Gewonnen – bis auf Weiteres
Gebiert der Liberalismus seine ideologischen Gegner selbst?
Im gleichen Maße, in dem sich die liberale Demokratie weltweit durchsetzt, wird sie durch wechselnde Gegenbewegungen herausgefordert. Auf Nationalismus folgten Faschismus und Kommunismus, auf das vermeintliche „Ende der Geschichte“ der Islamismus. Was ist es, das dem Liberalismus immer neue Widersacher beschert?
Es ist mittlerweile 25 Jahre her, dass der Zusammenbruch des Kommunismus einen Diskurs wiederbelebt hat, der 80 Jahre lang in Vergessenheit geraten war: dass nämlich die Menschheit in ihrer Geschichte grundsätzlich voranschreitet, dass die liberale Demokratie Frieden und Wohlstand fördert und dass sie folglich dazu bestimmt ist, weltweit zu triumphieren.
Bücher wie Francis Fukuyamas „The End of History“ oder Max Singers und Aaron Wildavskys „The Real World Order: Zones of Peace, Zones of Turmoil“ trugen entscheidend dazu bei, diese optimistische Erwartungshaltung neu zu beleben, die charakteristisch war für viele Denker des 19. Jahrhunderts – bis sie aber spätestens in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs für immer verschüttet zu sein schien. Das letzte Hallelujah auf den Optimismus des 19. Jahrhunderts hatte nur wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Norman Angell in seinem Buch „The Great Illusion“ gesungen. Für Angell bestand die große Illusion in der Idee, dass ein Staat seine militärische Macht doch tatsächlich einsetzen könne, um seine ökonomischen und sonstigen Interessen durchzusetzen. Angesichts einer „globalisierten“ Ökonomie aber, behauptete Angell, sei Krieg ein Anachronismus und militärische Macht entsprechend irrelevant für das Wohlergehen einer Gesellschaft.
Ende der Geschichte
Dem Ersten folgte ein Zweiter Weltkrieg und diesem ein vier Jahrzehnte andauernder Kalter Krieg. Der Optimismus eines Norman Angell gehörte offenbar einer längst vergangenen Welt an. Als aber der Kommunismus Ende der achtziger Jahre so unerwartet rasch zusammenbrach, schien sich doch zu bestätigen: Die liberale Demokratie hat über ihre ideologischen Widersacher triumphiert und würde nun auf der ganzen Welt Verbreitung finden.
Jetzt nämlich, so ließen sich Fukuyamas Annahmen wohl zusammenfassen, hatte sich Hegels Vision eines „Ende der Geschichte“ erfüllt, es sei also ein Zustand erreicht, der den Menschen ein wünschenswertes und somit auch stabiles Leben verschafft hat. Weil es Ziel und Zweck liberaler Demokratien sei, das Leben ihrer Bürger auch aufgrund ihrer technischen Innovationsfähigkeiten beständig zu verbessern, gäbe es keine vernünftigen Gründe mehr, miteinander Krieg zu führen. Staaten, die keine liberalen Demokratien sind, würden sich entweder technologisch nicht weiter entwickeln. Wenn ihnen das aber doch gelänge, dann würden deren Bürger das Recht auf Teilhabe am politischen Prozess einfordern und das politische System in Richtung liberale Demokratien verändern. In jedem Fall aber würde die Möglichkeit von Kriegen zwischen fortgeschrittenen Staaten praktisch verschwinden.
Die These vom „Ende der Geschichte“ mag sich vielleicht nicht völlig bewahrheitet haben. Aber genauso wenig behielten die Pessimisten vor allem der „realistischen Schule“ recht. Sie waren ja davon überzeugt, dass die Koalition der westlichen Mächte auseinanderbricht, wenn erst die sowjetische Bedrohung Geschichte sei. Aber die alten Bruchlinien innerhalb Europas – oder auch zwischen Japan und den USA – sind nicht wieder aufgetaucht und Alliierte der USA, die während des Kalten Krieges keine eigenen Atomwaffen besaßen, wollten auch nach 1989 nicht Atommacht werden. Es gab keine Kriege zwischen größeren Mächten, Akademiker diskutierten über Immanuel Kants These des „demokratischen Friedens“, die wirtschaftliche Globalisierung verdichtete sich – und dass die Welt in konkurrierende Wirtschaftsblöcke zerfallen würde, bewahrheitete sich ebenfalls nicht.
Zugegeben: Länder wie China und Russland zeigen keinerlei Verlangen, sich auf den Weg einer politischen Liberalisierung zu begeben. Aber (bislang) haben sie auch noch keine ernstzunehmende ideologische Alternative zur liberalen Demokratie formuliert, die für Intellektuelle im eigenen Land (ganz zu schweigen von westlichen Intellektuellen) so attraktiv sein könnte, wie dies einstmals Kommunismus oder auch Faschismus waren.
Religion ist Privatsache. Wirklich?
Natürlich: Dem „Ende der Geschichte“ zum Trotz waren die vergangenen zwei Jahrzehnte alles andere als friedlich. Der Großteil der Konflikte der neunziger Jahre war auf ungelöste ethnische Spannungen zurückzuführen, die noch im westlichen Kolonialismus oder aber in der Unterdrückung in den kommunistischen Staaten wurzelten. Die Konflikte des 21. Jahrhunderts wiederum haben in gewisser Weise alle ihren Ursprung im Erstarken extremistischer Ideologien in der islamischen Welt, die alle unter der Bezeichnung „Islamismus“ firmieren. Gleich aber in welcher Spielart der Islamismus auftritt, so ist er dem Wesen nach eine politische Ideologie, deren Grundfrage lautet: Wie müssen eine Gesellschaft und eine Regierung organisiert sein, um den religiösen Ansprüchen des Islam zu genügen? Der französische Soziologe Olivier Roy hat das so beschrieben: „Die Islamisten sehen den Islam nicht nur als Religion, sondern als politische Ideologie, die alle Aspekte der Gesellschaft (Politik, Recht, Wirtschaft, Soziales, Außenpolitik etc.) umformen soll. Das traditionelle Verständnis vom Islam als einer allumfassenden Religion wird ausgeweitet auf die Komplexität der modernen Gesellschaft.“ Es mag den Anschein haben, als wolle der Islamismus die scheinbar heile und makellose Welt des 7. Jahrhunderts wiederherstellen. „Die Islamisten glauben, sie stünden für Tradition“, so Roy. „In Wirklichkeit aber spiegelt ihr Islamismus eine negative Form der Westernisierung wider.“
Widerlegt der Aufstieg des Islamismus damit die These, wonach die liberale Demokratie triumphiert habe? Denn wenn das Konzept der liberalen Demokratie überhaupt eine Bedeutung hat, dann doch wohl die, dass der Glaube als Privatangelegenheit zu gelten hat, aus der sich der Staat so weit wie möglich heraushalten soll. Die Fähigkeit des Islam dagegen, große Mengen von Anhängern zu mobilisieren, scheint auf der genau entgegengesetzten Auffassung zu beruhen. Sind also die ideologischen Fundamente der „Ende-der-Geschichte“-These nicht ganz so solide, wie es ihre Verfechter behaupten?
Gemeinwohl vor Eigennutz
Es ist dem „Sieg“ des Liberalismus etwas Bemerkenswertes zu eigen: Ihm sind in den zwei Jahrhunderten seiner Geschichte trotz seines relativen Erfolgs beständig Gegner entstanden. All diese Gegner wurden am Ende zwar geschlagen – doch zuweilen zu einem hohen Preis. Der Faschismus und die verschiedenen Formen von Kommunismus und Linksextremismus waren die großen ideologischen Gegner im 20. Jahrhundert, im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren es verschiedene Spielarten eines extremen Nationalismus. Andere Gegenbewegungen waren in ihrer Wirkung nicht vergleichbar, aber auch nicht ganz bedeutungslos – etwa der Romantizismus des frühen 19. Jahrhunderts, zu dem man auch dessen Artverwandte wie Bohème und Avantgarde zählen kann.
Bei allen Unterschieden einte diese ideologischen Gegenbewegungen ein gemeinsames Gefühl: dass die besondere Bedeutung, die der Liberalismus dem Eigeninteresse des Einzelnen im Gegensatz zum Gemeinwohl zuweist (wie auch immer das zu definieren wäre), ihm etwas Unedles verleiht. Dass er potenziell oder tatsächlich Ungerechtigkeit, außerdem Chaos oder sogar Anarchie Vorschub leistet – auf jeden Fall aber die Gesellschaft schwächt. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die negative Konnotierung eines Begriffs wie „bourgeois“ vor Augen führt. „Bourgeois“ ist dieser Lesart zufolge jemand, der so beschäftigt mit dem Erwerb belangloser materieller Dinge ist, dass er für die höheren Bedürfnisse der Seele oder für soziale Gerechtigkeit gänzlich unempfänglich wird.
Grob gesprochen gibt es zwei Idealtypen der ideologischen Gegenbewegungen: Ein Teil beruht auf der Annahme, dass der Liberalismus viel zu unorganisiert ist, um vernünftig funktionieren zu können. Die andere „Denkschule“ wiederum fürchtet, dass er zwar erfolgreich sein werde (oder es sogar schon sei). Aber dass das menschliche Dasein damit im Grunde herabgewürdigt und banalisiert werde. Zunächst mag es scheinen, als schlössen diese Varianten einander aus. Doch handelt es sich bei ihnen um Idealtypen. Tatsächlich beinhalten die meisten ideologischen Gegenbewegungen Elemente von beidem: Man lehnt den Liberalismus ab, weil er die Menschen so erfolgreich dazu zwingt oder sie dazu verführt, ein geistig und moralisch verarmtes Leben zu führen. Aber gleichzeitig will man in den ihm immanenten Fehlern die Garantie für dessen eigenes Scheitern erkennen.
Auf dem Weg ins Wissenschaftsparadies
Die ideologischen Gegenbewegungen zum Liberalismus und der liberalen Demokratie haben über die Jahre, wenn nicht Jahrhunderte ganz unterschiedliche Formen angenommen. Der Franzose Auguste Comte sah den Menschen ganz sicher auf einem Weg in Richtung „Positivismus“, also einem Verständnis der Welt auf rein wissenschaftlich nachprüfbarer Basis. Nach Comte markiert der Liberalismus ein notwendiges Übergangsstadium zwischen dem „theologischen“ Verständnis des menschlichen Lebens und dem künftigen „positiven“ Zeitalter. Er gehöre zur „metaphysischen“ Phase, weil er auf abstrakten Konzeptionen wie „Rechten“ oder „Konsens der Regierten“ beruht. Aber diese „metaphysischen“ Begriffe verhinderten eben auch die Anwendung „pragmatischer“ wissenschaftlicher Herangehensweisen an politische und soziale Probleme.
Karl Marx’ „wissenschaftlicher Sozialismus“ war die am gründlichsten durchdachte – und erfolgreichste – ideologische Gegenbewegung dieser Art. In seiner Analyse des Mehrwerts und verwandter ökonomischer Konzepte wurde klar: Solange es keine zentrale Planung gibt, würde der Kapitalismus mit seinem Eintreten für Privateigentum und die Unverletzlichkeit von Verträgen notwendigerweise eine generelle und systemimmanente Wirtschaftskrise produzieren. Und diese würde ihn letztlich auch völlig zerstören. Da Marx ein unerschütterlicher Hegelianer war, sollte es nicht weiter verwundern, dass sein „wissenschaftlicher Sozialismus“ dem Kapitalismus eine zunächst durchaus progressive Rolle als Zerstörer alles Überkommenen zusprach (was der „Neuen Linken“ später enorme Probleme bereitete, die in der liberalen Demokratie plus Marktwirtschaft ja lieber eine inhärente Ungerechtigkeit, denn eine gewisse Undurchführbarkeit sehen wollte).
Auch der Faschismus hielt den Liberalismus für ein zum Scheitern verurteiltes Konzept. Eben weil er das individuelle Bedürfnis nach materiellem Gewinn freisetzte, sahen die Faschisten im Liberalismus eine Kraft, die den Sinn der Menschen für gesellschaftliche (oder gar völkische) Einheit, moralische Stärke und ihre Wehrhaftigkeit unterminierte. Dermaßen geschwächte Völker könnten in kriegerischen Auseinandersetzungen nur scheitern. Rassistische Elemente kommen hinzu. Eine Ideologie wie der Liberalismus, der nun einmal auf dem Konzept des Individualismus beruht, ignoriere ja notwendigerweise die Unterschiede, die Faschisten zwischen überlegenen und unterlegenen Rassen und Ethnien erkennen wollten. Und das, so waren sie überzeugt, würde den Weg für eine rassische Durchmischung bereiten. Die Nazis bezeichneten die amerikanische Gesellschaft als „bastardisiert“, die die Völker physisch und genetisch schwächen würde.
Willkommen im Tollhaus
Generell glaubten alle Feinde des Liberalismus, dass er zu unorganisiert und anarchisch sei um zu überleben, denn er lasse den Individuen zu große Freiheiten, ihre Interessen auf Kosten des Gemeinwohls zu verfolgen. Damit unterschätzten sie freilich eine ausgesprochene Stärke der Demokratie: Ein weniger stark politisch und wirtschaftlich zentralisiertes System kann, wenn es denn einmal durch eine Bedrohung von außen auf die Probe gestellt wird, besseren Gebrauch von den verschiedenen Begabungen aller Mitglieder der Gesellschaft machen.
Die zweite große Linie der Kritik geht davon aus, dass das Leben in einer bourgeois-kapitalistischen Welt an Attraktivität und Wert verliert. Diese Lesart lässt sich bis zum Romantizismus des frühen 19. Jahrhunderts und den unterschiedlichen Formen von Bohème und Avantgarde zurückverfolgen. Die Rede von Nietzsches Zarathustra über den „letzten Menschen“ bringt diese Kritik auf den Punkt. Er zeichnet ein Bild von Wesen, denen außer ihren grundlegenden menschlichen Funktionen nichts Menschliches mehr zu eigen ist: „Kein Schäfer und eine Herde! Jeder will, jeder ist dasselbe: Wer auch immer anders fühlt, begibt sich wissentlich in ein Tollhaus.“
Eine ähnliche Kritik am Liberalismus findet sich im extremen Nationalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hier hieß es, dass der Liberalismus die Unterscheidbarkeit von Nationen zerstöre; er propagiere eine homogene globale bourgeoise Kultur, die das Leben ärmer mache. Daher rührte die Sorge der Slawophilen im Russland des 19. Jahrhunderts, dass ihr Land zu einer Imitation Englands und Frankreichs werden und seine russische Seele verlieren könnte. Ähnlich sahen viele deutsche Nationalisten ihre Aufgabe darin, die deutsche Kultur gegen die geistige Armut und Lasterhaftigkeit von britischem Kapitalismus und französischer „Zivilisation“ zu verteidigen.
In der Gedankenwelt der „Neuen Linken“ der sechziger Jahre spiegelt sich viel von genau dieser Kritik. Zunächst glaubte die linke Intelligenzia noch an Marx „wissenschaftlichen Sozialismus“, demzufolge der Kapitalismus ja schon wegen seiner inhärenten ökonomischen Widersprüche zum Scheitern verurteilt sei. Später setzte sich die Auffassung durch, dass der Kapitalismus den Menschen allzu erfolgreich zum Sklaven seiner materiellen Bedürfnisse degradiere. Man bezog sich dabei gerne auf Marx’ frühe Werke, in denen er sich noch ausführlich mit dem Liberalismus als Kraft beschäftigte, die den Menschen von seiner wahren Natur entfremde, weil sie ihn auf ein Dasein als Produzent und Konsument materieller Güter reduziere. Genau das mache den Menschen ja so anfällig für den Materialismus, den der Liberalismus in uns hervorbrächte.
Prahlerei und Propaganda
Auf diesem Hintergrund können wir auch den Islamismus besser verstehen – als eine von vielen ideologischen Bewegungen gegen den Liberalismus. Im Unterschied zu den anderen Gegenbewegungen jedoch nimmt der Islamismus eine göttliche Legitimation für seine Opposition in Anspruch. Dennoch klingen viele seiner Klagen ganz ähnlich wie die, die von anderen vorgebracht werden. So schrieb etwa Hassan al-Banna, Gründer der ägyptischen Muslimbruderschaft, im Jahre 1947: „Wir stellen fest, dass die Zivilisation des Westens, der lange Zeit mit seinen wissenschaftlichen Errungenschaften geglänzt und die Welt unterjocht hat, im Abstieg begriffen ist.“
Dieser Abstieg wurde direkt auf den Liberalismus zurückgeführt, von dem al-Banna meinte, dass er auch Ägypten bedrohe: „Eine Woge der Auflösung, die alle festen Überzeugungen unterminierte, überflutete Ägypten im Namen der intellektuellen Emanzipation. Ein Angriff auf Moral und Tugend, und das unter dem Mäntelchen der persönlichen Freiheit … Ich sah den gesellschaftlichen Zusammenhalt meiner Ägypter in Gefahr, hin- und hergerissen zwischen dem Islam, ihrer geliebten Religion, und dieser westlichen Invasion, bewaffnet mit den zerstörerischen Einflüssen von Geld, Macht, Prahlerei und Propaganda.“
Auch Sayyid Qutb, einer der wichtigsten Denker des politischen Islam in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, war davon überzeugt, dass sich der Westen im unaufhaltsamen Abstieg befinde. Wenn man sich westliche Gesellschaften anschaue, so Qutb, dann sehe man die Zukunft, die muslimische Gesellschaften erwarte: ungezügelter Individualismus, Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Verderbtheit und schließlich: moralischer und sozialer Abstieg. Der Islam sei dazu berufen zu siegen, so Qutb, weil die Moderne aus sich heraus unfähig dazu sei, den Durst der Menschen nach Spiritualität zu stillen.
Im gleichen Maße, in dem der Westen weltweit an Einfluss gewinnt, wird er durch immer neue ideologische Gegenbewegungen herausgefordert. Diese Gegenbewegungen genießen häufig den Zuspruch von weiten intellektuellen Kreisen in den liberalen Staaten – das galt (auch wenn es heute oft vergessen wird) für den Faschismus, das galt mit Sicherheit für den Marxismus. Beim Islam ist das in weit geringerem Maße der Fall: Auch wenn im Islamismus viele Leitmotive (westlicher) Gegenbewegungen enthalten sind, so limitiert sein Rekurs auf islamische Geschichte und Befindlichkeiten das Interesse an ihm und die Unterstützung für ihn außerhalb der islamischen Welt doch empfindlich.
Technologie versus Spiritualität
Wir können verschiedene Gründe für das Aufkommen immer neuer ideologischer Gegenbewegungen zum Liberalismus ausmachen. Zwei von ihnen sind für das, was den Liberalismus in seinem Kern ausmacht, eher nebensächlich, zwei andere sind dafür essenziell. Zu den nebensächlichen zählen, erstens, die negative Reaktion auf den Liberalismus als Import aus einer anderen Kultur und, zweitens, die Schwierigkeiten des Übergangs von einer traditionellen zu einer modernen, liberalen Gesellschaft.
Zum Import-Argument haben wir schon etwas gesagt. Demzufolge sahen deutsche Nationalisten und slawophile Russen im 19. und frühen 20. Jahrhundert den Liberalismus als Bedrohung für das geistige Leben in ihren Ländern. Aber auch in Japan und China gab es Versuche, das Interesse an westlicher Technologie gegen den Wunsch auszuspielen, eine östliche Spiritualität zu erhalten, von der man das Gefühl hatte, dass sie im Westen fehlte.
Der Liberalismus stößt zudem da auf Widerstand, wo sich der Übergang in die Moderne besonders schwierig gestaltet. In England geschah der Übergang zu einer modernen liberalen Gesellschaft im gleichen Tempo, in dem die Erfindungen gemacht wurden, die Industrialisierung und Urbanisierung ermöglichten. Wer diesen Übergang aber später vollzieht, der findet das Paradigma einer entwickelten Gesellschaft und die notwendigen Technologien bereits vor. Investitionen aus dem Ausland können den Übergangsprozess zusätzlich beschleunigen. Folglich wird sich der gesellschaftliche Wandel bei den „Spätkommern“ weit rasanter vollziehen als bei den Etablierten. Das schafft größere soziale Spannungen und Reibungen, was wiederum die Akzeptanz und die Glaubwürdigkeit des Liberalismus empfindlich schwächt.
Andere Schwierigkeiten sind auf Probleme oder Schwächen zurückzuführen, die tatsächlich mit dem Wesenskern des Liberalismus zu tun haben. Zu diesem Wesenskern gehören bestimmte philosophische Prämissen, die nirgendwo so präzise ausbuchstabiert sind wie in den „Wahrheiten“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das betrifft etwa die unveräußerlichen Rechte, mit denen alle Menschen ausgestattet sind, und die Einsetzung von Regierungen durch Konsens der Regierten zum Schutz dieser Rechte. Diese Rechte wurden seinerzeit, wie es in der Erklärung steht, als „selbstverständlich“ erachtet; heute könnte man wohl mit Recht behaupten, sie seien heiß umstritten.
In welchem Ausmaß der Glauben an diese Prinzipien über die Jahre verlorengegangen ist, zeigt sich etwa in den Arbeiten von Auguste Comte und seiner These, dass das Denken der Menschheit voranschreite von einem theologischen Stadium über ein metaphysisches in ein „reifes“, vom wissenschaftlichen Positivismus geprägtes Stadium. In diesem Stadium glaubt der Mensch nicht mehr daran, dass er das Wesen der Dinge erkenne, sondern gibt sich mit der Kenntnis des Modells der modernen Naturwissenschaft zufrieden – mit der Kenntnis des „Wie“, nicht mehr mit der Frage nach dem „Warum“ oder „Zu welchem Zwecke“.
Management statt Glaubenssätze
In dem Maße, in dem die Sozialwissenschaften sich in Richtung einer „positiven“ Phase entwickeln, beschäftigen sie sich nicht mehr mit Rechten oder Werten, sondern nur mit den „objektiven“ Beziehungen zwischen Variablen. Der Wandel hin zu einer „positiveren“ Sozialwissenschaft bietet die Möglichkeit eines effizienteren und effektiveren Managements der Gesellschaft. Doch das geschieht um den Preis einer möglichen Schwächung liberaler Kernglaubenssätze über die Gesellschaft als Ganzes.
Es ist schwer zu sagen, ob oder in welchem Ausmaß der geschwundene Glauben an die dem Liberalismus zugrundeliegenden philosophischen Prinzipien ihn auch tatsächlich schwächt. Denn ungeachtet des Relativismus, der das moderne Denken durchzieht, haben ja die Menschenrechte in einem weit höheren Ausmaß Eingang ins internationale Recht gefunden, als man es je für möglich gehalten hätte. Dieser Schritt markiert einen bedeutsamen Sprung von einem Verständnis des internationalen Rechts, das auf Abkommen zwischen souveränen Mächten fußt, hin zu einem Verständnis, das auf kategorischen Verpflichtungen basiert, die letztlich transsouverän sind.
Und doch zeigen die liberalen Gesellschaften heute immer wieder eine gewisse Unsicherheit, was ihre vermeintlichen Fundamentalüberzeugungen angeht. Ihre Begeisterung für das Konzept des „Multikulturalismus“ etwa wird letztlich zu einer Rechtfertigung illiberaler Praktiken, die sich in der Mitte ihrer eigenen Gesellschaft einnisten. Das Mindeste, das wir festellen können, ist: Der Verlust des Glaubens an die philosophischen Grundlagen des Liberalismus begünstigt die Entstehung und Verbreitung ideologischer Gegenbewegungen.
Schließlich müssen wir uns die Frage stellen, ob der Liberalismus nicht selbst daran schuld ist, wenn er zumindest teilweise daran scheitert, den Bedürfnissen der menschlichen Seele gerecht zu werden. Nun mag man fragen, was die Erwähnung der Seele in einer politischen Diskussion zu suchen hat – doch genau das ist der entscheidende Punkt. Die Dekonstruktion des Konzepts der Seele, wie es in der antiken Philosophie entwickelt wurde, war ein wichtiger Aspekt innerhalb des Projekts der Moderne. Ursprünglich Zentrum des Körpers und treibende Kraft für Bewegung und Entwicklung, schrumpfte die Seele immer weiter, bis sie schließlich nur noch das bewusste „Selbst“ war, das sich weigerte, durch eine mechanistische Interpretation des menschlichen Lebens ganz aufgehoben zu werden.
Die Sorge um die Seele zähmen
Die Moderne und mit ihr die moderne Naturwissenschaft, die in ihrem Gefolge entstand, sind darauf angewiesen, tiefe menschliche Grundfragen herunterzuspielen: Vor allem die Frage nach einem Leben nach dem Tod oder die Unsterblichkeit der Seele – und damit eine Sorge, die selbstverständlich im Zentrum des Christentums stand, das Europa für Jahrhunderte beherrschte.
Politisch bedeutet das, dass alle Fragen zum Thema Erlösung entweder, wie bei Thomas Hobbes, „von oben“ vorgegeben werden oder wie bei John Locke an die private Sphäre verwiesen werden mussten. In beiden Fällen musste die individuelle Sorge um das Schicksal der unsterblichen Seele gezähmt oder kontrolliert werden; sie durfte das Handeln der Menschen im öffentlichen Raum nicht bestimmen – zumindest durfte sie nicht zu Handlungen führen, die sich nicht auf einer nichtreligiösen Basis motivieren und rechtfertigen ließen.
Als Alternative zur religiös verstandenen Unsterblichkeit brachten die Denker der Frühen Neuzeit die Aussicht auf ewigen oder doch zumindest langlebigen Ruhm ins Spiel. Für Machiavelli etwa war das der Ruhm, den der Begründer einer neuen politischen Ordnung erwerben könne. Für Francis Bacon gab es noch eine wichtigere Form des Ruhmes: die Anerkennung, die einem Erfinder als einem Wohltäter der Menschheit zukomme. In beiden Fällen darf man sich allerdings fragen, ob derlei Lösungen die Aussicht auf die Unsterblichkeit der Seele wirklich ersetzen konnten.
Eine gut regierte Republik, schrieb Abraham Lincoln vor etwa 175 Jahren, „wird immer wieder Männer von Ehrgeiz und Talent hervorbringen. Und natürlich werden sie danach streben, ihr Bedürfnis nach Herrschaft zu befriedigen, wie es andere vor ihnen getan haben. Die Frage ist dann: Kann diese Sehnsucht befriedigt werden, indem man ein Gebäude pflegt, das von anderen erschaffen wurde? Ganz bestimmt nicht. Natürlich, es mag herausragende und rechtschaffene Männer geben, deren Ehrgeiz nach nichts Höherem strebt als nach einem Sitz im Kongress, nach einem Gouverneurs- oder Präsidentenamt – aber solche Leute gehören nicht der Familie des Löwen oder dem Stamme des Adlers an. Was! Glaubt ihr, solche Posten würde den Ehrgeiz eines Alexanders, eines Cäsars, eines Napoleons befriedigen?“
Mit anderen Worten: Könnte es sein, dass die normale, vernünftige, liberale demokratische Politik schlicht zu langweilig, uninteressant oder spirituell zu anspruchslos ist für diejenigen, die nach höheren Weihen streben? Ähnliches gilt für die Wissenschaft: Ist Bacons Vorstellung des Ruhmes, der Erfindern als Wohltätern der Menschheit winkt, in dem Maße obsolet geworden, in dem der Forschungsbetrieb sich weiterentwickelt hat und die Prozesse, durch die bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, komplexer geworden sind? Vor hundert Jahren erlangte Thomas Edison auf seine Weise Heldenstatus; aber ist so etwas immer noch möglich? (Derzeit sind wohl die einzigen Menschen, die Edisons seinerzeitigem Status als geradezu „unsterbliche Berühmtheit“ nahe kommen, die Gründer der großen Hightech-Unternehmen wie Bill Gates oder der verstorbene Steve Jobs.)
Um also abschätzen zu können, wie es um die liberale Demokratie steht, müssen wir zwei gegensätzliche Gedanken im Kopf behalten: Sie ist stark, weil sie den meisten Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte zu erfüllen. Gleichzeitig ist sie letzten Endes schwach, weil ihre eigenen Intellektuellen nicht mehr so recht an sie glauben und weil es offenbar tiefsitzende Sehnsüchte in der menschlichen Seele gibt, die Moderne und Liberalismus ignorieren. Wobei in einer liberalen Demokratie sich jeder ermuntert fühlen darf, genau diese Sehnsüchte zu artikulieren.
Die „nebensächlichen“ Schwächen des Liberalismus (das „Nicht-hier-erfunden“-Syndrom und die Schwierigkeiten des Übergangs) werden sich vielleicht mit der Zeit erledigen, mancherorts zweifellos langsamer als anderswo. Aber die inhärenten Schwächen des Liberalismus sind eine andere Angelegenheit. Unsere einzige Möglichkeit, ihnen beizukommen, besteht langfristig gesehen darin, einen Sinn für Mäßigung zu entwickeln, der die Grenzen verdeutlicht, die der Politik bei der Suche nach dem menschlichen Glück gesetzt sind.
(Deutsche Fassung mit freundlicher Genehmigung von "The American Interest".)
Dr. Abram N. Shulsky ist Senior Fellow beim Hudson-Institut in Washington D.C.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 114-123