Konfliktlösungsstrategien und einen Neuaufbau integriert wurden, brachten sie genau das mit: eine Konzentration auf wirtschaftliche Aspekte. Schließlich geht es um die Wiedereingliederung bewaffneter Kämpfer – es muss sich für sie „lohnen“, die Waffe abzulegen – und um einen Sinn für die Realitäten. Folgende Geschichte, die sich während Verhandlungen im Südsudan zugetragen hat, veranschaulicht das: Tagelang hatten Unterhändler schon über die Nutzungsrechte einer bestimmten Brücke gestritten, es ging mal wieder „ums Prinzip“. Eine Frau hörte davon, verschaffte sich Zugang zu der Runde und sagte: „Meine Herren, der Fluss unter dieser Brücke führt schon seit Jahren kein Wasser mehr.“

Die Fragen stellte Sylke Tempel

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 10-15

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