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01. Nov. 2019

Ich bin eine Gelbweste

Ich bin das Symbol einer Revolte. Ich bin ein Steuerflüchtling, eine neue chinesische Stadt, eine Geldpumpe und ein Rätsel. Ich bin eine Bewegung und eine Wundertüte. Ich bin billig und überall - und doch wisst ihr nichts von mir.

Ich wiege knappe hundert Gramm, aber an mir kommt ihr nicht vorbei. Ich bin grell, geschmeidig, praktisch und populär. Ihr streift mich über eure Kleider. Ich bin in euer Leben eingedrungen. Ihr hattet keine Wahl.

Angefangen hat alles auf den Rollfeldern der Flughäfen, unter den Kränen, im Matsch der Baustellen war ich, um schließlich im Handschuhfach eurer Autos zu landen. 2008 brüstete ich mich auf Plakaten, getragen vom Modeschöpfer Karl Lagerfeld mit schwarzer Brille, neben dem Slogan: „Sie ist gelb, sie ist hässlich, sie passt zu nichts, aber sie kann Ihr Leben retten.“ Ihr habt mich akzeptiert. Im Namen der Sicherheit. Dank der europäischen Normen bin ich ein Alltagsgegenstand geworden. Aus dem Nichts habt ihr mich zu einem Massenkonsumgut gemacht. Ohne zu überlegen. Dank euch werde ich jedes Jahr hundertmillionenfach in ganz Europa verkauft. Ich bin eine Weste, und jetzt tragt ihr mich zum Demonstrieren. Die Tunesier hatten Mohamed Bouazizi, den Straßenverkäufer, der sich aus Verzweiflung selbst verbrannte und mit seinem Suizid den Arabischen Frühling auslöste. Er bleibt als der Mann in Erinnerung, von dem alles ausgegangen ist.

Derjenige, der meine Bewegung in Frankreich lostrat, heißt Ghislain Coutard. Großgewachsen, 36 Jahre alt, und er hat eine Leidenschaft für den Automobilsport. Er wohnt in der Nähe von Narbonne, repariert Druckluftkompressoren und Stickstoffgeneratoren für den Weinbau. Ghislain fährt jeden Tag zwischen 300 und 500 Kilometer mit seinem Kleinlaster. Der Familienvater beklagt sich nicht über seinen Lohn von ungefähr 2000 Euro, „es geht so“, aber als er am 24.Oktober 2018 auf Facebook einen Aufruf zur Demonstration gegen die Erhöhung des Benzinpreises sieht, denkt er an die Kumpels, die sich abrackern, an die Ärmsten unter ihnen, für die eine zusätzliche Abgabe weniger Essen bedeutet. Er steigt in sein Auto und macht ein Video, in dem er von seinem Überdruss spricht: „Ich hoffe wirklich, dass etwas passiert, dass die Franzosen sich aufraffen, aus sich herauskommen, eine hübsche, solide Blockade errichten, zeigen, dass nicht nur der Fußball sie zusammenbringt.“ Und genau da erweckt Ghislain mich zu einem zweiten Leben. Er greift spontan zu der gelben Weste, die „alle in ihrem Wagen haben“. „Legt sie gut sichtbar auf das Armaturenbrett, um zu zeigen, dass ihr mit uns einverstanden seid, mit der Bewegung!“ Das Video, das nur eine Minute zwanzig dauert, geht viral. Meine Legende ist geboren.

Ihr Menschen braucht Symbole für eure Empörung: die Bonnets rouges oder Sansculotten, Rosen in Georgien, Sonnenblumen in Taiwan, Regenschirme in Hongkong. Ihr erkennt euch untereinander an den Farben: dem Violett der englischen Suffragetten, dem Orange in der Ukraine. Ihr habt aus mir das Zeichen des krisengeschüttelten Frankreichs gemacht. Das Aushängeschild der Wut. Das Gelb hat eure Träume und Albträume heimgesucht, sich in eure Diskussionen geschlichen. In eure Fernsehshows, eure politischen Programme. Ihr wolltet mich zweckentfremden, einen Gegenstand, den man euch aufgezwungen hat, um es jenen zu zeigen, die ihn euch aufgedrängt haben, und so die Unsichtbaren sichtbar machen. Ohne zu wissen, dass ausgerechnet meine Existenz die eure bedroht. Dass die Menschen, als sie mich erfanden, herstellten und mich immer billiger haben wollten, in ihr Unglück rannten. Ihre eigene Vernichtung vorantrieben. Folgt mir.

Monatelang habe ich den Kreisverkehren, die eure Landschaft und eure Vorstädte verunstalten, etwas Farbe verliehen. Mit 40 000 Kreisverkehren ist Frankreich Weltspitzenreiter. In gewisser Weise habe ich den Verkehrsinseln Wärme geschenkt, Menschlichkeit, Leben. Ein Slogan vorne, einer hinten, schwarze Buchstaben auf gelbem Grund: „Macron, dir ist dein Volk egal“; „Kein Fascho, nur wütend“ (Pas facho, juste fâchée); „Wer Elend sät, wird Wut ernten“; „Sorry für das Chaos, wir kämpfen für euch“. In Hütten, unter gespannten Planen sah ich die Demonstranten im Winter schlottern, in der Frühlingssonne die Augen zukneifen, sie brachten Kaffee, Süßigkeiten, Stühle, Sofas, Decken. Ich hörte, wie sie völlig Unbekannten ihr Herz ausschütteten, und es sah aus, als würde es ihnen guttun, wenn sie ihre Geschichten vom Fallen und wieder Hochkommen erzählten, so unterschiedlich sie auch waren. Sie alle berichteten von einer Zerstörungsmaschinerie. Hättet ihr gedacht, dass ich deren Verkörperung bin?



Ich bin ein Steuerflüchtling

Nicht einfach, unter meiner durchsichtigen Verpackung herauszufinden, wo ich herkomme und wer mich gemacht hat. Ich bin eine Art Wundertüte. Ein Hinweis verkündet in 21 Sprachen eine Litanei von Vorsichtsmaßnahmen und endet mit zwei eingerahmten Adressen „für weiterführende Informationen“. Die eine in England, die andere in Luxemburg. Sieh an, ich werde von einem Steuerparadies aus vertrieben. Da ist auch der Name eines Unternehmens, Euro Protection, das sich auf seiner Homepage rühmt, „einer der Hauptakteure in der Entwicklung von persönlichen Schutzausrüstungen“ zu sein. Als Mitglied der Worldwide Europrotection vertreibt es Sicherheitsschuhe, Atemmasken und ein Sortiment von Kleidung zum Schutz „vor chemischen, elektrischen, elektrostatischen oder thermischen Risiken“. Wir lesen weiter: „Seit Jahrzehnten stellt Euro Protection seine hervorragende Qualität unter Beweis, seine Technik und seine Fähigkeit, Ihre Anforderungen zu erfüllen. Das Vertrauen, das Sie uns hinsichtlich der sensiblen Aktivitäten, die die Sicherheit betreffen, entgegenbringen, ist der beste Beweis im täglichen Leben.“ Ein paar Mausklicks, und wir befinden uns im Reich des Schwammigen. In der Welt der Multis. „1953 verlässt das erste Paar Handschuhe unser Werk.“ Wo die Fabrik stand und wer sie leitete, wird nicht präzisiert. „10 000 Kunden, 4000 Referenzen, präsent in 70 Ländern.“ In welchen? Es gibt keinen Tätigkeitsbericht, keinen Finanzbericht, keine Informationen. Als wäre ich aus dem Nichts aufgetaucht.

Um das Geheimnis zu lüften, muss man das Mémorial auftreiben, das Amtsblatt des Großherzogtums Luxemburg. Diese Sammlung von Publikationen über Gesellschaften und Verbände teilt mit, dass der Hauptverwalter von Euro Protection Norbert Dentressangle heißt und in Lyon wohnt. Endlich etwas Handfestes. Ein Mann, eine Firma, eine Stadt. Wenn man lange genug sucht, erfährt man, dass Euro Protection zuerst einer gewissen Familie Delore gehörte. Danach wurde die Bank Edmond de Rothschild Aktionär, die sich 2016 wieder zurückzog. Nun beteiligt sich Norbert Dentressangle via Capextens, eine Private Equity Holding. Mit anderen Worten, ein Investmentfonds. Norbert Dentressangle, laut Challenge auf Rang 55 der größten Vermögen Frankreichs, ist außerdem Chef von Kiloutou, einer Firma, die Arbeitsgeräte und Maschinen vermietet, aber auch des Meinungsinstituts Ifop, das zahlreiche Studien durchführte: Der Blick der Franzosen auf die Gelbwestenbewegung und die Alternativen zu Emmanuel Macron − Die Franzosen und die Gelbwesten − Der Blick der Franzosen auf die Gelbwesten − Der Blick der Franzosen auf die Gelbwesten nach den Ankündigungen der Regierung − Die Folgen der Mobilisierung der Gelbwesten für die Reformfähigkeit der Exekutive.

Norbert Dentressangle wurde 1954 in eine Familie kleiner Transportunternehmer in der Drôme hineingeboren, er gründete mit 15 000 von seinen Eltern geliehenen Euros seine erste Gesellschaft. Seine Idee war, Obst und Gemüse aus der Ardèche nach Großbritannien zu exportieren. Er wird als intelligent, anspruchsvoll, steif und asketisch beschrieben, er begann mit sechs Fahrzeugen, wurde zum ersten Spediteur Europas und expandierte nach Asien und Amerika. Er ist Katholik, Mitglied mächtiger Lyoner Kreise, verhielt sich stets diskret, in sich selbst zurückgezogen, auf die Arbeit konzentriert, wenn er sich nicht gerade auf seinen Anwesen in Megève oder Saint-Tropez erholte. 2011 verklagte die Gewerkschaft CFTC ihn wegen rechtswidriger Arbeitnehmerüberlassung und Schwarzarbeit: Das Unternehmen wurde beschuldigt, polnische, portugiesische und rumänische Fahrer angestellt zu haben, die in Bussen nach Frankreich gebracht wurden, einen Monat arbeiteten und wieder gingen. Und durch die nächsten billigen Fahrer ersetzt wurden. Und so weiter. Vier Jahre später, als der Prozess noch immer lief, verkaufte Norbert sein Transportunternehmen für 3,53 Milliarden Dollar an die amerikanische Gruppe XPO Logistics. Und stieg, neben anderen Investitionen, bei Euro Protection ein. Norbert Dentressangle erteilt der Presse keine Auskunft. „Es bringt nichts, sich zu exponieren, höchstens Scherereien“, vertraute er seinen Angehörigen an. Und die Gründerfamilie, 2016 noch immer im Besitz von 42 Prozent des Kapitals? Auch dort: Schweigen. Das Amtsblatt des Großherzogtums Luxemburg nennt die Namen Frédéric und Nicolas Delore, geboren 1959 und 1960. Sind sie Brüder? Sie leben heute in der Schweiz, und das Blatt gibt nur eine Privatadresse an.

Ich werde von globalisierten Unternehmen verkauft, die ihre Fabriken in Frankreich geschlossen haben, um dort zu produzieren, wo die Arbeitskräfte billiger sind; in Polen, Rumänien, Sri Lanka, Peru, Argentinien, Brasilien, in der Türkei, in Indien und vor allem in China. Nehmen wir Delta Plus, ein von Jacques Benoît im Süden Frankreichs gegründetes Familienunternehmen, das zum „Weltexperten für Personenschutzausrüstungen“ geworden ist: Verkauf in 90 Ländern, 27 Filialen in Europa, Asien und Lateinamerika, 10 000 Verkaufsstellen und 1800 Angestellte. Das Werk in China, 12 000 Quadratmeter groß, soll für die Arbeiter in Wujiang, in der Nähe von Schanghai, über 600 Schlafsaalplätze verfügen. Aber dies zu überprüfen, ist nicht möglich. Keine Besuche erlaubt. Als wäre ich illegal. Ein Schwarzarbeiter.

Ich bin nach wie vor ein Rätsel. Begeben wir uns zur Klärung meiner Geburt nach China, in dieses Reich von 1,4 Milliarden Menschen. Zwecklos, sich als Journalist zu erkennen zu geben. Diejenigen, die euch diese Geschichte erzählen, sind vonseiten der Fabrikanten um die 20 Mal abgewiesen worden. Also haben die Reporter sich als Angestellte einer Agentur ausgegeben, die europäischen Unternehmen auf der Suche nach chinesischen Produktionsfabriken hilft. Sie tauften ihre imaginäre Gesellschaft „Sourcing Asia“ und erklärten, sich für eine französische Firma nach einer Produktionsstätte für Warnwesten umzusehen. Der chinesische Chef von Duntai, Fabrikant von Schutzausrüstung, hat sein Interesse bekundet und ein Treffen in der Provinz Henan vereinbart, mehr als vier Stunden im Schnellzug von Schanghai im Landesinnern gelegen.

Am Bestimmungsort ein breiter, von Baumreihen und Parkplätzen gesäumter Platz vor großen, grauen, mit gelben Kränen und Gerüsten gespickten Betongerippen. Auf einem Propagandaplakat lächelnde Arbeiter und ihr lächelnder Vorgesetzter. Auf dem Plakat wird eine ultramoderne Stadt aus dem Boden gestampft. Sie heißt Minquan. Der Slogan: „Minquan aufbauen, Minquan integrieren.“ Auch die Bauarbeiter, die den Beton für Minquan gießen, tragen mich. Ein alter Hund zieht bellend an seiner Kette, während der Duntai-Inhaber, der sich „Jason“ nennt, und seine Geschäftspartnerin Frau Ding unseren Minivan vor einem Hangar parkt. Meine Wiege.

Auf der Fassade aus dunkelgrauem Blech stehen in Rot die chinesischen Zeichen für: „Shangqui Duntai, Schutzausrüstungen“. Das Innere ist minimalistisch: ein weiter Raum mit poliertem Zementboden, vollgestellt mit Kartons und Stoffrollen in Neongelb und Neonorange. Ein Mann und eine alte Frau schneiden sie auf einem riesigen Werkstatttisch zu. Daneben werde ich von etwa 50 Arbeiterinnen in Ärmelschürzen genäht an Tischen, die aus einfachen, aneinandergereihten Platten bestehen, darauf große, brummende Nähmaschinen, Neonlampen, ihre Handtaschen, ein Smartphone, eine Thermoskanne oder eine Flasche aus transparentem Plastik für den Tee. Sie sind im Durchschnitt 40 Jahre alt und haben die für diese Gegend typische braune Haut. Viele von ihnen arbeiten zusätzlich auf den familieneigenen Feldern. Meine Herstellung ist weniger anstrengend als die Arbeit in den ­Elektronikfabriken, die Arbeit zieht daher ältere Angestellte an. Und auch ärmere.



Ich bin eine Ausbeuterin

Jason beutet in den diversen Werken um die hundert, je nach Auftragslage bis zu zweihundert von ihnen aus. Sie erhalten eine kurze Ausbildung und arbeiten dann acht bis zehn Stunden täglich, mit „vier freien Tagen pro Monat“. Die Mahlzeiten werden gestellt. „Und die Frauen“, sagt Jason, „die kann man schlechter bezahlen, da sie keine anderen Möglichkeiten haben.“ Ich bestehe aus drei Polyesterteilen, Nähten, Klett- oder Reißverschlüssen. Verarbeiten, prüfen, in eine durchsichtige Folie schieben: Ich komme in wenigen Minuten zur Welt. Jason streicht über dünnen Stoff mit kleinen Löchern, von niedriger Qualität, der für die Entwicklungsländer bestimmt ist, dann über einen dickeren, engmaschigeren – „die Norm in Europa“, sagt er. Ich bin aus Kunstfaser, aus der Petrochemie hervorgegangen. In stickigen, mit toxischen Dämpfen angefüllten Hangars wird Plastik erwärmt, um eine zähflüssige Paste herzustellen, die fließgepresst und abgekühlt wird, damit Fäden entstehen. Meine reflektierenden Streifen stammen aus Mikrokugeln aus Glas oder Plastik. „Sämtliche Grundstoffe kommen aus chinesischen Fabriken, darum bleiben wir konkurrenzfähiger als Fabrikanten anderer Länder“, freut sich Jason. In den Containerbüros zeigt ein Bildschirm die Aufnahmen der Überwachungskameras, welche die Schneiderinnen bei der Arbeit beobachten. Der Jungunternehmer glaubt noch immer, er unterhalte sich mit einem ­französischen Sourcing-Beauftragten. „Falls Ihnen bestimmte Designs vorschweben, können Sie sie mir schicken, wir machen Ihnen ein Preisangebot und lassen Ihnen Muster zukommen“, fährt er fort, während er zwei Prototypen vorzeigt: eine orangefarbene Weste mit Reißverschluss und eine gelbe mit Klettverschluss. Auf dem Etikett steht „Made in Turkey“. Was den Jungunternehmer nicht aus der Ruhe zu bringen scheint: „Das müssen wir wegen des Zolls machen, sie wurde aber hier hergestellt.“

Wenn ihr online nach „Warnweste mit hoher Sichtbarkeit“ oder „Sicherheitsweste“ sucht, bekommt ihr seitenweise Treffer mit meinem Lebenslauf, meinem Foto, meinen Maßen, meinen Materialien, meinen technischen Eigenschaften. Man findet auch die Namen der Lieferanten, in großer Mehrheit chinesische: Danny Liang Dongguan Superfashion Reflective Material Co., Ltd; Cara Hu Haining YRD Industry and Trade Co., Ltd; Tina Yuan Shenzhen Kangaroo Garments Co., Ltd; Sam Chen Shanghai Eroson Traffic Facility Co., Ltd; Zhenggang Du Linyi Dibai Commerce And Trade Co., Ltd; WLL ET Eastony Industries (Ningbo) Co., Ltd. Manchmal verhökert mich ein Zulieferer an den nächsten weiter. Mein Preis ist auf 60 oder 70 Eurocents angesetzt, im Zehner-, Fünfziger-, Hunderter- oder Tausenderpack sogar auf 40 bis 45 Cents. Auf den Websites, wo ihr mich zwischen Fernsehern, Matratzen, Waschmaschinen, Handyhüllen oder Baby-Nasenreinigern erwerben könnt, beträgt mein Preis zwischen 2,90 und 5 Euro. Die Gelbwesten-Bewegung hat für frischen Wind gesorgt. Händler haben Sonderangebote ausgeschrieben, „Warnwesten, drei für zwei“. Andere lancierten Westen „aus biologischem Stoff mit natürlichen Farbstoffen“. Die Welt gehört mir, der Planet kommt mir winzig vor. In den Häfen von Schanghai, Ningbo, Guangzhou oder Shenzhen besteige ich das Frachtschiff. Auf diesen Ozeanriesen, lang wie fünf Airbusse, mit bis zu 18 000 Containern beladen, fahre ich zwischen Hongkong und den Philippinen Richtung Malaysia und Südindien, dann zum Golf von Aden und hinein in den Suezkanal. Im Mittelmeer geht’s weiter durch die Straße von Gibraltar und dann durch den Golf von Biskaya.



Ich bin eine Umweltverschmutzerin

Die Reise dauert einen guten Monat, meine Schiffe sind die umweltschädlichsten der Welt, verantwortlich für bis zu 60 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes im Seetransport. Ich reise auch im LKW, und seit China die einstige Seidenstraße wiederherstellen will, komme ich manchmal auch im Zug, gemeinsam mit Elektronikartikeln, Telefonen, Kopfhörern und Textilien. 11 300 Kilometer durch sechs Länder bis nach Lyon. Bevor ich in euren Autos lande, döse ich in „Eco-Industrial Parks“ wie der Logistikzone von Saint-Martin-de-Crau, 150 Hektar, ideal gelegen zwischen den Häfen von Marseille und Fos-sur-Mer, wo sich französische Nationalstraßen und die Achse Spanien−Italien kreuzen. Um die 20 Lagerhallen, darunter eine der größten Frankreichs, die der Baumarktkette Castorama, 113 000 Quadratmeter. Früher war dieses steppenartige Gebiet, vom Mündungsdelta des Flusses Durance gestaltet, der Lebensraum für seltene Vogelarten wie das Spießflughuhn, die Zwergtrappe oder den Rötelfalken. Die menschliche Aktivität hat hier drei Viertel von ihnen zum Aussterben gebracht. In Frankreich wie in China verwüste ich die Landschaft.

Ich bin konform, ich bin eine Gelegenheit, ein Gegenstand der Vereinnahmung. Eure Regierungen unterdrücken euch und benutzen mich, um ihre Sicherheitsgesetze durchzudrücken. Die ehemalige rechte Hand von Marine Le Pen, Florian Philippot, ließ beim französischen Patent- und Markenamt das Markenzeichen „Gilets jaunes“ eintragen, genauso wie die Werbeagentur, die hinter dem Slogan „Sie ist gelb, sie ist hässlich, sie passt zu nichts, aber sie kann Ihr Leben retten“ steckt, sowie rund 20 Privatpersonen. Ich mache mir nichts vor. Auch das ist Business: Markenzeichen eintragen zu lassen. Ich werde immer bekannter. Demonstranten haben mich in Israel, Belgien, Spanien, Polen, Portugal, Bulgarien und in Deutschland getragen. In Ägypten hat die Regierung mit dem Verbot meines Verkaufs reagiert. Auch wenn euer Protest erlahmt, ich mache mir keine Sorgen. Vielleicht fordern eure Regierenden, dass ihr meine Farben wechselt, vielleicht meine Form, um einen Schlussstrich zu ziehen. Aber ich habe eine Zukunft in euren Sicherheitsgesellschaften. Ich reproduziere und vervielfältige mich dank eurer auf Wachstum basierenden Wirtschaft. Ich profitiere von neuen Normen, die jene auferlegen, die euch regieren. Die Gesellschaften, die sich an mir bereichern, haben das sehr wohl verstanden, es reicht, einen Blick auf den Jargon ihrer Internetauftritte zu werfen. Über Euro Protection: „Von Jahr zu Jahr entwickeln sich die europäischen Normen weiter und stellen immer höhere Anforderungen […]. Um sicherzustellen, dass unsere Produkte sämtliche Anforderungen der geltenden Normen erfüllen, ziehen wir mehrere benannte Stellen hinzu, die die Konformität der Produkte prüfen und bescheinigen. Hier einige dieser Stellen: Satra, SGS, Intertek, Inspec und CTC.“ Ich bin als „konform“ bescheinigt worden. Aber durch wen? Intertek beispielsweise ist ein multinationales Inspektions-, Prüfungs- und Zertifizierungsunternehmen mit Sitz in London. Ebenfalls börsennotiert, beschäftigt es über 42 000 Angestellte in 1000 Labors in rund 100 Ländern. Unter seinen Aktionären findet sich der berühmte Investmentfonds Black Rock. Kuriosum unserer Wirtschaft: Man lässt die Konformität eines Produkts, das von einem Unternehmen hergestellt wird, von dem Black Rock Aktionär ist, von einem Unternehmen prüfen, von dem Black Rock ebenfalls Aktionär ist. Dazu also dienen serienmäßig fabrizierte Normen. Ich bin eine Geldpumpe.

Sobald meine Fäden abgenutzt sind, werft ihr mich weg. Ich weiß es. Ihr wisst es auch. Ihr werdet euch kaum die Zeit nehmen, mich zu flicken. Wieder werde ich das Schiff besteigen, um in China verbrannt, begraben oder recycelt zu werden. Aber China hat es satt, die Müllkippe der Welt zu sein. Es schließt die Türen für den ausländischen Abfall. Und so platzen die französischen Mülltrennungszentren seit dem letzten Jahr aus allen Nähten. Der erste Reflex war, sich an andere asiatische Länder zu wenden, Vietnam, Malaysia und Indonesien. Aber die haben ihre Politik ebenfalls verschärft. Europa ist verloren, es gelingt ihm nicht, auf dem eigenen Territorium zu recyceln. Europa versucht Plastik zu verbieten, schiebt aber die Frist immer weiter hinaus. Vielfältige Interessen stecken dahinter. Ich bin gelb, nur ein paar Euro wert. Ich bin wie das Gemälde von Magritte, „Ceci n’est pas une pipe“, „Dies ist keine Pfeife“. Ich bin ein Verrat der Bilder. Ich bin die Verkörperung der Revolte, aber ich bin nicht die Revolte. Ich bin nur Massenware, von multinationalen Konzernen produziert, die euch dirigieren. Ihr glaubt, mich für eure Zwecke einsetzen zu können. Ich erwecke die Illusion, dass ihr mit mir Geschichte schreiben könntet. Aber ich bin eine Falle. Eine Fata Morgana. Gelb, heißt es, ist die Farbe der Lüge.

 

von Catherine le Gall, Simon Leplâtre und Léna Mauger

Dieser hier leicht gekürzte Text wurde zuerst in der Ausgabe #48 des in der Schweiz erscheinenden Magazins Reportagen veröffentlicht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 86-91

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