Hungrig nach Kunst und Musik
Der Soldat am Checkpoint schaut irritiert. Erst auf Hella Mewis, dann auf mich. „Entschuldigung, aber wohin wollen Sie bitte?“, fragt er auf Arabisch. Hella rollt genervt mit den Augen. „Ins Café Ridha Alwan“, sagt sie, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Ein zweiter Soldat steht etwas weiter hinten und nestelt nervös an seinem Maschinengewehr. „Ich kann Sie hier nicht durchlassen“, sagt Soldat Nummer eins in einem Ton, der suggeriert, er wisse selbst nicht genau, warum.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein“, ruft Hella aufgebracht, „ich bin Bagdaderin.“ Jetzt blickt der Soldat mich an, noch ratloser. Ich zucke mit den Schultern. Dann aber räuspert er sich, streckt seinen Rücken durch und will unsere Ausweise sehen. Er lässt uns passieren. „Manchmal stellen die sich aber auch an“, sagt Hella und winkt ein Taxi herbei.
Ich kann die verwirrten Soldaten verstehen. Ausländer bewegen sich normalerweise nicht frei in Bagdad. Sie leben und arbeiten hinter mehreren Schichten dicker Betonmauern, werden von bewaffnetem Sicherheitspersonal von A nach B gebracht und geraten außerhalb ihrer Arbeit in Botschaften, internationalen Organisationen oder Medienhäusern kaum in Kontakt mit der Bevölkerung. Bagdad gilt, unter anderem wegen der Entführungsgefahr, als eine der gefährlichsten Städte der Welt für Ausländer.
Hella Mewis ist anders. Zwar stammt sie nicht aus Bagdad, wie sie – blond und zierlich – dem zwei Köpfe größeren Soldaten entgegnete. Aber sie hat die irakische Hauptstadt zu ihrer Heimat gemacht. Als die 45-jährige Theatermanagerin aus Berlin 2010 das erste Mal über das Goethe-Institut nach Bagdad kam, wusste sie: Das wird mein Ort. Mit dem Ziel, die Stadt der Autobomben, Selbstmordattentäter und Milizen wenigstens ein bisschen zu verändern, hat sie das Künstlerkollektiv „Tarkib“ ins Leben gerufen. Denn dort sollen Kunst, Talent und Schönheit wieder zählen.
Es war ein langer und harter Weg. Hella musste sich das Vertrauen der Menschen erarbeiten, Kontakte zu einflussreichen Familien knüpfen, die ihr Schutz gewährten, und Neider in Schach halten. Stück für Stück schuf sie sich Freiheit in Bagdad.
Sie sagt, das sei alle Anstrengungen wert gewesen: „In Europa ist die Kunstszene gesättigt, alles ist schon mal da gewesen. Im Irak kann ich noch etwas bewegen.“ Zu ihrer Gruppe gehören viele Studenten, Hella ist für sie eine Art Mentor und Mutter geworden. Sie hat eine Villa gemietet, die sie gemeinsam mit ihren Künstlern renoviert und die demnächst als Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst eröffnet werden soll. Bis dahin nutzen sie das Haus vor allem, um Ideen auszutauschen. „Im Irak bedeutet Kunst zu studieren noch immer: auswendig lernen und das nachmachen, was der Lehrer vorgibt“, sagt Hella. „Ich möchte die Jugend dazu bewegen, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.“
Wie das aussehen kann, zeigen sie und ihr Künstlerkollektiv bei selbst organisierten Kunstfestivals, in Kurzfilmen, Installationen und Comics. Ihr derzeitiges Lieblingsprojekt sind Konzerte, die sie jeden Samstag an einem anderen Ort in der Stadt veranstalten. Diese Woche im Juli – bei 50 Grad, die Sonne brennt – stehen sie auf der Rashid-Straße, dem einstigen Prachtboulevard Bagdads. Sie platzieren sich vor einem alten Kino, in das früher Männer in Anzügen Damen in eleganten Kleidern ausgeführt haben, und in dem sich heute eine Autowerkstatt befindet.
Ein junger Mann namens Ameen setzt seine Violine an und beginnt zu spielen: Michael Jacksons „They don’t care about us“. Begleitet wird er von einem jungen Mann, der beatboxt, und einem Studenten mit einer persischen Trommel. Sofort bleiben die Leute stehen und holen, wie das heute so üblich ist, ihre Smartphones raus, um das Geschehen zu filmen. Nach nur wenigen Stücken beendet die Truppe das Konzert. „Die Leute müssen hungrig bleiben“, sagt Ameen, der Geiger und derzeitige Star der Truppe, „wir dürfen ihnen nicht zu viel auf einmal geben.“
Ameen weiß, was Hunger auf Kunst, auf Musik, auf Leben bedeutet. Er hat die vergangenen zweieinhalb Jahre in Mossul unter der Herrschaft des Islamischen Staates verbracht. Als die Islamisten seine Stadt übernahmen, trug er sein Cello auf das Dach seines Hauses und spielte „Thunderstruck“ von AC/DC, um wenigstens so seiner Wut und Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Dann versteckte er seine Instrumente im Haus, denn Musik galt unter dem IS als unsittlich und war verboten. Nachdem Mossul von der irakischen Armee zurückerobert wurde, floh er nach Bagdad und fand in Hellas Künstlerzentrum ein neues Zuhause. „Das Kollektiv hat mir meine Freiheit zurückgegeben“, sagt er.
Auch Hella ist zufrieden, als sie die verdutzte Menge sieht, die erst nicht weiß, wie sie mit dem Konzert umgehen soll und am Ende begeistert klatscht. Sie hat wieder einmal bewiesen, dass der Irak mehr ist als Krieg. „Manche meinen, ich sei ein bisschen verrückt“, sagt sie und lächelt, „wahrscheinlich haben sie recht.“
Theresa Breuer lebt als freie Journalistin in Beirut und bereist regelmäßig andere arabische Länder.
Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 128 - 129