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17. Sep 2006

Hirn, mehr Hirn!

Technologie

Die Hirnforschung macht spektakuläre Fortschritte. Doch eine konsistente Theorie
der menschlichen Kognition bietet sie nicht

Der Zahn der Zeit nagt an unseren langsam ergrauenden Köpfen. Einst lasen wir Adorno, heute eher die Apotheken-Umschau. „Die Entdeckungsreise durch unser Hirn hat gerade erst begonnen“, meldet diese frohgemut. Wohl wahr. Tief dringen die Forscher in das Innerste unserer Steuerungszentrale ein, um herauszufinden, wie dieser graue Wackelpudding es schafft, all unsere Gedanken und Erinnerungen, Handlungen und Gefühle hervorzubringen und zu lenken. Das Hirn ist das komplexeste Ding, das wir in uns haben. Man schätzt, dass dieses etwa 1,4 Kilogramm schwere Getüm aus etwa einhundert Milliarden Nervenzellen besteht. Und noch allerlei mehr. Jedes Neuron kann sich mit Tausenden anderen verschalten. Fest steht auch schon: Das Gehirn läuft nicht mit Windows.

Die Anfänge der Hirnforschung waren eher vom Zufall gesteuert. Berühmt wurde etwa der Bahnarbeiter Phineas Gage aus Vermont, dem 1848 bei einer Explosion eine Eisenstange den Kopf durchschlug. Ein Stück Hirn wurde zerstört. Gage überlebte. Doch der fröhliche, fleißige 25-Jährige war danach ein ganz anderer Mensch, ein muffeliger Typ, der keine Emotionen mehr spürte und auch keine Entscheidungen mehr fällen konnte. Sein Arzt glaubte, dass Zerstörungen im Frontallappen seines Gehirns die Veränderung bewirkten. Anfang 1990 führte ein Team an der Universität Iowa eine Art virtuelle Autopsie des Phineas Gage durch und verglich den Befund mit ähnlichen Fällen. Auch die Persönlichkeitsveränderungen waren ähnlich.

Viel Wissen über Hirnfunktionen kommt bis heute aus der Beobachtung von Menschen mit Hirnverletzungen und angeborenen Schäden. Doch steht den Forschern heute immer feineres Gerät zur Verfügung. Die 30 Jahre alte Computertomographie wird nun durch die Positronenemissionstomographie (PET) ergänzt, die schicke bunte Bilder liefert. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) blicken Wissenschaftler ins Innere des denkenden Gehirns – millimetergenau. Auch die Hirnstrommessung, die Elektroenzephalographie (EEG) ist weiter im Einsatz. Sie ist schneller als die bildgebenden Verfahren, arbeitet quasi in Echtzeit, lokalisiert das Geschehen aber nicht. Hinzu kommt die Magnetenzephalographie (MEG), die die Veränderung von Magnetfeldern sichtbar macht. So weiß man mittlerweile recht genau, wo im Hirn welche Funktionen erfüllt werden. Auch fürs winzige Detail gibt es neue Verfahren, die die Nervenzellmembran und das Geschehen im Innern des Neurons sichtbar machen. Die Gentechnik liefert ebenfalls neue Aufschlüsse. Durch „Knockout-Mäuse“ etwa, deren künstlich erzeugte Defekte Rückschlüsse zulassen auf die Wirkung bestimmter Gene.

Selbst am Krankenbett gibt es noch Überraschungen. So erregte unlängst der Fall des Amerikaners Terry Wallis Aufsehen, der 1984 von einem Pickup gestürzt und aufgrund seiner schweren Verletzungen 19 Jahre nicht ansprechbar war. Doch 2003 erwachte Wallis  überraschend wieder, konnte sprechen und sich bewegen. Er lernte seine nun 20-jährige Tochter kennen – was ein eigentümlicher Moment für ihn war, dachte er doch, er selbst sei erst 19 und Ronald Reagan sein Präsident. Die Ärzte waren erstaunt. Vor allem, als sie sich das Hirn des Patienten näher anschauten und feststellten, dass es in den Jahren der Genesung ganz neue Leitungen gelegt und völlig unbekannte anatomische Strukturen geschaffen hatte, um die Unfallschäden zu beheben.

So mehrt sich schnell das Wissen darüber, was sich so tut „hinter des Menschen alberner Stirn“ (Goethe). Und natürlich sind die Forscher stolz auf all ihre tolle Technik. Neuro ist in. Geld fließt. „In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren“, formulierten deutsche Neuroforscher in einem Manifest anno 2004, „wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind.“ Bald täglich kommen neue Meldungen aus der Neurowelt – Details über das Lernverhalten, über Verhaltensmuster und wo im Hirn was passiert beim Denken, Fühlen, Bewegen oder Erinnern. Kürzlich fand man gar eine Erklärung für den „Promi“-Wahn: Ein kalifornisches Forscherteam entdeckte, dass der Mensch auf Gesichter, die er ständig sieht, mit spezifischem Neuronenfeuer reagiert. So fand sich bei Testpersonen etwa eine Nervenzelle, die nicht nur auf das Gesicht der Schauspielerin Halle Berry reagierte, sondern auch auf die Buchstabenfolge ihres Namens. Ähnlich dürfte es deutschen Probanden bei Angela Merkel oder Sabine Christiansen ergehen.

Die Wissenschaft schreitet voran, werkelt an allerlei Sonden und Impulsgebern. Man möchte so Schlaganfälle behandeln, auch Sprachfehler und Depressionen. Einem Mann namens Matt Nagle, nach Stichverletzungen vom Nacken an gelähmt, haben Chirurgen, so berichtet Nature, den Kopf aufgebohrt und einen Chip implantiert, etwa so groß wie eine Tablette. An dem Chip hängen 96 Elektroden, die jenen Bereich des Cortex befühlen, der Bewegungen steuert. Wenn Nagle denkt: Arm nach links, erkennt ein angeschlossener Computer das in vielen Tests ermittelte Signalmuster und führt die entsprechende Bewegung aus. Eine Gruppe am Fraunhofer Institut in Berlin hat eine weniger invasive Methode entwickelt. Hier werden die Impulse über Elektroden von außen gemessen. Sicherheitspolitiker wollen die fMRT-Technik zur Terroristenabwehr einsetzen, „Neuromarketing“-Experten so mehr über das Shoppingverhalten der Kunden lernen. Schon ist von neuen Superdrogen die Rede, die das Glücksgefühl befeuern, die Erinnerung verdoppeln, die Intelligenz schärfen oder den Schlaf abschaffen sollen. „In zehn bis zwanzig Jahren“, meint der Biologe Russell Foster vom Imperial College London, werden wir den Schlaf pharmakologisch ausschalten können.“

Nur mit der Deutung hapert es noch. „Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit Zellen und Molekülen“, meint der Altmeister der Künstlichen Intelligenz, „aber ihnen fehlt der Überblick, sie formulieren keine Konzepte.“ Auch die Psychologen laufen zunehmend Sturm gegen das zuweilen nassforsche Gebaren der Neurokollegen und weisen auf deren dürftige Theoriebildung hin. „Dass sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar“, befand auch das deutsche Hirnforscher-Manifest selbstkritisch. „Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet.“ Die Buchse für den Gedankendownload, die kleine Antenne für den Gefühlsaustausch, das ultimative Brainstorming liegen also noch in weiter Ferne.

TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2006, S. 122-123

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