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01. Juli 2019

Handlungsfähiger werden

Die EU braucht nicht nur militärische, sondern auch starke zivile Fähigkeiten, um unabhängig von Partnern Konflikte zu bearbeiten

Strategische Autonomie“ heißt das Konzept, das seit Veröffentlichung der Globalen Strategie für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik 2016 diskutiert wird. Doch in den EU-Staaten sind die Meinungen dazu geteilt: Wieviel eigenständige Handlungsfähigkeit der EU unabhängig von Partnern ist erstrebenswert und realistisch? Wie erreicht man sie und wie gestaltet sich das künftige Verhältnis zur NATO? Für Verteidigungsministerin Ursula von der ­Leyen ist eine strategische Autonomie der EU kein Gegengewicht zur NATO, sondern sie liegt sogar im Sinne des transatlantischen Bündnisses: Denn die von den Europäern aufgebauten gemeinsamen Fähigkeiten kämen direkt dem Bündnis zugute.

Die osteuropäischen Staaten wie Polen und das Baltikum betonen dagegen die Risiken, die das Streben nach mehr Autonomie in der Verteidigung für das transatlantische Verhältnis mit sich bringt. Wie bereits die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright mit ihren 3 Ds (De-Linking, Duplication, Discrimination) betonen sie, die Fortschritte in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) dürften nicht zu einer Entkopplung von der NATO führen oder Entscheidungen vorwegnehmen. Sie dürften die Strukturen und Kapazitäten der NATO nicht duplizieren und Nicht-EU-Staaten in der NATO nicht diskriminieren. Für diese Länder ist die EU bestenfalls ein Nebenschauplatz, wenn es um militärische Handlungsfähigkeit geht.

Allem Dissens zum Trotz sind sich die EU-Staaten darin einig, dass die Union handlungsfähiger werden muss. Dies ist die Quintessenz der Auseinandersetzung, wenn man den plakativen, aber wenig hilfreichen Begriff der strategischen Autonomie außen vor lässt. Denn im direkten und weiteren Umfeld der EU sind neue Krisenherde entstanden, deren Auswirkungen auch in den ­Mitgliedstaaten selbst zu spüren sind. Insbesondere die Krim-­Annexion durch Russland und der Krieg im Donbass haben zu einem Umdenken geführt. Aber auch die Kriege in Syrien und Libyen sowie die grenzüberschreitenden Krisen im Sahel zwingen die EU, über ihren eigenen Gestaltungsanspruch in der Welt nachzudenken.

Daher hat sich in den vergangenen Jahren eine neue Dynamik entwickelt. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), dem Coordinated Annual Review on Defence (CARD) und dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) hat die EU ihre militärische Zusammenarbeit ausgebaut. In der zivilen GSVP verständigten sich die Mitgliedstaaten im November 2018 mit dem zivilen GSVP-Pakt auf 22 politische Verpflichtungen, die die Missionen fit für die Zukunft machen sollen – zum Beispiel durch eine bessere und gezieltere Entwicklung ziviler Fähigkeiten.

Eigenständiges Stabilisieren

Erstaunlich ist angesichts der genannten Krisenherde, dass sich die Debatte um Handlungsfähigkeit zurzeit ausschließlich auf die Verteidigungspolitik und militärische Fähigkeiten konzentriert. Denn neben dem Ausbau der konventionellen Verteidigungsfähigkeit wird ein ebenso wichtiger Zweck der GSVP in der aktuellen Debatte vollkommen verkannt: Für die Sicherheit Europas wird es auch darauf ankommen, ob die EU eigenständig Krisenregionen in ihrer Nachbarschaft stabilisieren kann. Und dazu braucht sie nicht nur militärische Fähigkeiten, sondern den gesamten Instrumentenkasten – also auch zivile Mittel. Die aktuelle Debatte greift damit zu kurz und die EU beraubt sich wichtiger Chancen, die eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit ihrem Gestaltungsanspruch in Krisen und Konflikten eröffnen könnte. Europäische Handlungsfähigkeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann und sollte daher nicht allein an der verteidigungspolitischen Leistungsfähigkeit der Union gemessen werden.

Das zivile Krisenmanagement kann einen wichtigen Beitrag zur Handlungsfähigkeit der EU leisten. In bislang 22 entsandten Missionen hat die zivile GSVP vielfältige Aufgaben in den Aufnahmestaaten ausgeführt. In den Kernaufgaben, Kapazitätsaufbau und Sicherheitssektorreform, hat die EU eine starke Expertise aufgebaut. Im Gegensatz zu militärischen Mitteln der Intervention ist das zivile Krisenmanagement stärker auf eine langfristige Stabilisierung nach Konflikten oder auch die Prävention weiterer Konflikte gerichtet.

In den Missionen arbeiten erfahrene zivile Expertinnen und Experten sowie Polizeibeamte aus den EU-Staaten, die auf einer technischen Ebene viel aus ihrem eigenen Berufsalltag weitergeben können. Diese Expertise wird in Partnerstaaten geschätzt und häufig angefragt. Damit können die Missionen ein wichtiges Instrument sein, um in Regionen fragiler Staatlichkeit an Schlüsselstellen wie Polizei, Grenzschutz und ziviler Administration anzusetzen und gezielt Partner beim Aufbau belastbarer Strukturen unterstützen. Zudem bauen die Experten vor Ort Vertrauen zu ihren Gegenübern auf und erfahren, was in den Partnerstaaten gebraucht wird – sei es Ausrüstung, Infrastruktur oder weitere Expertise. Diese Wissensbasis ist für das gesamte Wirken der EU wertvoll; sie kann beispielsweise Entscheidungen über finanzielle Förderung oder politische Strategien beeinflussen.

In einem sich wandelnden Sicherheitsumfeld gewinnen zivile Mittel des Krisenmanagements an Bedeutung. Terrorismus, organisierte Kriminalität und gewaltsamer Extremismus überschreiten Grenzen, sind in der EU und an ihren Außengrenzen zu spüren. Die EU hat daher ein starkes Interesse, Partnerstaaten bei der Bewältigung dieser Probleme zu unterstützen. Viele Begleit­erscheinungen von Konflikten können mit militärischen Mitteln gar nicht oder nicht allein bewältigt werden. Stattdessen werden zivile Spezialistinnen benötigt, die vor Ort gezielt beraten und begleiten können. Beispielsweise können erfahrene Polizeikräfte die Regierungen in der Sahel-Region bei der Erarbeitung von Strategien zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beraten, während gleichzeitig ihre Kolleginnen und Kollegen bei EUCAP Sahel Mali malische Polizeikräfte ausbilden.

Ziviler Nachholbedarf

Zivile Instrumente der Konfliktbearbeitung sind wichtig für die EU, um die umfassende Handlungsfähigkeit herzustellen, die in aktuellen Krisen benötigt wird. Angesichts der langjährigen Tradition ziviler ­GSVP-Missionen und dem lange vorherrschenden Bild einer „Zivilmacht Europa“ könnte der Eindruck entstehen, dass die zivile GSVP bereits über ausreichende institutionelle Strukturen und Ressourcen verfügt. Allerdings ist dieses Instrument seit seiner Gründung nur unwesentlich weiterentwickelt worden und kränkelt an der geringen Relevanz, die viele EU-Staaten ihm beimessen.

Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass zivile Missionen oftmals personell unterbesetzt sind – Polizeikräfte werden vermehrt im Inland gebraucht und können nicht zu Missionen entsandt werden. Im Krisenfall geht die Rekrutierung für zivile Missionen ad hoc vonstatten; eine auf EU-Ebene koordinierte, vorausschauende Fähigkeiten-Entwicklung für künftige Einsätze fehlt immer noch. Schnelle und schlagkräftige Handlungsfähigkeit im Krisenfall sieht anders aus.

Mit dem zivilen GSVP-Pakt 2018 haben die EU-Mitgliedstaaten viele dieser Defizite anerkannt. In den nächsten Jahren wollen sie durch die neuen Verpflichtungen Mängel beheben und die zivile GSVP für aktuelle Herausforderungen stärken. Viele Ziele sind jedoch vage formuliert. Erst in der Umsetzung wird sich zeigen, wie ambitioniert die EU-Staaten an einer Verbesserung arbeiten.

Auch deshalb sollte das zivile Krisenmanagement bei einer strategischen Debatte über die Handlungsfähigkeit der Union nicht hintangestellt werden – es wird dringend gebraucht. Entscheidungsträgerinnen brauchen Kenntnisse über bestehende Probleme und ein Verständnis für die hohe Relevanz des zivilen Krisenmanagements im Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente, um Konflikte zu bewältigen.

Die Einbeziehung der ­zivilen GSVP in Überlegungen zur europäischen Handlungsfähigkeit könnte zudem von zweifachem Nutzen sein, wenn es um die politische Kohärenz der Europäischen ­Union geht. Erstens hat sie als Gegengewicht zum Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU eine wichtige Integrationsfunktion. Die GSVP wird von vielen Mitgliedstaaten deshalb unterstützt, weil es neben der militärischen auch eine zivile Komponente gibt. Bereits bei ihrer Gründung forderten einige Länder, dass ein militärisches Engagement der EU mit einer zivilen Komponente der Sicherheitspolitik ergänzt werden müsse. Bis heute haben viele Mitglieder eine Präferenz für eine der beiden Säulen der GSVP. Eine Beschränkung des Begriffs der Handlungsfähigkeit auf eine der beiden Komponenten wäre für einige Mitgliedstaaten innenpolitisch nur schwer vertretbar. Wenn aber beide Säulen gleichwertig in die Planungen für mehr Handlungsfähigkeit einbezogen und gestärkt werden, könnten Kompromisse leichter gefunden und Fortschritte in beiden Politikfeldern erzielt werden.

Zweitens kann die EU gerade durch die Integration ziviler Bestandteile in das Konzept der Handlungsfähigkeit eine Komplementarität zur NATO schaffen. Damit könnten einerseits die Sorgen der osteuropäischen Mitgliedstaaten entkräftet werden, andererseits könnte man auch den Amerikanern vermittelnd entgegentreten. Beide sind skeptisch, ob die EU mit ihrem plakativen Bestreben zur strategischen Autonomie das transatlantische Bündnis gefährden will. Während die NATO jedoch nur geringe zivile Fähigkeiten besitzt, ist gerade der integrierte Ansatz der Konfliktbearbeitung das selbstgewählte Markenzeichen der EU. Mit der fortlaufenden Entwicklung von starken zivilen Kapazitäten, auch für dringend benötigte Arbeitsfelder wie die Abwehr von hybriden Bedrohungen und Cyberkriegführung, schafft die EU ein glaubhaftes Argument, wie sie die Fähigkeiten der NATO ergänzen und stärken kann.

Ziviles Krisenmanagement war und ist ein zentraler Bestandteil der EU-Konfliktbearbeitung. Es kann daher nicht ausgeklammert werden, wenn die EU-Staaten über eigenständige Handlungsfähigkeit diskutieren. Die bisher unter Ausblendung ziviler Mittel geführte Debatte um strategische Autonomie führt in eine Sackgasse: Bei vielen EU-Staaten überwiegen Sorgen um das transatlantische Verhältnis oder begrenzte finanzielle Mittel.

Wenn zivile Instrumente mitgedacht werden, können in der aktuellen Diskussion wichtige Fragen behandelt werden: Welche Art von Konflikten will und muss die EU in Zukunft unabhängig von Partnern bearbeiten können? Mit welchen Mitteln will sie das erreichen? Und was sind die Rollen militärischer und ziviler Instrumente in der Konflikt­bearbeitung der EU?

Ungenutzte Potenziale

Die Debatte um eigenständige Handlungsfähigkeit sollte zum Anlass genommen werden, diese Fragen für die nächste Dekade europäischer Kriseninterventionen sorgfältig zu klären. Eine Möglichkeit wäre, dass die neue EU-Kommission und die Mitgliedstaaten gemeinsam eine europäische Strategie zur Konfliktbewältigung erarbeiten. Denn die Globale Strategie ist zwar für die großen Leitlinien immer noch wertvoll und richtungsweisend, hat aber die genannten Fragen im Zusammenspiel der EU-Instrumente nicht beantwortet. Die Auswirkungen zeigen sich in der GSVP, in der mit PESCO, CARD und EVF auf der einen und dem zivilen GSVP-Pakt auf der anderen Seite separate zivile und militärische Prozesse vorangetrieben wurden. Neue Möglichkeiten für Synergien wurden aber noch kaum ins Auge gefasst und Potenziale, zum Beispiel für eine gemeinsame Anwendung neuer Fähigkeiten, bleiben ungenutzt.

Auch in der Gesamtheit der EU-Instrumente für Krisenmanagement und Konfliktbearbeitung zeigt sich: Viele andere EU-Instrumente wurden zuletzt weiterentwickelt, mit dem Ergebnis, dass sie zueinander in Konkurrenz stehen, sich Mandat, Personal und finanzielle Ressourcen streitig machen. Dies kann man insbesondere im Verhältnis von GSVP und Frontex beobachten, aber auch mit Blick auf die Ausweitung von Kommissionsprogrammen zu missionsähnlichen Strukturen (beispielsweise in Mali).

Fortschritte und Neuerungen in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik müssen wieder unter einem strategischen Überbau vereint werden. Eine Strategie der Konfliktbewältigung wäre ein konsequenter nächster Schritt auf dem Weg zu einer handlungsfähigen, vernetzten EU. Plakative Debatten, die das verbreitete Silodenken verstärken, sind kontraproduktiv.

Carina Böttcher arbeitet als Research Fellow im Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung des Forschungsinstituts der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2019, S. 93-97

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