Titelthema

26. Juni 2023

Harte Wahrheiten für Europa

Sie gilt vielen Ländern als überheblich, desinteressiert, egoistisch und bevormundend – was die EU tun muss, um die wachsende Kluft zum Globalen Süden zu überwinden.

Der Krieg Russlands in der Ukraine ist ein Wendepunkt für die EU, weil er ihre grundlegenden Sicherheitsprämissen infrage stellt. Doch während eine westliche Allianz aus der EU und ihren Verbündeten die Ukraine mehr und mehr unterstützt, sieht die Lage im Globalen Süden ganz anders aus. Hier, wo 85 Prozent der Weltbevölkerung leben und 39 Prozent des BIP erwirtschaftet werden, will man sich den westlichen Vorstellungen und Darstellungen des Krieges sowie den Bewertungen seiner Ursprünge und Auswirkungen nicht ganz anschließen.



Mehrere Resolutionen der Vereinten Nationen, die strenge Maßnahmen gegen Russland vorsahen, wurden durch wichtige Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika per Enthaltung ignoriert oder abgelehnt. Dass sich auch kaum einer dieser Staaten den westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland anschloss, zeigt, wie groß die globale Kluft bereits ist.



Dabei ist der Kampf der Narrative für die Zukunft der EU ebenso entscheidend wie jene Konflikte, die auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden. Im Globalen Süden findet ein Wettbewerb statt, dessen Preis die Eroberung der Herzen und Köpfe der dortigen Bevölkerung ist. Derzeit deutet jedoch alles darauf hin, dass die Kluft zwischen dem Westen und dem Globalen Süden immer größer wird. Aus vielen Gründen werden dort die Ideen und Sichtweisen des Kremls nämlich von vielen Staaten gehört und finden mitunter sogar Anklang. Dass führende europäische Politiker wie der EU-Chefdiplomat Josep Borrell und Bundeskanzler Olaf Scholz Vertretern des Globalen Südens immer wieder die Hand reichen, ändert daran bislang nichts.



Die Haltung des Globalen Südens als Neutralität zu deuten, ist allerdings realitätsfern. Zwar sind viele der betroffenen Staaten weder antiwestlich noch prorussisch eingestellt, darunter Indien, Bangladesch, Sri Lanka, Brasilien, Südafrika, Vietnam, Indonesien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Eine grundlegende Sympathie für Europa hegen die dortigen Regierungen trotz ihrer starken Verbindungen mit dem Kontinent jedoch kaum. Zudem wird ihre Stimmungslage mit Blick auf die EU weiterhin stark von den Erfahrungen der Vergangenheit geprägt und nicht durch den Krieg in der Ukraine. Es wäre hilfreich, sich einigen dieser harten Wahrheiten zu stellen.



Falsche Einschätzungen

Berlin, Paris und Brüssel sollten die Prioritäten der Länder des Globalen Südens in den Blick nehmen, einschließlich ihrer geografischen Lage, Geschichte, Interessen, Abhängigkeiten und Konflikte sowie Sicherheitsbedenken und wirtschaftlichen Bedürfnisse. Viele dieser Staaten betrachten die aktuelle Lage eben nicht durch die Linse der EU, sondern aus je eigenen historischen und politischen Blickwinkeln heraus. Und auch wenn sich die Variablen dabei von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent unterscheiden, gibt es doch bestimmte Erfahrungen und Erinnerungen, die im Globalen Süden geteilt werden. Etwa die Erfahrung des Kolonialismus, dessen Schatten bis heute nicht verblasst ist.



Für viele Europäer mag am 24. Februar 2022 eine neue Zeitrechnung begonnen haben. Doch für weite Teile der restlichen Welt ist der Krieg in der Ukraine nur ein weiterer Teil eines Gewaltkontinuums, das sich über Jahrzehnte erstreckt. So gibt es in Europa kaum Verständnis dafür, dass sich ein Staat wie Indien an seinen Grenzen seit Jahren mit der aggressiven und nuklear bewaffneten Achse China–Pakistan auseinandersetzen muss. Das wird im Alltag dann besonders deutlich, wenn Ent­scheider in europäischen Hauptstädten die Problematik des religiösen Radikalismus und Separatismus in Pakistan nicht ernst genug nehmen oder ihre Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu China priorisieren, während ein kriegerisch agierendes Peking versucht, die politische Landkarte im Himalaya neu zu zeichnen. Genau deshalb traf Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im Globalen Süden mit diesem Satz einen Nerv: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas sind.“



Die Erinnerungen an die Isolierungspolitik des Westens während der Corona-Pandemie, bei der Impfstoffe auf Kosten weniger privilegierter Bürger in den Entwicklungsländern gehortet wurden, sind noch frisch. Genauso trug die herzliche Aufnahme ukrainischer Geflüchteter im Vergleich zur fremdenfeindlichen Haltung gegenüber afghanischen und syrischen Flüchtlingen dazu bei, das moralische Antlitz des Westens anzukratzen. Erschwerend kommt hinzu, dass populistische, nationalistische und rassistische Bewegungen auf dem europäischen Kontinent Fuß fassen, während EU-Politiker daran festhalten, andere Regierungen über Demokratie und Fortschritt zu belehren.



Die lange Geschichte der rücksichts­losen Interventionen – und der anschließenden Rückzüge – des Westens im Irak, in Afghanistan und in Libyen hat ebenfalls zu starken Ressentiments geführt.



Es darf deshalb kaum überraschen, dass die aktuelle Haltung des Westens zur Ukraine mit seinen früheren militärischen Eingriffen kontrastiert wird und dass Vorwürfe der Heuchelei und der Doppelmoral laut werden. Präsident Wladimir Putin macht sich die daraus ­resultierende ­Desillusionierung im Globalen Süden zunutze. Für viele kleinere Länder, die jahrhundertelang unter der kollektiven Demütigung durch die europäische Kolonialherrschaft gelitten haben, ist „Neutralität“ eben auch ein Akt des Trotzes und eine Behauptung der eigenen Souveränität.



Erschwerend kommt hinzu, dass die europäischen Ex-Kolonialmächte viele historische Ungerechtigkeiten noch immer nicht anerkannt, geschweige denn aufgearbeitet haben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es eine große Diskrepanz zwischen der Selbstwahr­nehmung Europas als Bollwerk der Moral und der demokratischen Werte und der Wahrnehmung des Globalen Südens gibt.



Im Großen und Ganzen darf trotzdem angenommen werden, dass die Länder des Globalen Südens gegen den Krieg in der Ukraine sind; nicht zuletzt, weil sie am stärksten unter seinen zerstörerischen Auswirkungen leiden. Doch auch wenn die Schuld dafür eher bei Russland gesehen wird, glauben viele, dass die europäischen Sanktionen maßgeblich für die weltweiten Ressourcenengpässe verantwortlich sind, gerade mit Blick auf Nahrungsmittel, Treibstoff und Dünger.



Auch die Aufrüstung der Ukraine durch den Westen und die mitunter aggressive Rhetorik seiner Vertreter halten viele im Globalen Süden für kontraproduktiv. Für nichtwestliche Staaten ist die Ukraine zwar von Russland überfallen worden, das globale Leid aber wird gleichermaßen Russland und der „atlantischen Allianz“ angelastet. Das ist die harte Wahrheit.



Trotzdem sollte die europäische Politik anerkennen, dass die Neutralität des Globalen Südens bislang nicht zu einer substanziellen politischen oder materiellen Unterstützung Russlands geführt hat. Im Gegenteil: Staaten wie Indien leisten in der Ukraine umfangreiche humanitäre Hilfe und werden wahrscheinlich auch beim Wiederaufbau des Landes helfen. Sie haben sich öffentlich und hinter verschlossenen Türen gegen Moskau ausgesprochen, obwohl sie in Sachen Verteidigung und Energie auf den Kreml angewiesen sind. EU-Politiker scheinen für einen solch differenzierten Blick auf den Globalen Süden nicht empfänglich zu sein.



Obwohl die EU selbst ein realpolitischer Akteur ist (auch wenn sie ihr eigenes Handeln gern durch normatives Vokabular kaschiert), gesteht sie dem Rest der Welt nicht zu, interessengeleitet zu agieren. Dabei werden nicht nur die Entscheidungen der EU von sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Zwängen diktiert, sondern auch die des Globalen Südens.



Diese Hierarchie der Bedenken und In­teressen geht einher mit einer Hierarchie der Entscheidungsfindung. Seit Jahrzehnten fordern die Länder des Globalen Südens eine gerechte Vertretung in multilateralen Institutionen, zum Beispiel in den Vereinten Nationen, die nach wie vor vom Erbe des Kolonialismus und der westlichen Hegemonie geprägt sind. So hat das Versäumnis, diese Institutionen zu reformieren, der Wahrnehmung Vorschub geleistet, dass derzeit lediglich eine westlich dominierte Ordnung ins Wanken gerate, die bestehende Ungleichgewichte aufrechterhält, nicht aber die globale Ordnung.



Es ist also an der Zeit, sich eindringlich mit der Frage zu beschäftigen, warum das Ausland oft zurückhaltend auf europäische Ideen und Vorschläge reagiert, obwohl die EU in Sachen humanitärer Hilfe und finanzieller Unterstützung zu den großzügigsten Gebern zählt. Denn obwohl der Westen das Potenzial hat, dem Globalen Süden bessere Alternativen und Möglichkeiten als Moskau und Peking zu bieten, kämpft er dort weiter um Einfluss. Zudem könnten europäische Entscheider die Konflikte, die sich im Rest der Welt abspielen, endlich aufmerksamer verfolgen und proaktive, prinzipientreue und faire außenpolitische Ansätze entwickeln. Immerhin ist es der ­eigenen Sache immer zuträglich, mit gutem Beispiel voranzugehen.



Ende der Bevormundung

Gleichzeitig sollte Europa versuchen, mit dem Globalen Süden auf Augenhöhe zu interagieren und seine oftmals bevormundende und herablassende Haltung aufzugeben. Souveräne Staaten zu belehren, anstatt mit ihnen in den Dialog zu gehen, ist nicht hilfreich. Dies muss sich in Bezug auf Krieg und Frieden ebenso ändern wie mit Blick auf Handel und Klimawandel.



Ein Beispiel könnte man sich an den Beziehungen zwischen der EU und Indien nehmen, die sich zuletzt durch engeren Austausch und ein besseres Verständnis der gegenseitigen Interessen stark verbessert haben. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, wenn Europa seine Kontakte ausbauen und an seiner Art der Ansprache des Globalen Südens arbeiten würde. Hier gilt es vor allem, den Ukraine-Krieg nicht als europäisches Problem darzustellen, sondern die globalen Auswirkungen des Konflikts zu betonen; etwa indem man darauf hinweist, dass eine Welt, in der die UN-Charta nicht eingehalten wird, anarchisch wäre und so auch die globale Ordnung gefährdet wäre. Gerade für kleinere Staaten ist das ein schlagendes Argument, müssten doch auch sie um ihre eigene Souveränität fürchten und wären aggressiven Großmächten hilflos ausgeliefert.



Darüber hinaus sollten sich die EU-Staaten für eine Reform der multilateralen Institutionen einsetzen, um gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Die Länder des Globalen Südens werden immer wichtiger und fordern nicht umsonst ihren rechtmäßigen Platz am Verhandlungstisch ein. Wenn Brüssel und Berlin wollen, dass nichtwestliche Nationen eine stärkere Rolle bei der Stabilisierung der regelbasierten globalen Ordnung spielen, müssen sie eben auch Vertrauen in diese Ordnung schaffen. Bundeskanzler Scholz betonte zuletzt, Berlin könne nicht erwarten, dass die Länder des Globalen Südens nicht nach Wohlstand streben; vielmehr müsse man an der gemeinsamen Nutzung von Technologien arbeiten, um diesen Staaten klimafreundliches Wachstum zu ermöglichen – ein lobenswerter Ansatz.



Und schließlich: Wenn die EU das Meinungsklima im Globalen Süden wirklich zu ihren Gunsten beeinflussen will, sollte sie sich auch intensiv mit Thinktanks und politischen Communities auseinandersetzen, die ihre politischen Narrative diskutieren und in den Globalen Süden tragen. Europa muss ständig im Dialog bleiben und darf nicht mehr nur dann als fordernder Gesprächspartner auftauchen, wenn es etwas will.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 38-41

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Shairee Malhotra ist Associate Fellow Europa im ORF-Programm Strategische Studien in Neu-Delhi. Sie arbeitet u.a. zu strategischen Entwicklungen in Europa und zur EU-Politik.

 

Dr. Samir Saran ist Präsident der Observer Research Foundation (ORF), einem der wichtigsten Thinktanks Indiens. Er kuratiert den Raisina Dialogue, Indiens Flag­ship-Plattform für Geopolitik und Geoökonomie.

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