Hier bin ich, kritisiere mich!
Es fällt mir schwer, die Leistung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu beurteilen, denn auch die EU selbst kann ich nur schwer beurteilen. Dennoch aber finde ich, dass Deutschland den ewigen Ehrenvorsitz im Nochnichtvereinigten Europa voll und ganz verdient. Vor allem als Land, das übersetzt und veröffentlicht, das liest, diskutiert, das einlädt, Künstlerstipendien vergibt und Kulturprojekte realisiert.
Weil es noch sehr „osteuropäisch“ ist, kann Deutschland die Texte osteuropäischer Autoren besser verstehen und verarbeiten als jeder andere seiner „großen Partner“. Als Schriftsteller weiß ich, wovon ich spreche: Auf Französisch, Spanisch oder Italienisch hat keines meiner Bücher eine vergleichbare Lawine interessierter und engagierter Reaktionen ausgelöst.
Dabei geht es jedoch nicht nur um die geographische Lage oder historische Gefühle. Deutschland ist nach Osten offen. Für Deutschland sind nicht nur Breslau, Kaliningrad oder Prag wichtig, sondern auch die viel weiter entfernt gelegenen Städte Riga, St. Petersburg oder auch Lemberg und Czernowitz. Natürlich war die Kultur jeder dieser Städte früher einmal stark durch eine deutsche Komponente geprägt. Aber das ist nur die halbe Antwort auf die Frage „Was haben sie, die Deutschen, davon?“ Die ganze Antwort ist: Deutschland ist überhaupt offen. Es interessiert sich genauso für die türkische, die kaukasische, die afrikanische und jede andere Kultur.
Bekanntlich ist Offenheit ein Zeichen von Stärke. Die Stärke Deutschlands liegt darin, dass es viel an sich gearbeitet hat, an seiner Selbstironie gefeilt und in der Gesellschaft das Bedürfnis nach Selbstkritik kultiviert hat. „Hier bin ich, kritisiere mich“ ist, wie einer meiner Bekannten aus Münster meint, eine typisch deutsche Haltung.
Im März 2006 hatte ich einen wichtigen Preis bekommen und musste bei der feierlichen Eröffnung der Leipziger Buchmesse meine Dankesrede halten. Dankbarkeit ist ein sehr positives Gefühl, ohne das es keine Poesie gäbe, und ich war wirklich voller Dankbarkeit. Aber auch voller Bitternis. Ich war entsetzt von der Art und Weise, wie das politische Establishment der EU in Person eines der Vertreter des Kommissionspräsidenten sich weigerte, der Ukraine ihre europäische Perspektive zuzugestehen. Seine Einschätzung, die er im Interview für eine sehr einflussreiche deutsche Zeitung getroffen hatte, klang wie ein endgültiger Urteilsspruch: niemals. In meiner Rede brachte ich alles zum Ausdruck, was ich diesbezüglich empfand. Meine Dankbarkeit kam durch Bitternis und Sarkasmus zum Ausdruck. Ich warf Deutschland, seinen Politikern und seiner Gesellschaft vor, arrogant, ignorant und vor allem: verschlossen zu sein.
In der absoluten Stille, die im riesigen Saal herrschte, kaum dass ich zur Sache gekommen war, spürte ich das Krachen abgebrochener Brücken. Heute sage ich ihnen alles ins Gesicht, was ich denke, und morgen verschwinde ich von hier, um niemals wieder Gefahr zu laufen, mich der Illusion so genannter europäischer Verständigung hinzugeben. Ich beendete meine Rede in dieser Stille und schaute in den Saal. Erst eine Pause, dann sah ich, wie die Anwesenden sich fassten und zu applaudieren begannen. Es dauerte unaussprechlich lange – sogar länger, wie mir damals schien, als die Rede selbst. Da verstand ich, dass es Verständigung gibt, dass sie möglich ist. Gut, dass es ein Land gibt, das sie verwirklicht.
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Zur Leipziger Dankesrede Andruchowytschs siehe auch Matthias Greffrath: Zeigt uns der Osten unsere Zukunft?, Internationale Politik, Mai 2006, S. 62f.
JURI ANDRUCHOWYTSCH, geb. 1960, ist Schriftsteller, Vizepräsident des Ukrainischen Schriftstellerverbands und Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2006.
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 138 - 139.