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01. Juli 2008

Gut für Europa, gut für die Welt

Kann Europas wirtschaftlicher Internationalismus im 21. Jahrhundert überleben?

Europäer blicken mit wachsender Angst auf die rasanten Veränderungen der Weltwirtschaft. Macht sie ärmer, was die Chinesen reicher macht? Müssen sie ihre offenen Märkte vor Konkurrenz abschotten, um zu überleben? EU-Handelskommissar Peter Mandelson plädiert energisch gegen einen neuen europäischen Protektionismus.

Unter den vielen Talenten, über die der indische Handelsminister Kamal Nath verfügt, ist eines sein Sinn für Ironie. Sein Lieblingswitz trifft direkt ins Herz der gegenwärtigen Globalisierungspolitik: Wann immer ein Europäer über Indien als aufsteigende Wirtschaft spricht, schießt er zurück, dass bei dieser Betrachtungsweise Europa dann ja wohl eine „niedergehende“ Ökonomie sein müsse. Nath weiß nur zu gut, welch wunden Punkt er damit trifft. Die Vorstellung, dass die Alte Welt – inwiefern ist eigentlich die europäische Zivilisation älter als die Chinas oder Indiens? – ihren Besitzstand gegen das aufsteigende Neue verteidigen müsse, ist nur zu bekannt. Es ist ein gängiges Theorem der Scharfmacher in den Wirtschaftsblättern, rechts wie links. Die Tatsache, dass dies nicht der Fall ist oder es zumindest nicht sein müsste, wenn wir die richtigen politischen Entscheidungen fällen, hat nichts an der Einschätzung vieler Europäer und Amerikaner über die entstehende politische und wirtschaftliche Landschaft des 21. Jahrhunderts geändert. Wie die Europäer sich verhalten, ist aber nicht nur von Bedeutung für Europa, sondern für die gesamte Weltwirtschaft.

Das ungestüme Wachstum Chinas und Indiens – praktisch aus dem Stand – hätte allein schon gereicht, um jede andere Gesellschaft als vergleichsweise langweilig erscheinen zu lassen. Doch Europas Realität ist auch nicht ohne: Sieben der zehn wettbewerbsfähigsten Ökonomien der Welt kommen aus Europa. Europa dominiert immer noch den gesamten Bereich der Warenproduktion und der Dienstleistungen, besonders auf jenen Gebieten, die einen hohen Grad an Kreativität und Technologie erfordern. Der Anteil Europas an der globalen Wirtschaftsproduktion ist immer noch so groß, dass er den von China und Indien zusammengenommen in den Schatten stellt. Das ist kein Anlass zur Selbstzufriedenheit angesichts des wirtschaftlichen Wettbewerbs, aber es sollte doch in Betracht gezogen werden.

Viele Europäer glauben intuitiv, dass eine Welt, in der China und Indien den Status von Exportsupermächten erlangen, gleichbedeutend ist mit einer proportionalen Abnahme des eigenen Wohlstands. Auf umkämpften Gebieten der globalen Wirtschaft mag das zutreffen, doch andererseits hat die europäische Wirtschaft im letzten Jahrzehnt angesichts des Booms in den aufsteigenden Ökonomien netto insgesamt 18 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Es stellt sich heraus, dass die Globalisierung ein schlagender Beweis für den Trugschluss ist, dass es nur eine festgeschriebene Anzahl von Arbeitsplätzen innerhalb der Weltwirtschaft gibt. Die hundert Millionen neuen Arbeitsplätze, die in den Entwicklungs- und Schwellenländern entstanden, haben Europa insgesamt keinen einzigen Arbeitsplatz gekostet. Die Konkurrenz Asiens hat Europa auch genutzt.

Auf den neuen Wettbewerbsdruck haben die europäischen Unternehmen reagiert, indem sie nach neuen Wegen der Spezialisierung gesucht haben. Gerade für die Aufrechterhaltung unseres kumulierten Wohlstands macht das Festhalten an der Globalisierung wirtschaftlichen Sinn.

Die Globalisierung tritt jedoch gerade in eine neue politische Phase ein. In den letzten Jahrzehnten wurden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung weitgehend wahrgenommen als verstärkter Druck auf bestimmte Wirtschaftszweige, auf die Importpreise und durch den Niedergang lokaler Produktionsstätten. Doch dieser Prozess hat dennoch weitgehend nach europäischen und amerikanischen Spielregeln stattgefunden. Er wurde bestimmt durch westliche Investitionen und westliches Kapital, strukturiert nach den Versorgungsbedürfnissen des Westens. Nun erkennen wir aber die ersten Anzeichen dafür, in welche Richtung sich das verändern wird.

Aufkäufe von Unternehmen und ausländische Investitionen aus den aufstrebenden Ländern bringen den Europäern nun nach Hause zurück, was genau Globalisierung im Zusammenhang mit dem wachsenden wirtschaftlichen Gewicht von Russland, China und Indien bedeutet. Nach dem indischen Unternehmer, der im Jahr 2008 sowohl den billigsten Pkw der Welt auf den Markt gebracht als auch die britische Edelmarke Jaguar gekauft hat, könnte man dies als den „Tata-Effekt“ bezeichnen. Das sind die äußerlichen Anzeichen für einen grundsätzlichen Wandel. Der Aufbau der Weltwirtschaft wird grundlegend neu strukturiert. Die wirtschaftliche Macht ist von der atlantischen Welt weg umverteilt worden. Auch wenn an dieser Entwicklung nichts zwangsläufig ist, so ist man doch auf der sicheren Seite, wenn man sagt, dass es auf dem Terrain der politischen Macht eine ähnliche Entwicklung geben wird.

Dies wird sicherlich sowohl in Europa als auch in Amerika ein erhebliches Maß an Verunsicherung hervorrufen – nicht zuletzt deswegen, weil es einhergeht mit einer starken Tendenz, sich vor den schnellen ökonomischen Veränderungen zu fürchten. Europas Globalisierungsgewinne können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die technologischen Veränderungen und der verstärkte Konkurrenzdruck auf dem Gebiet der arbeitsintensiven Produktion zu schmerzhaften Anpassungen geführt haben. Sowohl auf dem Binnen- als auch auf dem Exportmarkt hat sich der Wettbewerb verschärft. Alte wirtschaftliche Weisheiten sind obsolet geworden, und das Individuum lebt in einem sehr viel weniger voraussehbaren wirtschaftlichen Umfeld.

Die allgemeine Verunsicherung wird verschärft durch die spürbare Unfähigkeit der Finanzmärkte zum verantwortungsbewussten Krisenmanagement und den zum Teil durch Spekulation angeheizten rasanten Anstieg der Lebensmittel- und Energiekosten. Dass die größten neuen Mitspieler in der Weltwirtschaft Staatskapitalismen nach dem russischen und chinesischen Modell sind, trägt ebenfalls nicht zur Beruhigung bei. Auch wenn es wenig Anlass zur Annahme gibt, dass diese Modelle über die ersten Anfangsphasen eines exportorientierten Wachstums hinaus nachhaltig sein werden, sondern vielmehr Hindernisse auf dem Weg zum Aufbau von gesunden Kapitalmärkten und diversifizierten Ökonomien, wenden dennoch viele Europäer ein, dass Europas liberale, regulierte, nichtinterventionistische Handelspolitik naiv sei. Wahrscheinlich wird der Druck wachsen, den Aufstieg dieser Staaten einzudämmen oder Europas Wirtschaft vor ihnen zu schützen. Beides würde bedeuten, Europas wirtschaftlichen Internationalismus in sein Gegenteil zu verkehren.

Wo Europas wahre wirtschaftliche Interessen liegen

Europäische oder amerikanische Versuche, gegen diese Veränderungen anzugehen, wären nicht nur skrupellos, weil sie den Fortschritt der Hälfte der Weltbevölkerung bremsen würden, sondern sie widersprächen auch einer pragmatischen Analyse der europäischen Interessen. Europas wirtschaftlicher Wohlstand wurzelt in einer größeren globalen Nachfrage und im Handel mit einem wachsenden Weltmarkt. Dieses Wachstum zu unterdrücken, wäre kontraproduktiv nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen auf den niedrigeren Stufen der Entwicklungsleiter, die davon profitieren können, in diese wachsenden Märkte zu exportieren, wie es die aufstrebenden Ökonomien getan haben, indem sie auf unsere Märkte exportieren. Anders ausgedrückt besteht die europäische wirtschaftliche Interessenlage nicht nur aus der Summe dessen, was sich innerhalb unserer Grenzen abspielt. Unsere Wirtschaft ist abhängig von Versorgungsketten; deshalb würde eine Politik, die darauf aus wäre, Europa von Importen oder von Wettbewerbsdruck abzuriegeln, die Kosten bei uns erhöhen und so gerade den europäischen Interessen, denen sie nützen soll, Schaden zufügen.

Und es geht hierbei nicht nur um unsere wirtschaftlichen Interessen. Die destabilisierenden globalen Auswirkungen eines Stillstands oder Zusammenbruchs des Wachstums in den aufstrebenden Teilen der Welt, vor allem in China, würden die Welt ärmer und grundlegend unsicherer machen. Schon allein protektionistische Versuche zugunsten der europäischen Wirtschaft könnten diesen Effekt haben, da das Wachstum der aufsteigenden Welt immer noch stark angetrieben wird von der Nachfrage der entwickelten Welt. Zögen wir uns aus der globalen Wirtschaft zurück, würden wir großen Teilen der Welt das Instrumentarium, das sie zum Aufstieg aus der Armut benötigen, entziehen.

Globalisierung ist nicht perfekt und auch kein Allheilmittel. Sie hat ihre umweltpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten, die allesamt politisch und praktisch berücksichtigt werden müssen. Doch eine internationale Weltwirtschaftsordnung, basierend auf einer fortschreitenden Liberalisierung und reguliert durch multilaterale Grundsätze, zunächst durch GATT, dann durch die WTO, hat ein stabiles und gerechtes Gerüst für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Handel zwischen den Staaten zur Verfügung gestellt, das eine bisher beispiellose Ausweitung des weltweiten Wohlstands ermöglicht hat. Es hat global ökonomische Ungleichheiten in einem Maße reduziert, wie es noch vor zwei Generationen unvorstellbar gewesen wäre. In den letzten 20 Jahren hat Europas wirtschaftlicher Internationalismus ohne Zweifel mehr zur Reduzierung der globalen Armut beigetragen als all seine Entwicklungshilfe und Schuldenerlasse zusammen. Globalisierung könnte besser funktionieren. Das bedeutet aber nicht, dass wir ohne sie besser vorankämen.

Die Rückkehr Europas zu einem Wirtschaftsnationalismus wäre ein Fehler. Wir müssen die europäischen Unternehmen und Arbeitnehmer vor unfairem Handel schützen, der aus wirtschaftlichem Nationalismus heraus entstehen kann. Aber wir müssen auch unterscheiden zwischen unfairem Wettbewerb und normaler Vorteilssuche, dies besonders aus der Sicht der Entwicklungsländer. Wir müssen Vertrauen haben in das Modell der Marktwirtschaft und die sie unterstützenden transparenten, liberalen Einrichtungen.

Doch die Aufrechterhaltung dieser Offenheit in Europa angesichts einer so radikalen Umwälzung der Weltwirtschaft verlangt eine neue politische Rezeptur. Die Europäer müssen sicher sein können, dass ihre Interessen gewahrt werden, auch wenn die Welt um sie herum neu geordnet wird. Dies erfordert eine neue pragmatische Herangehensweise gegenüber der Rolle des Staates in einer offenen Ökonomie und eine grundlegend neue Prinzipienbestimmung für die EU. Warum wirtschaftlicher Internationalismus Europa nutzt

Es reicht nicht aus, den wirtschaftlichen Internationalismus in Europa nur mit abstrakten Begriffen zu verteidigen. Wir müssen zeigen, dass dies eine pragmatische politische Entscheidung ist, die nicht auf der Ideologie des freien Marktes basiert, sondern weil sie die besten Erfolge verspricht. Das bedeutet, anzuerkennen, dass sich hinter einigen der häufigsten Verunsicherungen über den wirtschaftlichen Internationalismus berechtigte Bedenken verbergen. Das Grundlegendste ist, dass es kein allgemeingültiges Rezept für alle Entwicklungsländer gibt, wie sie sich in die Weltwirtschaft einbringen sollen, sondern nur solche Lösungen, die den jeweiligen wirtschaftlichen Fähigkeiten und Erfordernissen der Entwicklung entsprechen.

Die Kreditkrise und die steigenden Lebensmittelpreise zeigen, wie nötig es ist, den freien Markt aufrechtzuerhalten und gleichzeitig für Regulierungs- oder Selbstregulierungsmechanismen zu sorgen, um einen Zusammenbruch des Marktes zu verhindern. Was die Finanzmärkte angeht, ist ein besseres Krisenmanagement erforderlich. Auf dem Gebiet des Lebensmittelhandels muss der freie Markt begleitet werden von aktiven Eingriffen, um die Produktionskapazitäten der Bauern in den armen Ländern anzukurbeln. Wirtschaftlicher Internationalismus ist ein Kochbuch, das zur Improvisation ermutigt: Es gibt darin mehr als ein Patentrezept.

Was den meisten Europäern dabei vor allem Angst macht, sind die Auswirkungen auf ihre persönliche wirtschaftliche Sicherheit. Eine breite öffentliche Akzeptanz des wirtschaftlichen Internationalismus wird davon abhängen, dass die Gewinne gerecht verteilt und die Bedürfnisse der „Verlierer“ der raschen Wirtschaftsveränderungen anerkannt werden. In der Debatte darum, ob und wie genau der globale wirtschaftliche Wettbewerb zu einer Verstärkung der sozialen Ungleichheit in Europa beträgt, gibt es gegenwärtig keine klaren Antworten. Doch diese Ungleichheit, verbunden mit stagnierendem Einkommen der Mittelschichten und der Tatsache, dass der Gewinn aus Kapital das Einkommen durch Lohnarbeit seit einem Jahrzehnt bei Weitem übertrifft, hat viele Europäer aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse veranlasst, sich auf die Suche nach einem Sündenbock zu begeben. Dieser Sündenbock wird voraussichtlich die Globalisierung sein. Solange es uns nicht gelingt, die wirtschaftlichen Interessen der Mittelschichten und der Arbeiterklasse mit dem zunehmenden Wohlstand in den Entwicklungsländern in Einklang zu bringen, werden sie die Gewinne der anderen nicht in Kauf nehmen. Der einzige Weg, dies zu verhindern, ist, die Gewinne aus der Globalisierung innerhalb unserer eigenen Gesellschaft effektiver zu verteilen. Die Globalisierung hat die Ungleichheit zwischen den Ländern in der Weltwirtschaft reduziert. Es wäre sowohl Ironie als auch Tragödie, wenn wir es zuließen, dass diese Umverteilung rückgängig gemacht wird, weil wir nicht den politischen Willen aufgebracht haben, gegen die sich vergrößernde Ungleichheit innerhalb unserer eigenen Gesellschaften anzugehen.

Doch Globalisierung und globaler Wirtschaftswettbewerb machen solche Aktivitäten unmöglich. Nicht wahr? Nein, falsch! OECD-Statistiken belegen eindeutig über die letzten 20 Jahre hinweg, dass intelligente, flexible Wohlfahrtssysteme und ein hohes Ausgabenniveau für grundlegende Lebenshaltungskosten keinen Einfluss haben auf das Wachstum des Nationaleinkommens – ja es sogar anschieben können. Einige der ökonomisch wettbewerbsfähigsten Gesellschaften der Welt – allen voran die Skandinavier – gehören nicht nur zu den am meisten globalisierten Staaten, sondern sie haben sehr hohe öffentliche Ausgaben und unterhalten wirksame soziale Netze. Skandinavien und die USA sind Teil der gleichen Weltwirtschaft.

Aber sie haben eine sehr unterschiedliche Wahl getroffen, wie mit den Einnahmen aus ihr umzugehen ist. Kein Wunder, dass es auch in der kulturellen Wahrnehmung der Globalisierung große Unterschiede gibt: Nur einer von zehn Schweden glaubt, dass die Eingliederung seines Landes in die Globalisierung eine schlechte Sache ist, aber 50 Prozent der Amerikaner. Wenn einige der größten wirtschaftlichen Risiken des Einzelbürgers vergesellschaftet werden – etwa durch Arbeitslosen- und Gesundheitsversicherung –, können effektive soziale Modelle eine Gesellschaft sehr viel besser in die Lage versetzen, mit schnellen wirtschaftlichen Veränderungen umgehen zu können. Die effektivsten Modelle fördern einerseits die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, schützen aber den Einzelnen durch Lohngarantien im Fall des Arbeitsplatzwechsels. Sie finanzieren ein hohes Bildungsniveau und unterstützen berufliche Fortbildung. Das ist der Sozialvertrag, dessen es bedarf, um die Globalisierung zukunftsfähig zu machen.

Auch wenn die Europäer stolz sind auf ihr soziales Modell, ist dies dennoch kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Denn viele dieser Modelle bevorzugen immer noch inländische Arbeiter gegenüber ausländischen, machen es schwer, Geschäfte auszuweiten und stellen für Frauen und ältere Menschen wenig Unterstützung zur Verfügung, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten oder neue zu finden. Es ist zu billig, wenn einige das Eintreten für einen starken handelnden Staat uminterpretieren als ein Eintreten für Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit, Importbeschränkungen und Staatsbesitz oder -kontrolle der Industrie. In der europäischen Gesellschaft spielt der Staat eine grundlegende Rolle dabei zu garantieren, dass das Leben in einer Zeit größerer wirtschaftlicher Veränderungen nicht Leben in größerer Unsicherheit bedeutet. Aber beschützende Staaten müssen nicht gleich protektionistische sein.

Warum Europa eine eigene starke Stimme braucht

Ein Nachdenken über Regieren in Europa muss über die Grenzen des nationalen politischen Systems hinausgehen. Es ist unvermeidbar, dass sich als Reaktion auf die Globalisierung auch die liebgewonnenen Regierungsmechanismen verändern werden. Angesichts unseres zunehmend atomisierten sozialen Lebens macht als Ausgleich ein verstärkter Aufbau lokaler Selbstverwaltung offensichtlich Sinn. Da wir Gemeinschaften nicht mehr auf der Grundlage von Geburtsort oder Herkunft aufbauen, sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, dies durch lokales politisches Engagement und Teilnahme am öffentlichen Leben zu leisten. Lokalpatriotismus bedeutet nicht Ablehnung der Globalisierung. Er ist vielmehr eine rationale Antwort und ein Gegenstück dazu. Genauso müssen wir aber auch erkennen, dass es logisch ist, dass wir einen Teil der Regierungsgewalt nach oben und außen verschieben müssen. An diesem Punkt wird der Nutzwert der EU zwingend. Im Alter von 50 Jahren verändert sich die EU von einer nach innen orientierten Konföderation zu einer nach außen ausgerichteten global Handelnden. Sie ist der zentrale Verstärker des europäischen Einflusses, der es den Europäern ermöglicht, sich an der Globalisierung zu beteiligen und sie zu gestalten. Diese Funktion wird bei der Umbildung der politischen Landschaft von zentraler Bedeutung sein.

In der nächsten Dekade werden wir die Anpassung multilateraler Einrichtungen wie der WTO, der UN und des Bretton-Woods-Systems an die veränderten Wirklichkeiten der asiatischen und lateinamerikanischen Mächte erleben. Eine der zentralen Herausforderungen für Europa und die USA wird es in diesem Zeitraum sein, dass sie, die in den letzten 60 Jahren die Verantwortung für diese Institutionen getragen haben, die aufstrebenden Mächte an deren Aufrechterhaltung beteiligen. Die neuen Mächte haben ein starkes Interesse daran, dass ihre Belange von einem auf klaren Regeln aufgebauten System vertreten werden; aber sie werden sich nur dann in dessen Obhut begeben, wenn sie das Gefühl haben, dass die Governance ihrer wachsenden Macht gerecht wird. Die Skepsis der aufstrebenden Wirtschaftsmächte gegenüber Institutionen wie der G-8, dem UN-Sicherheitsrat und dem IWF rührt daher, dass diese Mechanismen im Wesentlichen ihre Wurzeln immer noch in der „atlantischen“ Nachkriegszeit haben. Dass dies sich ändern muss, mag den relativen Einfluss der atlantischen Welt verringern, jedoch nur im Sinne der Anerkennung einer veränderten Wirklichkeit. Darüber hinaus bringt die Einbindung der aufstrebenden Mächte in ein liberales, auf klaren Regeln aufgebautes multilaterales System mit sich, dass die Lasten, dieses zu führen, gerechter verteilt werden. Einrichtungen wie die WTO machen es außerdem möglich, die aufstrebenden Mächte auf ihre internationalen Verpflichtungen im Handel und auf anderen Gebieten festzulegen. Eine nachhaltige Einbindung in die globale Wirtschaft wird unausweichlich Druck erzeugen in Richtung ökonomischer und politischer Reformen.

Aber Europa braucht nicht nur auf diesem Gebiet eine neue Ausrichtung. In den nächsten zehn Jahren wird es auch in der afrikanischen Entwicklungspolitik durch den wachsenden Einfluss Chinas zu Veränderungen kommen. Die gleichen Debatten über Entwicklungsmodelle werden in den Gesellschaften des Nahen Ostens und Zentralasiens stattfinden. Der Druck, internationale Lösungen zu finden für die Probleme des Klimawandels, der Energieversorgung und der Absicherung der Wasserversorgung, wird zunehmen. Dieses sind Auseinandersetzungen, in denen es um grundlegende und berechtigte Interessen Europas geht. Um in all diesen Debatten vertreten zu sein und andere darin einzubinden, ist es erforderlich, dass die EU als Union auftritt. Denn um mit Kontinentalmächten in der Größenordnung von China, Russland oder den Vereinigten Staaten effektiv verhandeln zu können, müssen wir mit einer eigenen kontinentalen Stimme sprechen. Als der größte Exportmarkt für mehr als hundert Länder der Weltwirtschaft verfügt die EU auf allen Gebieten über ein großes Potenzial, wenn es um die Festlegung globaler Standards geht, sei es der CO2-Ausstoß, grüne Technologien, Nahrungsmittel oder Produktsicherheit. Doch um diese Maßstäbe auf europäischem Niveau festzuschreiben und sie dann auch international vorantreiben zu können, brauchen wir eine schlagkräftige Europäische Union.

Die Konzeption der EU als einer politisch und ökonomisch abgeschirmten Gemeinschaft mag in einer Zeit, als Europa seine industriellen Möglichkeiten und die Lebensmittelproduktion von Grund auf erneuerte und die meisten Wirtschaftsmärkte auf der Welt durch Autarkie abgeschirmt waren, noch Sinn gemacht haben. Das macht sie heute nicht mehr. Der Globalisierungsprozess wird intensiven Druck gegen jede Abschottungstendenz eines Europäismus hervorrufen, sofern dieser nicht ausgerichtet ist auf wirksame globale ökonomische und politische Ansätze. Eine effektive EU braucht vor allem leistungsfähige Institutionen in ihrem Zentrum; deshalb ist der Reformvertrag von Lissabon so wichtig. Sobald er ratifiziert ist, wird der Vertrag den Institutionen der EU die Mittel an die Hand geben, die Europäer in der Welt effektiver und einheitlicher zu vertreten. Er stellt keine Fundamentalreform dar, ist aber eine wichtige. Er bedeutet nicht den blinden Sprung in eine tiefere Integration, denn wo er weitere Integration vorschlägt, geht es nur darum, der EU wirksamere Mittel zur Umsetzung der eigenen Interessen zur Verfügung zu stellen.

Fazit: Europas Aufgaben im 21. Jahrhundert

Die Europäer haben sehr viel mehr Möglichkeiten, die Globalisierung zu gestalten und von ihr und dem Aufstieg des Ostens und des Südens zu profitieren, als sie oft selber erkennen. Während sie nicht mehr in der Lage sind, die Rahmenbedingungen der Veränderungen der Weltwirtschaft zu diktieren – es ist unausweichlich ebenso „ihre“ wie „unsere“ Globalisierung – verfügen sie doch über große Fähigkeiten, sie so auszuformen, dass sie unsere Interessen und Werte widerspiegelt. Europa ist keine „untergehende“ Wirtschaft oder Gesellschaft. Während diese neue Phase der Globalisierung den Europäern auf den Zahn fühlen wird, stellt sie auch eine Chance für eine gerechtere Weltordnung und eine wirksamere Umverteilung der Lasten, die durch das Management des multilateralen Systems entstehen, dar.

Diese Chance sollten die Europäer ergreifen. Dazu müssen sie ihre Verpflichtung zu einem wirtschaftlichen Internationalismus einhalten. Das wird nur möglich sein, wenn die europäischen Regierungen pragmatisch und effektiv daran arbeiten, sich mit dem Gefühl der Unsicherheit bei den Europäern in Sachen offenere Weltordnung auseinanderzusetzen: Dazu müssen sie den europäischen Sozialvertrag entsprechend dem 21. Jahrhundert neu entwerfen, um so abzusichern, dass die Einbindung in die globale Wirtschaft nicht nur zur Profitmaximierung führt, sondern dass die Gewinne gerecht geteilt werden. Auch dies wird nur möglich sein, wenn die Europäer im Rahmen einer erneuerten und effektiven Europäischen Union mit einer Stimme sprechen.

PETER MANDELSON, geb. 1953, war zweimal Minister in Kabinetten von Tony Blair; seit 2004 ist er Handelskommissar der Europäischen Union.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 85 - 93

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