Goldene Mitte
Unbeirrt von globalen Krisen und Rezessionen schreiben Italiens mittelständische Industrieunternehmen an ihrer Erfolgsgeschichte. Von Ökonomen als „Vierter Kapitalismus“ gefeiert, zeigt das Beispiel der oft familiär geführten „multinationalen Konzerne im Taschenformat“, dass die Gleichung „größer, besser, erfolgreicher“ nicht immer aufgeht.
Wer Italiens Wirtschaft wirklich verstehen will, der kommt um den Vierten Kapitalismus nicht herum. Dabei handelt es sich um eine Form des Wirtschaftens, die seit dem Ende der achtziger Jahre in der verarbeitenden Industrie Italiens entstanden ist, nach Deutschland der zweitwichtigsten in Europa. Ein ganzes Bündel von Ursachen – die Krise der Massenproduktion, der Niedergang der Staatsunternehmen, die Folgen der Globalisierung, eine Darwinsche Auslese in der Industrie – hat einen tiefgreifenden Strukturwandel bewirkt und dazu beigetragen, eine eigene Kategorie für Unternehmen mittlerer Größe zu schaffen.
Als Vierter Kapitalismus wird dieses Segment in Italien bezeichnet, um es von den ersten drei Formen des Kapitalismus zu unterscheiden – den großen Privatunternehmen, die zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, den Staatskonzernen, die sich seit Anfang der dreißiger Jahre herausgebildet hatten, sowie den kleinen und Kleinstunternehmen.
Gut durch die Krise gekommen
Seit etwa zehn Jahren beschäftigen sich Italiens Wirtschaftswissenschaftler intensiv mit der Entstehung und der Produktionsweise der Vertreter dieses Vierten Kapitalismus. Kein Wunder, haben sich doch die mittleren Unternehmen auch in den Jahren der globalen Krise und der Rezession als Treiber des produzierenden Gewerbes im Land erwiesen.
Unter mittleren Unternehmen versteht man in Italiens verarbeitender Industrie Betriebe mit 50 bis 499 Angestellten, einem Umsatz von nicht unter 16 Millionen und nicht über 355 Millionen Euro und einer Besitzstruktur, die entweder unabhängig oder unter Familienkontrolle ist. Bei einem Jahresumsatz zwischen 355 Millionen und drei Milliarden Euro sprechen wir von mittelgroßen Unternehmen.
Aktuellen Statistiken zufolge gibt es in Italien nach Umsätzen gerechnet 6951 mittlere Unternehmen. Berücksichtigt man dagegen Angestelltenzahl und Besitzverhältnisse, so sind es nur 3334 – etwas weniger als die durchschnittlich 4000 Mittelständler mit ihren rund 480 000 Angestellten, die es noch in den 2000er Jahren gab.
Die mittelständischen Unternehmen stehen heute für rund ein Viertel der verarbeitenden Industrie im Land. Dieser Anteil steigt auf bis zu 50 Prozent, wenn man auch die Zuliefererbetriebe einrechnet – rund eine halbe Million kleine und Kleinstfirmen, die Wertschöpfungsketten mit den Unternehmen des Vierten Kapitalismus bilden. Diese Betriebe sind häufig in Familienbesitz und eng verwurzelt mit der Region, in der sie beheimatet sind; sie bilden das eigentliche Herz des „Made in Italy“. Ihre typischen Produkte sind Maschinen, Lebensmittel, Chemie, Pharmazeutik, Möbel, Stoffe und Bekleidung. Oft werden diese mittleren Unternehmen als „multinationale Konzerne im Taschenformat“ bezeichnet, weil sie ausgesprochen exportorientiert sind. Die erfolgreichsten Mittelständler sind inzwischen zu größeren Firmen oder regelrechten Konzernen geworden: Barilla, Luxottica, Tod’s, Lavazza, Ferrero, Brembo, Campari, Ferragamo, Prada und Armani.
Die geografische Lage der mittleren Unternehmen spiegelt die Zweiteilung Italiens wider. Die Firmen konzentrieren sich vorwiegend im Alpenvorland und in der Po-Ebene. 41,5 Prozent der Mittelständler finden wir im Nordwesten (Piemont, Aosta-Tal, Lombardei, Ligurien), 37,8 Prozent im Nordosten (Veneto, Trentino-Südtirol, Friuli Venezia Giulia und Emilia-Romagna), 11,4 Prozent in Mittelitalien (Toskana, Marken, Umbrien) und 3,9 Prozent im Süden und auf den Inseln (Latium, Abruzzen, Kampanien, Apulien, Sizilien, Sardinien). Die Region mit der größten Dichte mittlerer verarbeitender Betriebe ist die Lombardei mit 31,3 Prozent, gefolgt mit großem Abstand vom Veneto (17,9 Prozent) und der Emilia-Romagna (14,7 Prozent).
Den Finanz- und Wirtschaftsindikatoren zufolge, die jährlich vom Studienzentrum der Investmentbank Mediobanca erhoben werden, verfügen Italiens mittlere verarbeitende Betriebe über eine Reihe von Wettbewerbsvorteilen sowohl gegenüber den großen als auch im Vergleich zu den kleinen Unternehmen. Sie sind produktiver, wachsen stärker und exportieren mehr; zudem sind sie meist finanziell sicher aufgestellt und weniger verschuldet. Und das, obwohl sie etwas weniger profitabel sind als die großen Konzerne, weil sie nicht über dieselben finanziellen Möglichkeiten verfügen und stärker unter steuerlichen Lasten leiden. Zudem investieren sie weniger in Forschung und Entwicklung und sind weniger interessiert daran, an die Börse zu gehen – auch weil sie es oft nicht nötig haben.
Von Grenzen und Gigantismus
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Zwischen 2005 und 2014 stieg der Umsatz der mittleren Unternehmen um 35,2 Prozent (2014 waren es 46,2 Millionen Euro), während die verarbeitende Industrie insgesamt nur um 14,3 Prozent wuchs. Ihr Exportvolumen stieg um 62,9 Prozent gegenüber 42 Prozent; der absolute Wert der Exporte verdoppelte sich, von 31,3 auf 65,4 Milliarden Euro. Die Eigenkapitalrendite der Mittelständler lag 2014 bei 8,1 Prozent. Diese Rendite stieg zwischen 2010 und 2014 im Schnitt um 3,7 Prozent; die großen Unternehmen verloren dagegen 8,4 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren wuchs die Zahl der Angestellten im Mittelstand um 10,6 Prozent, während sie in der gesamten Wirtschaft um 6,5 Prozent sank. Die Produktivität pro Angestelltem stieg um 27 Prozent (gegenüber 18 Prozent); und schließlich spiegelt sich die finanzielle Solidität der mittleren Unternehmen beim Privatbesitz wider: Das Anlagevermögen lag 2014 bei 115,3 Prozent.
Aus den Erfolgsgeschichten der mittleren Unternehmen Italiens lassen sich drei Lektionen ableiten, die durchaus geeignet sind, das eine oder andere Tabu im zeitgenössischen ökonomischen Denken infrage zu stellen. Erstens mag eine überschaubare Betriebsgröße der Entwicklung eines Unternehmens Grenzen setzen, doch ist Gigantismus ebenso wenig das Allheilmittel für alle Übel. Zweitens sind im Zeitalter der Globalisierung die wirkungsvollsten Waffen auf entwickelten Märkten nicht unbedingt die Kostenvorteile, etwa durch höhere Produktionsmengen, sondern die Qualität der Produkte und die Innovationsfähigkeit. Und schließlich ist der Familienkapitalismus der mittleren Unternehmen neben dem Markt- und dem Staatskapitalismus eine dritte erfolgversprechende Variante. Eine Variante, die den Vorzug hat, dem Unternehmen Stabilität zu verleihen, die aber gleichzeitig das Risiko in sich birgt, dass der Generationswechsel misslingt und dass die Ressourcen für Wachstum und Internationalisierung nicht ausreichen.
Franco Locatelli ist Gründer und Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins First Online.
IP Länderporträt 1, März - Juni 2017, S. 58-60