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01. Mai 2017

Hauptsache teuer

Dass der Kreml auf scheinbar unrentable Energieprojekte setzt, hat System

In der russischen Energiepolitik stehen wirtschaftliche Erwägungen längst nicht an erster Stelle. Durch die engen Verflechtungen zwischen Staatskonzernen und Kreml-Führung werden kleine und mittlere Unternehmen vom Markt gedrängt und machtpolitisch relevante Großprojekte vorangetrieben – auch wenn sie ökonomisch unsinnig sind.

Immer wieder sind große, unverhältnismäßig kostspielige russische Rohstoff- und Pipeline-Projekte in den Medien als wirtschaftlich unrentabel und schwerfällig kritisiert worden. Betrieben werden sie von Staatskonzernen, die potenzielle (oder auch nur vermeintliche) Gewinne schon abschöpfen, bevor sie überhaupt einen größeren wirtschaftlichen Nutzen entfalten könnten – und das, meiner Ansicht nach, aus rein politischen Gründen: Sie dienen dazu, der Führungsriege um Präsident Wladimir Putin noch größeren wirtschaftlichen Einfluss zu verschaffen und internationale Partnerschaften zu stärken. Die Wirtschaftlichkeit und Marktfähigkeit dieser Unternehmen sind dabei nahezu irrelevant. Mit dieser Strategie verfügt der Kreml über ein politisches und wirtschaftliches Machtinstrument, das westlichen Regierungen nicht zur Verfügung steht.

Der Großteil der Rohstoffvorkommen des Landes befindet sich in Westsibirien; dort gibt es Hunderte Öl- und Gasfelder. Manche wurden bereits zu Sowjetzeiten erschlossen und erschöpft, andere wiederum bieten immer noch gute Perspektiven für Industrie und Wirtschaft. Meist handelt es sich dabei um kleine oder mittelgroße Vorkommen, die auf dem Gebiet vormals größerer Felder, so genannten Brachflächen, liegen. Westsibirien, auch als Nadym-Pur-Taz-­Region bekannt, ist eine der rohstoffreichsten und industriell erschlossensten Gegenden der Welt. Hier gibt es sowohl die Infrastruktur wie Pipelines und Verarbeitungsanlagen als auch qualifiziertes Personal.

Auch wenn in dieser Region keine großen (oder im russischen Bürokratiesprech „strategischen“) Rohstoffvorkommen mehr zu finden sind, ist sie noch immer ressourcenreich und industrialisiert genug, um nicht vollends an wirtschaftlicher Strahlkraft zu verlieren. Im Grunde ist diese Region mit dem US-Bundesstaat Texas vergleichbar, der mehr als hundert Jahre lang zum amerikanischen Energiestandort entwickelt wurde. Heute ist er vor allem deshalb noch wirtschaftlich lebendig, weil sich – schon lange vor Beginn des Booms von Schieferöl und -gas – Hunderte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) dort angesiedelt haben. Diese bestehen teilweise nur aus einer Handvoll Geologen und Managern und sind finanziell und strukturell flexibel genug, um selbst kleinste Öl- und Gasfelder zu bewirtschaften, die für global agierende Konzerne mit größeren Kapazitäten und größerem Produktionsvolumen oftmals uninteressant wären.

Groß, größer, Gazprom

Die russische Regierung schafft allerdings weder in Westsibirien noch anderswo echte Anreize für KMU. Die meisten ausländischen KMU verließen das Land bereits zu Beginn der Putin-Ära, in der ihr Anteil an der nationalen Produktion zusehends dahinschmolz – vornehmlich aufgrund der „Nationalisierung“ der Industrie und des Wachstums von Staatsunternehmen wie Gaz­prom und Rozneft sowie vermeintlich privaten, aber de-facto regimenahen Konzernen wie Novatek, NNK und Lukoil.

Die Vereinigung kleiner unabhängiger Öl- und Gasproduzenten Assoneft veröffentlichte vor Kurzem eine Übersicht der vergangenen 20 Jahre der Ölförderung in Russland. Sie zeigt, dass staatliche Unternehmen den Sektor mittlerweile dominieren – ihr Anteil vergrößerte sich von 7 Prozent im Jahr 1995 auf 63 Prozent im Jahr 2016 –, während wirklich unabhängige Kleinproduzenten 1995 mit 4 Prozent am Markt teilhatten, diesen Anteil bis zur Jahrtausendwende auf 8,8 Prozent ausweiteten, dann allerdings unter Putins Herrschaft wieder an Boden verloren. Seither haben sie sich wieder auf ihrem Ausgangsniveau von 4 Prozent eingependelt.

Eines der ersten Anzeichen dafür, dass der Kreml es vorzieht, das wirtschaftliche Potenzial der Nadym-Pur-Taz-Region nicht vollends auszuschöpfen und stattdessen in kostspielige Großprojekte an anderen Standorten zu investieren, war die Entscheidung, das Prirazlomnaya-Ölfeld zu erschließen. Dieses Ölfeld liegt in der Petschorasee, südlich von Nowaja Semlja. Um hier offshore erfolgreich nach Öl zu bohren, benötigte man eine teure, eisfeste Bohrinsel. Das Projekt kostete insgesamt 1,5 Milliarden Dollar und zog sich aufgrund von Bauverzögerungen über mehr als ein Jahrzehnt hin. Trotzdem strichen die Schiffswerften Sewmasch und Sowcomflot sowie andere von Putin-Vertrauten kontrollierte Firmen in dieser Zeit viel Geld aus üppigen Verträgen ein.

Auch der Gasriese Gazprom scheute keine Kosten, wenn es um die Erschließung neuer Produktionsstandorte ging. Dabei hätte sich der Umsatz auch an den bereits vorhandenen Standorten leicht steigern lassen: Man hätte Gasverluste in Fernleitungen durch strengere Kontrollen unabhängiger Gutachter reduzieren und die effizientere Nutzung von Erdölbegleitgasen nach Vorbild der EU anstreben können, oder man hätte kleinen und mittleren Unternehmen Zugang zu kleineren Rohstoffvorkommen und zum einheitlichen Gasversorgungssystem Russlands verschaffen können. Doch all diese Optionen schienen weder den Kreml noch Gazprom zu interessieren. Stattdessen investierte man selbst im direkten Anschluss an die Finanzkrise, in einer Zeit fallender Energiekosten, weiter in teure Projekte, die vornehmlich die Taschen von Insidern füllten.

Die russische Elite um Putin scheint in Bezug auf große Energieprojekte dem Motto „Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren“ zu folgen. Anstatt die Industrie in der Nadym-Pur-Taz-Region oder an anderen kostengünstigen Standorten im Herzen Russlands weiter auszubauen, begann Gazprom 2012 nach jahrelangen Verzögerungen, das Bowanenkowo-Ölfeld auf der abgelegenen Jamal-Halbinsel zu erschließen. Um dieses Vorhaben überhaupt zu ermöglichen, mussten Unmengen an russischen Steuergeldern in den Straßen- und Schienenbau sowie andere Infrastrukturprojekte investiert werden. Gleichzeitig erhielt Gazprom zahlreiche Steuererleichterungen.

Verdeckte Lobbyarbeit

Anfang der 2000er Jahre beauftragte Putin Gazprom mit einem weiteren Offshore-Projekt: der Erschließung des Schtokman-Gasfelds, das 500 Kilometer vor der russischen Küste im arktischen Schelf liegt. Die Förderbedingungen sind dort so schwierig und kostspielig, dass Gazprom westliche Experten zu Rate ziehen und ausländische Technologie anschaffen musste. Tatsächlich hatte der Kreml das Projekt, das von Anfang an ein Verlustgeschäft zu werden drohte, gerade aus diesem Grund in Auftrag gegeben. Putin versuchte, große und gut vernetzte internationale Ölkonzerne wie Statoil, Norsk Hydro, Total, Chevron und ConocoPhillips langfristig politisch und wirtschaftlich an Russland zu binden. Diese Konzerne verfügten in ihren Herkunftsländern über beispiellosen Einfluss. Putin betrachtete sie als politische Instrumente, mit deren Hilfe er im Endeffekt verdeckte Lobbyarbeit bei den jeweiligen Regierungen würde verrichten können. Mehrmals verhandelte Gazprom mit den größten internationalen Ölkonzernen. Als die globale Nachfrage nach Erdgas 2010 sank und die Gaspreise fielen, wurde das Vorhaben begraben, weil es selbst für russische Maßstäbe zu unrentabel wurde.

Doch das Schtokman-Projekt sollte nur eines von vielen weiteren ungewöhnlichen Infrastrukturprojekten im arktischen Raum werden. Das so genannte Jamal-LNG-Projekt, das von den beiden engen Putin-Vertrauten Leo­nid Michelson, dem Vorsitzenden von Novatek, und Gennadi Timtschenko geleitet wird, vereint die Merkmale aller bisher genannten Bauvorhaben. Dabei soll auf der Jamal-Halbinsel künftig Erdgas gefördert, in einer Fabrik verflüssigt und dann per Schiff nach Asien und Europa transportiert werden. Und das, obwohl es ohnehin nicht an russischem Erdgas mangelt, es bereits heute ungenutzte Export-Pipelines gibt und viel nähere und einfacher zu erschließende Gasvorkommen innerhalb Russlands bewirtschaftet werden könnten.

Durch die Hintertür

In wirtschaftlicher und politischer Hinsicht entpuppte sich das Jamal-LNG-Projekt trotzdem als Eldorado für den Kreml. Werften wurden damit beauftragt, eisbrechende Schiffe zu konstruieren. Politisch gut vernetzte Mittelsmänner erhielten lukrative Verträge, um im Ausland spezielle Tankschiffe zu bestellen, die in Russland nicht produziert werden konnten. Mit Staatsgeldern ließ man einen Flugplatz bauen, der wiederum mittels einer neuen Straße mit dem Festland verbunden wurde. In der Zwischenzeit wurden Novatek für zwölf Jahre Steuererleichterungen in Höhe von vier Milliarden Dollar garantiert. ­Jamal-LNG wurde zu einem kostenintensiven und politisch bedeutsamen Projekt, mit dessen Hilfe wichtige ausländische Partner gewonnen werden konnten – sowohl Frankreich als auch China erwarben Anteile. Für Putin bietet das Projekt speziell im Hinblick auf die internationalen Sanktionen gegen Moskau eine willkommene Hintertür, durch die er sich Zugang zu ausländischem Kapital verschaffen, den USA die kalte Schulter zeigen und sich Einfluss in Europa und Asien sichern kann.

Die politische Dimension russischer Gaspipeline-Projekte ist derweil noch höher einzuschätzen: Der Bau von Nord Stream sowie die Pipeline-Projekte Turkish Stream und Kraft Sibiriens zählen dazu. Letzteres soll Ostsibirien mit dem Westen Chinas verbinden; die Arbeiten verzögern sich aber schon seit Jahren, nicht zuletzt wegen der exorbitanten Kosten von 55 Milliarden Dollar. Allein die Höhe der Investitionen, die Gazprom in Ostsibirien tätigen muss, um dort Gas zu fördern, und die Baukosten für die Pipeline selbst machen den Gasexport nach China bereits im Vorhinein unrentabel. Trotzdem sind Subunternehmen von Gazprom bereits an dem Projekt tätig – und das, ohne überhaupt eine verbindliche Preisabsprache mit China ausgehandelt zu haben. Einerseits profitiert erneut Russlands Elite, andererseits nutzt Putin das Projekt, um sich dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping anzunähern.

Auch Turkish Stream ist rein wirtschaftlich betrachtet ein überflüssiges Projekt. Blue Stream und die Trans-Balkan-Pipeline decken bereits den kompletten türkischen Gasbedarf. Allerdings haben ­Putin-Vertraute vom Ausbau eines einheitlichen Gasversorgungssystems im Süden Russlands – Gazproms so genanntem Südkorridor – bereits ausgiebig profitiert. Turkish Stream ist zwar ein teures Vorhaben, wird vom Kreml allerdings aus politischem Kalkül vorangetrieben, um die Ukraine beim Gastransit Richtung Europa zu umgehen und gleichzeitig die Beziehungen zu der korrupten und autoritären Regierung in Ankara zu stärken.

Auch die Projekte Nord Stream 1 und 2 verdeutlichen die Priorisierung von politischem Einfluss als Machtwährung. Nord Stream 1 entpuppte sich als katastrophal für russische Steuerzahler und den russischen Staatshaushalt. Die Kosten für den Gastransport über die Ostsee-Pipeline sind in etwa genauso hoch, wenn nicht höher, als die Kosten, die auf dem ursprünglichen Versorgungsweg durch die Ukraine anfielen. Auch gelang keine bedeutende Ausweitung der Kapazitäten. Das Gas, das heute per Nord Stream befördert wird, wird aus den Pipelines abgezweigt, die es vormals durch die Ukraine leiteten. Für Gazprom ist das Projekt, wie es mir ein US-Energieexperte erklärte, „ein verlorenes Investment, das niemals eine Kapitalrendite abwerfen wird“.

Politischer Nutzen überwiegt

Trotz alledem erreichte der Kreml wichtige politische Ziele. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde angeworben, um das russische Interesse an einer Umgehung der Ukraine-Route nach außen zu vertreten. Im Gegenzug dafür wurde Deutschland zu einer wichtigen Drehscheibe des russischen Gashandels in Europa. Gegenüber der EU betrieb Moskau so eine Teile-und-herrsche-Strategie, die in ihrer Gasversorgung eigentlich unabhängiger von Russland hatte werden wollen.

In diesem Jahr treibt der Kreml den Bau von Nord Stream 2 voran, obwohl sich bereits alle internationalen Partner aus dem Vorhaben zurückgezogen haben. Das polnische Amt für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz (UOKiK) hatte eine formelle Beschwerde eingereicht, da das Projekt Polens Kaufkraft gegenüber Russland empfindlich schwächen würde. Gazprom entwickelt jedoch bereits Pläne, um große Konzerne zurück ins Boot zu holen und finanziert die Pipeline einstweilen allein. Einmal mehr überwiegt für Putin der politische Nutzen des Projekts: Sollte die Nord Stream 2 gebaut werden, dann wäre Russland in der Lage, die Ukraine komplett vom Gastransit auszuschließen. Gleichzeitig würden die deutsche Industrie und die führenden europäischen Ölkonzerne noch enger an Moskau gebunden als bislang.

Kleine und mittlere Unternehmen ausschließen, Staatsgelder in die Taschen von Kreml-Insidern lenken, Beziehungen zu ausländischen Regierungen und Energiekonzernen stärken und Sanktionen umgehen – das sind die Prioritäten Putin’scher Energiepolitik. Und sie werden es bleiben, solange alle mitspielen.

Ilya Zaslavskiy ist Fellow am Royal Institute of International Affairs (Chatham House). Daneben forscht er bei der Free Russia Foundation.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 26-30

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