Glaube und Gewalt
Warum wir im Kampf gegen den Terror die Geistlichen brauchen
Die Scharia ist das Fundament eines islamistischen Terrorismus? Religionsakademien sind Kaderschmieden für Selbstmordattentäter? Falsch! Führende konservative Geistliche haben sich bereits eindeutig und unbeirrbar gegen Gewalt ausgesprochen. Sie wären unsere besten Verbündeten im Kampf gegen den Extremismus.
Die westliche Geschichtsschreibung ist eine Fundgrube teilnahmsvoller, aber auch feindseliger Kritik am Islam. Weniger aus Bosheit denn aus Neugierde wird in einem ganzen Korpus westlicher Forschungsliteratur gefragt: „Was ist im Islam eigentlich schief gelaufen?“
Dass man überhaupt davon ausgeht, es sei grundsätzlich etwas schief gelaufen im Islam, ist eine im konservativen Lager weit verbreitete Auffassung. Doch auch wenn pauschale Islamophobie-Vorwürfe beispielsweise gegen die Gegner des Ground Zero/Park 51-Projekts in New York zu kurz greifen, ist die lautstarke Islamkritik aus philosophischer und historischer Sicht unlogisch und im Kern verdreht. Ohne Frage: Es sollte uns nicht schwer fallen, den islamistischen Extremismus zu verurteilen und einen nuklear bewaffneten Iran und eine weltweit aktive Al-Kaida bedrohlich zu finden – aber ohne gleichzeitig zu suggerieren, dass alle Muslime irgendwie verrückt wären. Nichts ist falsch daran, wenn Nichtmuslime über Gewalt und Glauben diskutieren, schließlich setzt man sich im Westen schon seit längerem – auch im Bezug auf die eigene Geschichte – mit diesem Thema auseinander. Es liegt nichts Verkehrtes in der Frage, warum so viele Terroristen Muslime sind, warum sie ihre Anschläge als Akte zur Verteidigung ihrer Religion verstehen wollen oder warum es so vielen Muslimen so schwer fällt zuzugeben, dass palästinensische Selbstmordattentäter abscheuliche Verbrechen begehen. Selbstverständlich darf man sich auch wundern, warum Islamisten das World Trade Center und einen Teil des Pentagon in Schutt und Asche legen konnten, ohne dass danach in der islamischen Welt eine gewisse intellektuelle Reflexion stattgefunden hätte. Nirgendwo war ein muslimischer Émile Zola zu hören, der dagegen seine Stimme erhoben hätte. Es gab nicht einmal ein paar kleine Thomas Friedmans oder Roger Cohens, die ihren Glaubensgenossen die ganze Dimension dieser Katastrophe erklärt hätten.
Doch lassen wir diese sicherlich schwerwiegenden Defizite in der muslimischen Welt einmal beiseite – und jeder Amerikaner oder Europäer, der um das Blutvergießen weiß, das der Westen im Namen der Moderne auf der ganzen Welt angerichtet hat, sollte sich an dieser Stelle ohnehin ein wenig zurückhalten. Wenn prominente amerikanische Konservative wie der ehemalige Kongressabgeordnete Newt Gingrich die Trennlinie zwischen militanten Islamisten und durchschnittlichen Gläubigen verwischen, ist das besorgniserregend. Und wenn Gingrich in einer viel beachteten Ansprache am American Enterprise Institute behauptet: „Ich glaube, dass die Scharia eine tödliche Bedrohung für das Überleben der USA ist und für die Welt, wie wir sie kennen … Ich glaube, das diese Bedrohung absolut real ist“, dann kann ich ihm nur antworten: „Ich hingegen glaube, dass die String-Theorie in der Physik, die alle Phänomene mit einer einzigen Denklinie erklären will, eine Bedrohung ist.“ Gingrich sucht nach einer einzigen Erklärung für den islamistischen Terrorismus, doch wie viele Rechtskonservative sucht er am falschen Ort. Er und seine Mitstreiter vermischen alles mit allem und betrachten die Scharia als Quell allen Unfriedens im Nahen Osten, der auch unsere westlichen Gesellschaften bedroht.
Ajatollahs gegen den Terrorismus
Dies ist nicht der richtige Ort für eine religionswissenschaftliche Abhandlung über die Scharia oder ihre Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte. Es reicht zu wissen, dass selbst einige muslimische Theologen die Bürde des Despotismus in der islamischen Geschichte auf das statische und autoritäre Wesen der islamischen Rechtspraxis zurückführen. Trotzdem: Ich habe viel Zeit mit schiitischen und sunnitischen Geistlichen verbracht, die das Heilige Gesetz lehren und interpretieren – als Kaderschmiede für Terroristen scheint mir deren Art der Lehre wenig tauglich. Wahrscheinlich durchlaufen aus diesem Grund nur so wenige Terroristen eine fundierte theologische Ausbildung. Denn ein diszipliniertes Religionsstudium mag zwar vielleicht zu umfassender Humorlosigkeit führen, aber es macht niemanden automatisch zum Terroristen. Eher schon bringt ein unzulängliches theologisches Studium in Kombination mit einer mittelmäßigen – oder sogar einer guten – westlichen Ausbildung eine explosivere Mischung hervor.
Wenn also Europäer oder Amerikaner in bester Absicht suggerieren, die Scharia sei das Fundament des radikalen Islamismus, dann signalisieren sie automatisch allen, auch den säkularisierten Muslimen, dass der Westen sie für irgendwie gestört hält und dass die einzig akzeptable Alternative eine Abkehr vom Glauben sei. Gläubige oder nur traditionelle Muslime sollen zu Spiegelbildern der areligiösen Westler werden. Ein wie auch immer gearteter Stolz, den Muslime auf ihre religiösen Gesetze hegen, wird von solchen Pauschalisierungen achtlos verletzt.
Eine solche Pauschalverurteilung der Scharia führt auch dazu, dass einer der meistverehrten schiitischen Vordenker der islamischen Welt, der irakische Großayatollah Ali Sistani, als bigotter Unterstützer des islamistischen Terrorismus verstanden wird, obgleich er sich unbeirrbar und mit größtem Engagement dafür einsetzt, dass der Irak nicht vollends in mörderischem Chaos versinkt. Das Gleiche gilt für den 2009 verstorbenen Großayatollah Ali Montazeri: Er war spiritueller Anführer der Grünen Bewegung im Iran und Nemesis des obersten iranischen Rechtsgelehrten Ali Khamenei, der wiederum selbst nur ein ziemlich mittelmäßiger Kenner der Scharia ist.
Es stimmt, dass die Scharia in ihrer konkreten Anwendung oft als Instrument hässlichster Unterdrückung vor allem von Frauen missbraucht wird. Der Westen und vor allem die Europäer haben vollkommen Recht, wenn sie sich gegen den Import von Scharia-Gesetzen in ihre Gesellschaften wehren. Grundsätzlich können wir nur hoffen, dass die progressiven muslimischen Rechtsgelehrten, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebten, wieder an Einfluss gewinnen. Doch wir sollten nicht den intellektuellen und historischen Fehler begehen, selbst die unbeugsamsten Vertreter einer konservativen islamischen Geistlichkeit als Handlanger des islamistischen Terrorismus abzustempeln. Das Phänomen des islamistischen Terrorismus wird wohl am ehesten dann verschwinden, wenn eine muslimische Geistlichkeit endlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass die Ablehnung westlicher Werte und eines westlichen „Kulturimperialismus“ keine Gewalt rechtfertigt.
Die Verführungskraft des Westens
Die Ausbreitung des saudischen Wahhabismus, den man als Mutterschiff des sunnitisch-islamistischen Extremismus bezeichnen kann, ist sicherlich beängstigend. Doch selbst in Saudi-Arabien liegt der Schlüssel zur Eindämmung dieser Plage womöglich bei der konservativen Geistlichkeit. Der Westen sollte nicht glauben, er könne den Einfluss der Scharia in den muslimischen Staaten zurückdrängen; vielmehr sollte er auf einen theologischen Wettstreit unter Muslimen und Rechtsgelehrten setzen. Wenn es gelänge, Saudi-Arabien für die am weitesten verbreitete und moderatere islamische Denkschule der Hanafiten zu öffnen, wäre das ein Triumph über die Intoleranz des Wahhabismus und über den Hass, der von diesem ölreichen Land aus verbreitet wird.
Selbsternannte, moderne Rebellen wie Osama Bin Laden, die glauben, sie allein besäßen die Interpretationshoheit über die Heiligen Gesetze, wird es vermutlich immer geben. Doch sie hätten es deutlich schwerer, wenn sich die sunnitische Geistlichkeit laut und deutlich gegen ihre Methoden ausspräche. Als beispielsweise die iranischen und libanesischen Schiiten den Heiligen Krieg und das Märtyrertum für sich entdeckten, stießen sie auf die Ablehnung schiitischer Geistlicher – unter den schiitischen Gläubigen finden Selbstmordanschläge heute keinen besonders großen Anklang. Der Führer der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, ist ein bösartiger Eiferer, der die Juden der Welt zum Ziel seines Hasses erklärt hat; aber aus theologischer Sicht ist er ebenso wenig relevant oder gar eine wichtige Persönlichkeit wie der iranische Geistige Führer Ali Khamenei oder Irans Präsident Machmud Achmadinedschad. So seltsam es für Amerikaner und Europäer auch klingen mag: Vielleicht sind gerade die konservativen Geistlichen die wirkungsvollsten Gegner dieser extremistischen Eiferer.
Dass wir die innere Zerrissenheit des Islams missverstehen und fälschlicherweise in der Scharia und ihren Hütern unsere ärgsten Feinde sehen, ist nicht einmal der größte Fehler einiger Rechtskonservativer. Viele von ihnen – aber auch viele Liberale – verkennen die ungebrochene Dominanz der westlichen, vor allem der amerikanischen Kultur in der muslimischen Welt. Vom Untergang der USA zu sprechen mag zwar derzeit im Westen ganz im Trend liegen. Doch die Methoden von Osama Bin Laden und seinen Anhängern zeigen doch gerade, dass wir, also der Westen, den Kampf um die Menschen in der muslimischen Welt noch nicht verloren haben. Für Muslime, die das Weltgeschehen per Fernsehen oder Internet verfolgen, verkörpern wir immer noch gleichzeitig Hoffnung und Hölle. Khomenei drückte es einmal so aus: Der Westen sei der große Satan, weil er gute muslimische Männer und vor allem Frauen verführe und vom tugendhaften Pfad abbringe.
Die iranischen Nuklearambitionen und das entschlossene Missionieren der Muslimbruderschaft im Nahen Osten und in den muslimischen Einwanderergesellschaften im Westen sind ein Versuch, der „Verführung durch den Westen“ etwas entgegenzusetzen. Doch die traumatische Verwestlichung des Islams hält an. Sie hat die islamische Revolution im Iran und Osama Bin Laden hervorgebracht. Aber sie hat auch, und zwar mit voller Wucht, den Wunsch der Muslime – und auch hier: vor allem der muslimischen Frauen – nach Demokratie und Wohlstand geweckt. Es besteht also Hoffnung, dass die Übergangsphase des Islams weniger blutig ausfällt als unsere eigene, auch wenn wir mit dem Schlimmsten rechnen sollten.
Wir sollten keine Feinde dort sehen, wo keine sind. Das Heilige Gesetz des Islams ist und war schon immer das, was Muslime daraus machen. In der fundamen-talen innerislamischen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Moderne wäre es töricht, die Geistlichen zur Bedrohung zu erklären. Sie werden, wie sie es immer getan haben, den Weg einschlagen, den sich der Großteil der Muslime wünscht. Der Westen und die Muslime mögen zwar (noch) nicht unbedingt viele Wertvorstellungen teilen. Aber sie teilen ausreichend viele, um auf eine gewalttätige Auseinandersetzung verzichten zu können und eine vielleicht von Misstrauen gekennzeichnete, oft angespannte, aber insgesamt friedliche Koexistenz aufrechtzuerhalten.
REUEL MARC GERECHT ist Senior Fellow der Foundation for Defense of Democracies in Washington.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 32-35