Manche nennen es Nächstenliebe
Brief aus ... Beirut
Trotz Schubladendenken kommen die Libanesen ganz gut miteinander klar
Vor Gott sind alle Menschen gleich, heißt es in der Bibel. Auf Erden aber sind manche gleicher als andere, entgegnet die Menschheit und kontert die göttliche Maxime seit jeher mit Gewalt, Mord und Totschlag.
Um aus dieser scheinbar endlosen Schleife auszubrechen, hat der Libanon ein ganz eigenes Mittel für Gleichheit gefunden: die Schönheitschirurgie.
Nur so kann ich es mir erklären, dass meine Bekannte Vanessa und ihre Freundin Abeer einander noch nicht an die Gurgel gegangen sind. Denn außer ihrem Schönheitschirurgen, der ihre Brüste vergrößert und Nasen verkleinert hat, teilen die beiden Frauen nicht viel. Vanessa ist gläubige Christin. Wie die meisten modernen Anhänger ihres Glaubens geht sie regelmäßig an Weihnachten in die Kirche und identifiziert sich mehr mit den Phöniziern als den Arabern. Abeer ist Schiitin. Sie ist stolz auf ihr arabisches Erbe und steht felsenfest hinter der schiitischen Organisation Hisbollah, deren größtes außenpolitisches Anliegen es ist, den israelischen Staat auszulöschen.
Neulich spielte sich folgende Szene auf einer Dinnerparty in Beirut ab: „Ich weiß ja nicht, was ihr da immer für ein Problem habt“, sagte Vanessa und leerte in einem Zug das vierte Glas Wein, „natürlich steht den Juden das Land Palästina zu, so steht es schließlich in der Bibel.“ Abeers Augen weiteten sich, die rot lackierten Fingernägel krallten sich ins Tischtuch. „Wie kannst du es wagen, unseren Jahrzehnte währenden Kampf ins Lächerliche zu ziehen“, schrie sie, „und überhaupt, hast du kein Mitleid mit den Palästinensern?“
Am Ende des Abends verabschiedeten sich die beiden Freundinnen, wie das im Libanon so üblich ist, mit drei Küsschen auf die aufgespritzten Wangen.
Es sind Begegnungen wie diese, deretwegen ich mich in den Libanon verliebt habe. Ich kenne kein Land, in dem die Menschen derart diskriminierend denken und gleichzeitig derart gut miteinander klarkommen – abgesehen vom Bürgerkrieg 1975 bis 1990. Wenn man Vanessa fragt, was sie von Muslimen hält, sagt sie: „Die lieben den Tod und heiraten ihre Cousinen.“ Fragt man Abeer, wie sie über Christen denkt, sagt sie: „Die fühlen sich als was Besseres und biedern sich den Europäern an.“ Fragt man jedoch die beiden, was sie voneinander halten, zögern sie nicht: „Tolle Frau! Intelligent, humorvoll, eine sehr gute Freundin!“
Echte Toleranz? Fehlanzeige
Mit diesem Phänomen wurde ich bereits kurz nach meiner Ankunft im Land vertraut gemacht: „Das Tolle am Libanon ist“, sagte meine Studienbekanntschaft beim Kaffee, „dass hier 18 Religionsgemeinschaften friedlich zusammenleben.“ Es folgte eine Rede über Toleranz, Akzeptanz und Lehren, die ein Volk aus dem Bürgerkrieg gezogen habe. Dann wechselte sie das Thema: „Übrigens, kommst du nächstes Wochenende in unser Landhaus? Ich kann dir einen guten Fahrer besorgen. Er ist Christ, wie du und ich, du kannst ihm also trauen.“
Ich behaupte nicht, die Libanesen zu verstehen. Aber sie faszinieren und amüsieren mich. Denn obwohl sie oft in Schubladen denken, lassen sie sich ungern in solche stecken. Meine Freunde Jad und Roaa zum Beispiel. Das muslimische Künstlerpaar betont stets, wie wichtig es sei, innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft zu heiraten – und trinkt zum Mittagessen am liebsten Whiskey. Als ich sie fragte, ob es nicht heuchlerisch sei, konfessionelle Mischehen zu missbilligen, aber die eigenen religiösen Regeln zu missachten, sagte Jad: „Ach, nimm doch nicht alles immer so ernst.“ Dann schenkte er nach.
Das Misstrauen zwischen den Gruppen nimmt teilweise groteske Züge an. In meiner Nachbarschaft leben drei obdachlose Männer. Der Erste hält Touristen eine leere Pillenpackung vor die Nase und erzählt eine Mär von Medikamenten, die er dringend benötige; in Wirklichkeit kauft er sich von dem erbettelten Geld Lotteriescheine. Der Zweite füttert tagein, tagaus streunende Katzen, bis diese fett und unbeweglich werden. Und der Dritte? Er sitzt einfach nur am Straßenrand und verkauft Kaugummis. Neben ihm liegt ein Koran. „Halt dich von ihm fern“, warnte mich meine Nachbarin Maria beim Einzug, „das ist ein muslimischer Spion.“
Zugegeben, es gibt Momente, da wünsche ich mir echte Offenheit und echte Toleranz zwischen den Libanesen. Manche würden sagen: Nächstenliebe. Weil ich sie in Worten jedoch selten finde, konzentriere ich mich inzwischen auf das, was ich sehe.
Im Sommer fuhr ich mit einigen Freunden an den Strand. Neben uns kicherte eine Gruppe libanesischer Transvestiten über muslimische Mädchen in Ganzkörperbadeanzügen, die wiederum abschätzige Blicke auf westliche Ausländerinnen in knappen Bikinis warfen, die ihrerseits die Avancen dickbäuchiger, Wasserpfeife rauchender Macho-Libanesen abwehrten, die gleichzeitig Witze über die Transvestiten rissen.
Immerhin, dachte ich, während ich an meinem Cocktail schlürfte, immerhin legen sie sich alle an denselben Strand.
Theresa Breuer lebt seit einem Jahr als freie Journalistin in Beirut. Nach Stationen in Israel und Kairo wollte sie zurück in das Land, in das sie 2009 als Austauschstudentin gekommen war.
Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 130-131