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01. Juni 2005

Heuschreckenplage

Wie das Ausland die neue deutsche Kapitalismuskritik sieht

Den Ruf Deutschlands nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder herzustellen, gehörte zu den Meisterleistungen der deutschen Politik und Diplomatie. Als Resultat dieser Politik wird Deutschland im Ausland heute von keinem mehr gefürchtet und von vielen geachtet. Deutschlands Ruf hat allerdings unter der lange andauernden Wirtschaftsflaute gelitten.

Wenn in einer solchen Situation der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ausländische Finanzierungsgesellschaften, einige davon jüdischen Ursprungs, mit Heuschrecken vergleicht, eine Namensliste dieser Firmen veröffentlicht und das in eine Kapitalismuskritik einbettet, dann horcht das Ausland auf.

Ausländer wissen von der deutschen Geschichte im Allgemeinen wenig – mit Ausnahme der Nazi-Periode. Viele Amerikaner kennen Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, worin zu lesen ist, dass dem Holocaust eine lange Periode der Entmenschlichung vorausging. Viele wissen, dass Kaiser Wilhelm II. in einem Atemzug von „Juden und Insekten“ sprach, und dass es unter den Nazis gang und gäbe war, Gegner mit Tieren zu vergleichen.

Es ist erstaunlich, dass diese Informationen in der SPD nicht bekannt gewesen sein sollten. Ebenso unbegreiflich ist es, wie man unbescholtene Unternehmen auf eine Liste setzen kann, die sie als Profiteure an den Pranger stellen soll. Dabei handelte es sich um eine Liste mit relativ vielen jüdischen Namen, wie Kohlberg, Kravis, Roberts oder Goldman Sachs.

Als Journalist, der sich mit dieser Geschichte auseinander gesetzt hat, habe ich mich gefragt, ob die Deutschen wieder einmal dabei seien durchzuknallen. Die Reaktionen, die ich auf diese Frage aus dem Inland erhielt, waren zumeist empört. Es sei ungeheuerlich, Müntefering auch nur im Entferntesten mit der Nazi-Propaganda in Verbindung zu bringen. Schließlich kennten die meisten Deutschen „Münte“ als einen anständigen, vielleicht etwas einfach gestrickten Politiker, als sozialdemokratisches Urgestein, der zuweilen etwas derb sei, doch mit Sicherheit kein Rassist. Franz-Josef Strauß habe schließlich auch seine Gegner als Ratten und Schmeißfliegen bezeichnet.

Die Reaktionen, die ich aus dem Ausland erhielt, waren beunruhigender: zum Teil entsetzt, zumeist fragend und kopfschüttelnd. Warum beschweren sich die Deutschen über den Kapitalismus, anstatt endlich ihre Wirtschaft zu reformieren? Warum suchen sie die Schuld für ihr eigenes Politikversagen immer woanders? Als es den Briten in den siebziger Jahren schlecht ging, kam dort auch keiner auf die Idee, den Kapitalimus verantwortlich zu machen – schon gar nicht irgendwelche ausländischen Unternehmen. Wenn die Wirtschaft längere Zeit nicht funktioniert, dann liegt das fast immer an einer falschen nationalen Wirtschaftspolitik.

All diese Fragen drücken ein tiefes Unbehagen aus – wenn auch keine Angst. Deutschland ist militärisch, politisch und wirtschaftlich mittlerweile so schwach, dass sich keiner mehr vor ihm fürchtet. Der Schaden, den Franz Müntefering angerichtet hat, ist insofern begrenzt. Selbst wenn Deutschland durchknallen würde, who cares?

Aus deutscher Sicht ist diese Feststellung allerdings kein Trost. Denn Deutschland schadet sich selbst. Im Ausland fragt man sich schon seit längerer Zeit, wie lange die Deutschen noch an ihrem wirtschaftlichen Sonderweg festhalten wollen. Der in Deutschland so verschmähte angelsächsische Kapitalismus ist heute fast überall auf der Welt normal, nicht nur in den angelsächsischen Ländern selbst. Er ist das Wirtschaftssystem der Globalisierung, hat Einzug gehalten in Südostasien, in Indien und in China. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus haben sich die meisten neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ebenfalls für das angelsächsische Modell entschieden.

Nur in Deutschland und vielleicht noch in Österreich wird die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhardscher Prägung noch betrieben, ergänzt durch eine Fülle sozial- und christdemokratischer Gesetzgebungen wie etwa die Mitbestimmung oder das Entsendegesetz. Auch Frankreich hat seine Probleme mit dem angelsächsischen Kapitalismus, allerdings mit dem Unterschied, dass man dort ein wenig pragmatischer damit umgeht.

Man kann angesichts der nun seit über zehn Jahren andauernden deutschen Wachstumskrise die Frage stellen, ob die seit 1990 mit ihrer Wiedervereinigung beschäftigten Deutschen nicht begriffen haben, was um sie herum geschehen ist. Mit der Demokratisierung des Ostens und der in den letzten Jahren rasant beschleunigten Globalisierung rangiert Deutschland in der Skala marktwirtschaftlich orientierter Industriestaaten eher im unteren Bereich. Das war in den fünfziger Jahren noch anders.

Die anhaltende Wirtschaftsschwäche hat ohnehin schon zu einer Umorientierung internationaler Investoren geführt. Die Rhetorik des SPD-Vorsitzenden und vor allem dessen steigende Popularität in Deutschland werden diesen Trend noch beschleunigen. Früher kam man als Investor an Deutschland nicht vorbei. Deutschlands Industrie war der Motor Europas. Internationale Investoren konnten mit der Sozialen Marktwirtschaft nicht viel anfangen, aber sie waren pragmatisch. Sie wunderten sich zwar darüber, dass in Deutschland die Gewerkschaften in den Aufsichtsräten vertreten sind, dass man Angestellte zwar einstellen, aber nicht entlassen darf, und vor allem, dass alle Geschäfte zur gleichen Zeit schließen. Aber solange man in Deutschland Geld verdiente, ertrug man die Soziale Marktwirtschaft mit Fassung.

Das ist heute nicht mehr so. Die Profitmargen in Deutschland sind längst gesunken, genauso wie Deutschlands relative wirtschaftliche Bedeutung im Zeitalter der Globalisierung. Im Gegensatz zu früher kommt man heute an Deutschland grundsätzlich vorbei. Der Chef einer der größten internationalen IT-Firmen sagte vor kurzem in einem vertraulichen Gespräch mit europäischen Wirtschaftspolitikern, der Grund, warum seine Firma in China und nicht mehr in Deutschland investiere, habe nichts mit den Arbeitskosten zu tun, sondern damit, dass die Chinesen besser ausgebildet seien. Die Politiker staunten nicht schlecht. Der globale Wettbewerb, dem Deutschland mittlerweile ausgesetzt ist, hat sich zuungunsten Deutschlands verändert.

Eine der weisesten Aussagen über die Europäische Union ist die, wonach es nur zwei Typen von EU-Ländern gibt: kleine Länder, die sich als solche verstehen und kleine Länder, die es nicht tun. Deutschland ist eines dieser Länder mit der Neigung, sich zu überschätzen. Mit Kapitalismuskritik und Verleumdung wird es keines seiner Probleme lösen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 78 - 79.

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