Essay

01. Jan. 2020

Herde statt Werte

Das optimistische, individualistische Menschenbild der europäischen Aufklärung erlebt im digitalen Zeitalter einen bösen Realitätsschock – denn Chinas Gegenentwurf der staatlichen Förderung menschlichen Herdenverhaltens mittels digitaler Konditionierung gewinnt im Systemwettbewerb an Boden.

1. Der Systemwettbewerb mit China ist im Kern ein Kampf um das Menschenbild. Das europäische Ideal des eigenverantwortlichen Individuums ist durch digitale Verhaltenskonditionierung fundamental bedroht. Aus chinesischer Sicht ist das Menschenbild der europäischen Aufklärung eine historisch vergängliche Luxuserscheinung in einigen wenigen reichen Gesellschaften.



Das autonom denkende, entscheidende und handelnde Individuum, das dem optimistischen Menschenbild der europäischen Aufklärung Auftrieb verlieh, wird in Zeiten von interaktiven digitalen Medien, Gamification und Künstlicher Intelligenz immer stärker infrage gestellt: Die Datenmassen der Plattformunternehmen, der Gaming- und der Werbeindustrie belegen, wie auswertbar, musterhaft-nichtindividuell und manipulierbar die Bedürfnisse und Präferenzen von Menschen tatsächlich sind – und wie empfänglich die Mehrheit der „Netizens“ ist für gezielte Manipulation von Informationen und Emotionen. Influencer-Follower-Netzwerke, also digitale Meinungsführerschaft und Gefolgschaft, sind zu einem machtvollen Vehikel der Steuerung von kollektivem Nachahmungsverhalten geworden.



In zugespitzter metaphorischer Sprache: Interaktive App-Ökosysteme sind ein Tummelplatz für modernes menschliches Herdenverhalten. Dieses Herdenverhalten zeigt sich in der Nachahmung vorgeprägter Muster von „Lifestyle“, „Fashion“ und „Looks“ bis hin zur Positionierung in In-/Out-Themen oder kollektiven Online-Anprangerungen („shit storms“). Was uns aus sozialen Medien, Gaming-Industrie und digitaler Werbung entgegentritt, ist nicht das Bild selbstbewusster, mündiger Individuen. Wir sind Zeugen einer Pandemie des Herdenverhaltens.



Herden- und Nachahmungsverhalten ist, wie Neurowissenschaften und Behavioral Economics in einer Unmenge von experimentellen Studien demonstrieren, trotz aller staatlichen und gesellschaftlichen Bemühungen um individuelle Bildung, Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung stets ein bestimmendes Element der menschlichen Natur geblieben. Von kollektiven Sicherheits- und Ordnungsbedürfnissen oder von blanker Angst und Terror getriebenes Herdenverhalten bildet eine maßgebliche Grundlage für die wiederkehrende Errichtung autoritärer und totalitärer Ordnungen. Und aus diesem Grunde kommt die digitale Proliferation von Herdenverhalten dem Ordnungsentwurf zugute, den die Kommunistische Partei Chinas immer selbstbewusster ausgestaltet und weltweit vertritt.



2. Der Ordnungsentwurf der KP Chinas geht von einem Menschenbild aus, das sowohl mit leninistischen Prinzipien als auch mit dem digitalen Zeitalter kompatibel ist: Menschen werden als lenkungsbedürftige Herdenwesen verstanden.



Diese Herde kann unter einem weisen, strengen Großhirten zu einer friedfertigen, produktiven und technologisch innovativen Gesellschaft geformt werden – sofern sie von wachsamen Hütehunden beschützt und von loyalen Pionier-Unterhirten beweglich gehalten wird.



Chinas kommunistische Revolutionäre und Staatsgründer hatten den westlichen Individualismus stets als bourgeoise Nebelkerze abgelehnt und eine enge Lenkung der „Massen“ durch eine politische Avantgarde für unabdingbar gehalten. Mao Zedong und Deng Xiaoping allerdings hatten nicht die digitalen Machttechnologien zur Verfügung, auf die Xi Jinping heute zurückgreifen kann. Chinas Modell für die digitale Zivilisation ist eine agile hierarchische Ordnung, die gezielt und lückenlos digitale Steuerungstechnologien einsetzt, um eine konfliktanfällige Massengesellschaft in politisch definierte Bahnen zu lenken. Dieses chinesische Modell bietet auf dem heutigen Stand eine beängstigend produktive Kombination aus politischer und kommerzieller Konditionierung einerseits und wirtschaftlicher und technologischer Agilität andererseits. Eine solche Ordnung erscheint besonders kompatibel mit den Möglichkeiten der entstehenden digitalen Zivilisation und hat das Potenzial, zum Leitbild für andere Regierungen und Gesellschaften zu werden, die auf der Suche nach politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität sind.



3. Plattformunternehmen wie Alibaba oder Tencent und Innovationschampions wie Huawei fungieren als autorisierte „Unterhirten“. Sie müssen unter Aufsicht der politischen Zentrale unbegrenzte Datenmassen zur Auswertung und Steuerung für staatliche Organe bereitstellen.



Die Metapher des Herdenverhaltens lässt sich auf weitere Besonderheiten des chinesischen Kontexts übertragen. Chinas politisch gezielt geformte Herdenordnung wird von einem weisen Hirten – dem Parteichef und seiner Parteizentrale – gelenkt. Dieser Hirte ist in der Lenkung seiner Herde auf eine differenzierte Arbeitsteilung von Unterhirten und Hütehunden angewiesen. Denn die Herde braucht sorgsam geförderte Pioniere und Vorbilder, um agil und innovativ zu bleiben. Individuelle Pioniertaten, insbesondere in Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft, werden propagiert, sofern diese im Rahmen der offiziellen Parameter sozial und politisch nützlich sind und solange die Systemidole übergeordnete Ziele wie einen unhinterfragten Nationalismus oder ungehemmte Technologiebegeisterung popularisieren.



Aus der Sicht der Zentrale dürfen Chinas Pioniere jedoch keinesfalls einsame Querdenker sein. Sie müssen vielmehr davon angetrieben sein, aus der Herde hervorzutreten und übergeordnete Positionen in der offiziellen Ordnung zu erlangen – ohne die politische Hierarchie infrage zu stellen. Rang und Einordnung in der Herde, nicht aber individuelle Macht oder gar politische Freiheit, sind akzeptable Werte. Jack Ma, Gründer von Alibaba und Vorzeigemitglied der Kommunistischen Partei, repräsentiert dieses Verhaltensprofil in vorbildlicher Weise als loyales Idol für das digitale Zeitalter.



Dies alles findet unter den wachsamen Augen machtvoller Hütehunde (Cyberadministrationen auf allen Verwaltungsebenen, digital hochgerüstete Staatssicherheitsorgane, staatliche Server- und Cloud-Betreiber etc.) statt, die im Zweifelsfall schnell und schmerzhaft zubeißen können und auf diese Weise Unterwerfung und Disziplin erzwingen. Diese Wächter sind angewiesen, den Pionier-Unterhirten einen vergrößerten Handlungsspielraum zuzugestehen. Denn die Suche nach neuen Weideplätzen (Märkten) und neuen Nahrungspflanzen (Rohstoffe, Produkte, Geschäftsmodelle) ist politisch im Sinne des obersten Hirten und im Interesse des übergeordneten Herdenverbands (Nation).



4. Chinas digital hochgerüsteter Staat wird zu einem agilen Konditionierungsapparat für Gesellschaft und Wirtschaft.



KI-basierte Gesichts-, Stimm- und Gang-Erkennung, kombiniert mit analytischen Kameras im öffentlichen Raum und dem allgegenwärtigen Smartphone, das beständig Mobilitäts-, Kommunikations- und Transaktionsdaten liefert – das sind machtvolle Instrumente in den Händen der Kommunistischen Partei. Es geht nicht nur um Überwachung und Früherkennung vermeintlich oder tatsächlich abweichenden Verhaltens. Es geht darum, pausenlos Datenströme über alle menschlichen Interaktionen auszuwerten und auf dieser Basis das individuelle und kollektive Verhalten mit Anreizen und Sanktionen in die gewünschte Richtung zu steuern. Alle natürlichen und juristischen Personen, auch die Behörden, generieren einen permanent aktualisierten Datensatz, aufgrund dessen man ihr Verhalten bewerten und steuern kann. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Vertrauenswürdigkeit wird dann nicht mehr durch menschliche Interaktionen und formales Recht oder Verträge, sondern durch die Datensätze und Bewertungen von Vertrauenswürdigkeits-Apps hergestellt, also durch staatlich organisiertes „Social Scoring“.



„Big Brother“ oder „Auge Saurons“ sind als Metaphern für dieses Kontrollsystem unzureichend. Chinas Regierende streben an, dass die Menschen das System derart verinnerlichen, dass sie die Steuerung durch die Partei gar nicht mehr wahrnehmen. Es soll dann keine inneren Widerstände mehr geben. Fremdbestimmung und Fernsteuerung sollen zu einem selbstverständlich akzeptierten Teil des Lebens werden. So kann, wenn es nach dem Willen der Planer in Peking geht, ein sich selbst exekutierendes Überwachungssystem entstehen, das nach der vollen Entfaltung sogar kaum mehr Polizisten erfordert. Denn Regelverletzungen werden durch Mitbürger und Geschäftspartner sozial geächtet – ohne aktives Zutun staatlicher Behörden. Alle müssen sich selbst disziplinieren und anpassen, sonst fallen sie durch den Verlust ihrer Vertrauenswürdigkeit automatisch aus der Gesellschaft heraus. Digitale Lenkung ermöglicht, wenn sie staatlich derart ungehemmt genutzt wird wie in China, eine beständig intensivierte, nicht mehr obrigkeitliche, sondern gesellschaftlich verankerte und exekutierte Verhaltenssteuerung.



5. KI ist ein perfektes Instrument in den Händen einer kommunistischen Partei.



Künstliche Intelligenz bietet Möglichkeiten zur zentralisierten Auswertung ungeheurer Datenmengen, zur Muster- und Abweichungserkennung und zur zentralisierten Steuerung ohne aktives menschliches Zutun. Die besondere Stärke der KI besteht darin, kollektiv optimierte Steuerungsergebnisse für die größtmögliche Zahl zu bewirken, also die chaotische, selbstsüchtige Suche Einzelner nach dem individuellen Glück zu überwinden. Diese Ambitionen gehörten zu den zentralen Zielen kommunistischer Revolutionäre seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Der IT-Investor Peter Thiel hat KI deshalb treffend als „kommunistisch“ gekennzeichnet.



KI aber wird nach einer Erprobungs- und Optimierungsphase auch ohne die menschlich defizitäre Organisation einer kommunistischen Partei funktionieren. Deshalb wird sich Chinas Ordnungsentwurf mittels exportierbarer KI-Großsysteme in anderen Ländern und Gesellschaften installieren lassen, ohne dass dort zuerst eine Staatspartei aufgebaut werden muss. KI wird die kommunistische Agenda einer kollektivierten, konfliktfreien Gesellschaft, die im 20. Jahrhundert komplett scheiterte, für das 21. Jahrhundert fortentwickeln. Und sie wird das weitaus wirkungsvoller tun als alle autoritären Staatsparteien in Vergangenheit und Gegenwart. Die Urvisionen der kommunistischen Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts können dank Künstlicher Intelligenz endlich erreichbar werden: eine zentralisierte Planung, Steuerung und Programmierung von Wirtschaft und Gesellschaft zur Überwindung aller historischen und aktuellen Defekte und Konflikte.



6. Das in China entstehende digitale Panoptikum verwirklicht einen Traum der Leninisten: Alles und jeder ist jederzeit von der Zentrale aus beobachtbar. Die Formung eines „neuen Menschen“ wird möglich.



Die Idee der perfekten Überwachung vieler Menschen durch einen einzelnen Aufseher hatte Jeremy Bentham ursprünglich als Ordnungsform des „Panoptikums“ beschrieben. Diese Vision war im industriellen Zeitalter mit seinen schwerfälligen Großorganisationen, massenhaftem Ausweichverhalten und vielfältigen Beobachtungslücken niemals konsequent realisierbar. Die Verschmelzung von neuen digitalen Technologien mit den traditionellen Kontrollinstrumenten der KP-Herrschaft aber bereitet nun den Weg für einen wesentlich effektiveren digitalen Leninismus, wie er in China zielgerichtet aufgebaut wird. Im chinesischen Überwachungs- und Konditionierungssystem weiß der Einzelne nicht mit Gewissheit, ob er tatsächlich beobachtet wird. Er weiß aber, dass er jederzeit sichtbar ist und beobachtet werden kann, und deshalb wird er sein Verhalten in vorauseilendem Gehorsam anpassen müssen.



Auch hinter den Ambitionen des chinesischen Sozialkreditsystems steht die Idee des „neuen Menschen“: der Traum einer Zivilisation, in der menschliches Verhalten so verändert wird, dass es dauerhaft kollektiv und im Sinne der Regierenden kompatibel ist. Das neue Vertrauenswürdigkeitssystem wird den Chinesinnen und Chinesen – im Kontrast zu traditionellen Instrumenten wie Massenmobilisierung und staatlichem Terror – als technologiebasierter Fortschritt verkauft, der das Leben des Einzelnen leicht, sicher und transparent machen soll. Und tatsächlich begrüßen es viele, einfach direkt per Scoring-App nachschauen zu können, ob der Mensch, den sie da treffen, oder die Firma, mit der sie eine Lieferbeziehung eingehen wollen, vertrauenswürdig sind. Das eigene Urteil spielt für die Einschätzung keine Rolle mehr. Denn es gibt nun vermeintlich objektive Datenprofile als Beurteilungsgrundlage.



7. Wenn wir das Vordringen digitaler Manipulation von Präferenzen und Verhalten nicht wirkungsvoller verhindern als bisher, werden wir mit zeitlicher Verzögerung das bekommen, worauf es in China hinausläuft: eine politisch und kommerziell gesteuerte Herdenveranstaltung.



Mit der Pandemie des Herdenverhaltens im digitalen Zeitalter wird das Menschenbild der chinesischen Regierung in vielen Gesellschaften voraussichtlich an Boden gewinnen. Der Systemwettbewerb zwischen China und dem Westen, der sich zunächst vor allem in Wirtschaft und Technologie manifestierte, spitzt sich nun auch in Politik und Ideologie zu. Und der Konflikt dreht sich ganz fundamental um das Menschenbild.



Sollte sich China mittelfristig als das wirtschaftlich-technologisch überlegene System erweisen und Chinas Wirtschaft 2050 tatsächlich doppelt so groß sein wie die der USA, dann wird dies globale Konsequenzen für das Regieren im 21. Jahrhundert haben. Womöglich wird die chinesische Sicht von Gesellschaft und Wirtschaft als steuerungs- und überwachungsbedürftiger Herdenordnung dann einen Siegeszug über den Globus antreten. Und China wird sich als politische und wirtschaftliche Ordnung darstellen, die alle Möglichkeiten der digitalen Zivilisation am effektivsten nutzen kann.



Der Systemwettbewerb mit China dreht sich also im Kern um Fragen, die politischen Institutionen, Technologiewettbewerb und Sicherheitsbedrohungen vorausgehen: Es geht um die Rolle und Rechte des Menschen in den Gesellschaften der Zukunft. China bietet eine auf digitale Konditionierung und Kontrolle gerichtete Ordnungsalternative. Diese Ordnung steht im radikalen Gegensatz zum Menschenbild liberaler Demokratien und Marktwirtschaften.



Die chinesischen Vorstellungen einer dem Digitalzeitalter gemäßen Ordnung von Mensch, Gesellschaft, Märkten und Regierung aber gewinnen an Anziehungskraft in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern. Denn China verheißt umfassende technologische Systemlösungen für politisch instabile, wirtschaftlich wenig produktive und konfliktgeprägte Gesellschaften und insbesondere für die Neuorganisation wild wuchernder Ballungsräume mit mehr als 15 Millionen Einwohnern. Es geht um praxisbewährte Systemlösungen in großen chinesischen Dimensionen für Infrastruktur, Wohnraum, Mobilität, Energie, Umwelt und Sicherheit. Chinesische Überwachungstechnik für öffentliche Räume und Online-Kommunikation ist gegenwärtig bereits in mindestens 18 Ländern im Einsatz.



Wir Europäer unterschätzen sträflich, wie stark die Nachfrage nach chinesischen „Smart City“-Modellen mit deren Infrastruktur- und Sicherheitstechnik in vielen Ländern ist. Wir können nicht von vornherein ausschließen, dass die in China ausgestaltete Ordnungsform auf einem immer dichter bevölkerten und konfliktanfälligen Planeten Frieden, Wohlstand für viele oder sogar ökologische Nachhaltigkeit ermöglichen kann. Aber die Idee der menschlichen Freiheit, Selbstbestimmung und Aufklärung käme mit der weltweiten Verbreitung des chinesischen Ordnungsentwurfs an ihr digitales Ende.



8. Was können freiheitliche Gesellschaften Chinas digitalen Machttechnologien entgegensetzen?



Wenn wir Europäer das verteidigen wollen, was wir in den vergangenen Jahrhunderten erkämpft haben – individuelle Freiheiten und Wahlmöglichkeiten –, dann steht dem die digitale Transformation in vielen Lebensbereichen entgegen. Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist ein Ausdruck dieses Konflikts. Chinas Sozialkreditsystem und Überwachungsstaat bieten einen Gegenentwurf. Auch in China ist die widerstandslose Durchsetzung von sozialer und politischer Konformität dauerhaft keinesfalls so gewiss, wie es Chinas Planer suggerieren. Die technischen Großsysteme, auf denen der digitale Leninismus basiert, sind höchst verwundbar. Und die gesellschaftlichen Reaktionen auf allgegenwärtige Überwachungssysteme und Verhaltenssteuerung werden sich erst manifestieren, wenn die Systeme alle Lebensbereiche erfassen und im Alltag nicht mehr umgangen werden können.



Sich auf ein Straucheln oder gar auf einen Kollaps des chinesischen Systems zu verlassen, wäre fahrlässig. Die KP Chinas hat uns in der Vergangenheit immer wieder mit bemerkenswerter Lern- und Anpassungsfähigkeit überrascht. Deshalb dürfen wir nicht auf chinesische Abstürze hoffen. Vielmehr ist eine konsequente Auseinanderhaltung von europäischen und chinesischen Digitalsphären und Steuerungsmodellen erforderlich, auch wenn dies wirtschaftliche Kosten und politische Konflikte in den Beziehungen zu China verursachen wird. Die Diskussion um die Rolle des chinesischen Telekom-Ausrüsters Huawei im 5G-Netzausbau ist hier nur der Anfang. Im Anschluss muss es um die weltweite Kommunikations-, Transaktions- und Datenauswertung gehen, die insbesondere Tencents „WeChat“-App und Alibabas E-Commerce-Imperium ermöglichen. Die nicht nur in China, sondern auch in der globalen Diaspora vieler Millionen Überseechinesen dominierenden Ökosysteme von Alibaba und Tencent spülen gewaltige Datenmengen auf staatlich kontrollierte Serversysteme in China.



Die Bekämpfung manipulativer Datenauswertung und Verhaltenssteuerung muss nicht nur nach außen gegenüber chinesischen oder russischen Anbietern geführt werden, sondern auch nach innen gegen die marktbeherrschenden kommerziellen Plattformunternehmen, die überwiegend in den USA verankert sind. Die viel beschworene „digitale Souveränität“ wird Europa nur erlangen können, wenn einerseits inakzeptable Praktiken der Datensammlung und Verhaltensmanipulation von außereuropäischen und europäischen Anbietern unterbunden und andererseits konkurrenzfähige europäische Angebote im Binnenmarkt etabliert werden können.



Die alles entscheidende Frage besteht darin, ob die Menschen, Gesellschaften und politischen Institutionen Europas die Kraft finden, zumindest Kernbereiche von Entscheidungsfreiheit in der manipulativen Welt der digitalen Plattformen zu verteidigen und zu erhalten. Es gibt viele konkrete Handlungsansätze. Teile unserer europäischen Gesellschaften und Regulierer bäumen sich gegen Verhaltenskonditionierung und Herdenverhalten auf. Denn wer will schon bei wachem Verstand zum menschlichen Äquivalent eines Schafes, Lemmings oder gar Insekts reduziert werden?

Prof. Dr. Sebastian Heilmann ist einer der international bekanntesten Chinaexperten aus Europa. Heilmann 
hat den Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier inne. Von 2013 bis August 2018 war er als Gründungsdirektor des in Berlin ansässigen Mercator Institute for China Studies (MERICS) tätig.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 102-107

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