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01. Sep 2007

»Ideologisierung ist eine Epidemie«

Warum Islam und Demokratie kein Widerspruch sind

Die Entstehung der Demokratie im Westen gilt als unabwendbares Schicksal aller Gesellschaften. Wir halten es für notwendig, dass sich auch in den islamischen Ländern die Demokratie durchsetzt. Das heißt nicht, dass sie den gleichen Weg gehen muss, den sie in Europa eingeschlagen hat. Modernismus, wirtschaftliche und politische Entwicklung oder Demokratie – das sind menschliche Begriffe. Und menschliche Prozesse folgen nicht dem Prinzip des Automatismus, man kann sie nicht importieren oder exportieren. Religion ist in vielen islamischen Gesellschaften nicht nur eine Summe religiöser Überzeugungen, sondern ist auch mit ihrer Kultur, Zivilisation und Geschichte eng verflochten – so spielt der Islam bei der nationalen Identitätsbildung dieser Gesellschaften eine große Rolle. Wenn ein Muslim gezwungen wäre, zwischen Moderne und Demokratie einerseits und Islam andererseits zu wählen, würde er sich gegen Demokratie und Moderne entscheiden. Wenn wir das voraussetzen, dann kommen wir zum Ergebnis, dass die Demokratie sich erst dann in diesen Gesellschaften durchsetzt, wenn der Widerspruch zwischen Demokratie und Islam aufgelöst ist. Der Islam und die kanonischen islamischen Texte sind jedoch interpretationsfähig. Dafür gibt es das Prinzip des „Ijtechad“ – der Urteilsbefugnis des islamischen kompetenten Rechtsgelehrten. Es gibt uns die Möglichkeit, die islamischen Vorschriften und Gesetze an zeitliche und örtliche Gegebenheiten anzupassen. Deshalb sehe ich überhaupt kein Problem bei der Koexistenz zwischen Moderne und Islam.

Demokratie bedeutet, dass die Entscheidungen auf den gesellschaftlichen und politischen Ebenen vom Willen des Volkes ausgehen. Und dass es bei der Demokratie keine Rolle spielt, welche Motive die Menschen für ihre Willensbildung haben. Das heißt nicht, dass die Demokratie die Durchsetzung des Willens des Volkes anstelle von Gottes Willen bedeutet. Nein! Demokratie bedeutet, dass jede Entscheidung politischer Art vom Volk ausgeht, und das steht nicht im Widerspruch zum Willen Gottes. Die Religion kann im Vorfeld der Willensbildung mit verschiedenen politischen Meinungen in Wettbewerb treten und man muss der Religion dieses Recht geben. Aber mehr Rechte hat sie nicht. Sie kann nur nach demokratischen Spielregeln Menschen beeinflussen. In diesem Sinne gibt es zwischen Islam und Demokratie keinen Widerspruch. Wenn wir der Religion dieses Recht absprechen und sagen, die Religion darf sich nicht anbieten, so handeln wir undemokratisch. Wenn aber in bestimmten Fällen die Gesetze einer Gesellschaft in einem demokratischen Prozess mit religiösen Überzeugungen, mit der Scharia in Widerspruch treten, was ist dann die Aufgabe eines Muslims? Darf er die Gesetze missachten und seine eigene Überzeugung der Gesellschaft aufzwingen? Meine Antwort ist klar und deutlich: Nein. Wenn wir als Muslime hier mit Gesetzen konfrontiert sind, die nicht mit dem Islam übereinstimmen – wenn diese Gesetze demokratisch zustande gekommen sind, dürfen sie nicht missachtet werden. Ich sage nicht, dass ein Muslim seine Überzeugung in der Schublade lassen soll. Ein Muslim soll seine Überzeugung haben, aber was die Fundamentalisten sagen, ist falsch. Sie sagen: „Wenn der Islam Recht hat, wenn meine Überzeugung richtig ist, dann muss ich diese Überzeugung auch der Gesellschaft aufzwingen.“ Das ist antiislamisches Handeln! Der einzige Weg für gesellschaftliche kollektive Entscheidungen, der vom Islam anerkannt wird, sind demokratische Methoden. Und wenn ein Muslim an die Demokratie glaubt, soll er aus innerer Überzeugung daran glauben und nicht aus taktischen Gründen.

Der Islam sieht zwischen Individuum und Gesellschaft keinen Widerspruch, sondern motiviert die Individuen, sich zu integrieren. Ich habe bisher von Gesellschaften gesprochen, in denen die Muslime in der Minderheit sind. Aber was passiert in einer islamischen Gesellschaft, in der die meisten Menschen Muslime sind und die Legitimität der islamischen Überzeugungen anerkannt haben? Kann man in so einer Gesellschaft die Menschen zwingen, islamische Vorschriften zu praktizieren? Die Antwort des Islams ist eindeutig nein. Denn der Koran sagt deutlich, dass Muslim sein eine minimale und maximale Ebene beinhaltet, und die minimale Ebene bedeutet, dass man eine islamische Überzeugung hat. Es kann also sein, dass ein Mensch islamische Überzeugungen hat, aber noch nicht dazu übergegangen ist, danach zu handeln. Es gibt Muslime, die nicht beten und nicht fasten, und niemand kann sie dazu zwingen. Auf der gesellschaftlichen Ebene gilt das gleiche Prinzip. Man kann eine ganze Gesellschaft nicht zu islamischen Handlungen zwingen. Wenn ein Muslim die islamischen Vorschriften nicht beachtet, dann hat er eine Sünde begangen. Aber wir unterscheiden zwischen Sünde und Verbrechen. Wenn jemand die islamischen Vorschriften nicht praktiziert, dann ist er ein Sünder, aber kein Verbrecher. Das bedeutet, er wird auf dieser Welt nicht bestraft. Er muss zwischen sich und seinem Gott Klarheit schaffen, weil eine Sünde nur ihn und seinen Gott betrifft. Aber was bedeutet Verbrechen? Es bedeutet einen Verstoß gegen die Gesetze, die in demokratischer Art und Weise zustande gekommen sind.

Wir sehen also, dass viele von uns Muslimen und viele Nichtmuslime darauf angewiesen sind, diese Begrifflichkeiten neu zu verstehen und zu interpretieren, wenn wir über den Islam urteilen. Denn die Ideologisierung ist wie eine bedrohliche Epidemie. Ideologisierung heißt, dass ein Individuum oder eine Gruppe aufgrund der Richtigkeit ihrer Ansichten diese Ansichten in undemokratischer Art und Weise den anderen Menschen aufzuzwingen versucht. Fundamentalismus, Gewalt und Heiliger Krieg sind Ergebnisse von Ideologisierung. Der Koran hat oft diese Ideologisierung verpönt und abgewiesen, aber leider gibt es Leute, die denken, dass sie durch die Hölle der Gewalt die Menschen zum Paradies führen können.

Gekürzte Fassung eines Vortrags von Ayatollah Seyyed Ghaemmaghami im Mai 2007 in der Hamburger Landesvertretung in Berlin. Ghaemmaghami ist Imam und Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2007, S. 46 - 47.

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