IP

01. Nov. 2020

Gewollte Kontrolle?

Im Kontext des digitalen Strukturwandels ist die Reanimierung des Begriffs der Souveränität falsch und unnötig. Freiheitliche Gesellschaften haben bessere Äquivalente.

Eine Gegenrede.

Bild
Bild: Überwachungskameras in Moskau
Der Bürger im Blick: 
Überwachungskameras an einer Straße in Moskau.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Im gegenwärtigen Diskurs zur Entwicklung digitaler Öffentlichkeit hat sich insbesondere in Europa die Forderung nach Souveränität als eine Antwort auf den digitalen Strukturwandel herausgebildet. Souveränität wird dabei als eine Art Vorbedingung für die Verteidigung eines demokratischen und geeinten Europas gesehen. Um bis ins Jahr 2030 nicht zu einem innerlich zerrissenen Anhängsel einer amerikanisch-chinesischen geopolitischen Rivalität oder zu einer Art Kolonie transnationaler Konzerne zu werden, gelte es, Souveränität erfolgreich zu (re-)etablieren. Souveränität wird in diesem Diskurs als etwas beschrieben, worüber „wir“ nicht hinreichend verfügen, was aber zu erlangen wäre, wenn wir uns unserer politischen und wirtschaftlichen Macht besinnen. Ist Souveränität aber erst einmal erlangt, realisiert sich eine andere, eine von europäischen Werten und Demokratie geprägte Digitalisierung.



Im Folgenden soll die Verknüpfung des Diskurses zum Strukturwandel von Öffentlichkeit in der digitalen Konstellation mit der (Re-)Etablierung digitaler Souveränität kritisch hinterfragt werden. Nicht, weil die Problemdiagnose völlig falsch ist, wohl aber, weil die Ausweitung des Souveränitätsdiskurses und die Gleichsetzung von Souveränität und Demokratie der mediatisierten Demokratie der digitalen Konstellation nicht gerecht werden.



Die digitale Transformation der Gegenwart hat schon früh die Frage nach der Zukunft der Souveränität aufgeworfen – zunächst jedoch in einer sehr anderen als der heute geläufigen Weise (Pohle/Thiel 2019; Thiel 2019). Nach einer utopischen Phase, in der ein souveränitätsaverser Cyberspace imaginiert wurde, erhielt der Souveränitätsdiskurs etwa ab der Jahrtausendwende zunehmend Referenzen zu „klassischen Themen“ wirtschaftlicher Konkurrenz und vor allem Sicherheit. Der Aufstieg des kommerziellen Internets resultiert in der Durchsetzung der bis heute dominanten Technologiekonzerne. Diese finden und verfeinern ihre Geschäftsmodelle.



Die beginnende Allgegenwart digitaler Kommunikationskanäle bringt ein erhöhtes Bewusstsein für die gesellschaftlichen Folgen und Risiken der Vernetzung mit sich, was in der Folge die Versicherheitlichung des Internetdiskurses befeuert. Die Konjunktur von Themen wie Cyberwar und die immer weitere Definition kritischer Infrastrukturen sind hierfür kennzeichnend (Hansen/Nissenbaum 2009). Souveränität in dieser Dekade ist eindeutig wieder nationalstaatlich codiert, wird aber in der Öffentlichkeit und auch von ihren Apologeten noch in gewissem Widerspruch zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Liberalität wie auch den demokratischen Potenzialen des Internets gesehen – und insbesondere durch die lautstarke netzpolitische Zivilgesellschaft problematisiert (Deibert 2010; Mueller 2010).



Dies ändert sich erst ab 2010. Nun wird Souveränität – zumindest im europäischen Kontext – vermehrt positiv ausgedeutet sowie immer mehr mit demokratischen Erwägungen verknüpft. Nach Cyberspace und Internet wird „Digitalisierung“ zum begrifflichen Bezugspunkt, ein umfassenderes Konzept, das stärker kompetitive als kollaborative Assoziationen hervorruft. Noch wichtiger ist, dass sich die gesellschaftliche Nutzung von Digitaltechnologie ein weiteres Mal verändert: Dies geschieht erstens durch die nahezu universelle Verbreitung von Smartphones. Diese bewirken eine Ubiquität des Computing, die dann durch die Vernetzung von Gegenständen und Prozessen flankiert und heute durch Wearables noch weitergetrieben wird (Greenfield 2017; Nosthoff/Maschewski 2019).



Zweitens setzt sich in den sozialen Netzwerken eine algorithmische Form der Kuratierung von Inhalten durch, die – in Verbindung mit der sich etablierenden kommunikativen Praxis des Collagierens und Amalgamierens von Information – gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse restrukturiert sowie für Phänomene wie Polarisierung und Emotionalisierung verantwortlich gemacht wird (Margetts et al. 2015).



Drittens verändern sich Prozesse und Logiken der Datenverarbeitung durch die Implementierung von Technologien des maschinellen Lernens. Sie beschleunigen die Automatisierung gesellschaftlicher Prozesse und transformieren Handlungskontexte nachhaltig (Floridi 2014).



Alle drei rasanten Veränderungen werden öffentlich thematisiert und bestimmen die Diagnosen. Mit Blick auf Souveränität bewirkt die evidente Medialität und Technizität gesellschaftlicher Entwicklungen – durch die Corona-Krise nochmals potenziert –, dass souverän nur sein kann, wer über die Technologie(n) bestimmt.



Es sind aber nicht nur die strukturellen Verschiebungen, die man verstehen muss, wenn man den Souveränitätsdiskurs nachvollziehen will. Ähnlich wichtig sind mindestens zwei politische Zäsuren: zunächst 2013 die Enthüllungen Edward Snowdens über die Praktiken geheimdienstlicher Überwachung und dann das Jahr 2016 mit den politischen Erdbeben des Brexit-Referendums und der Trump-Wahl. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse entspinnt sich ein Diskurs über die manipulative Kraft digitaler Kommunikation. Desinformation und Hate Speech, Datensammlung und Microtargeting werden als Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit diskutiert, mit äußeren Einflüssen auf die Demokratie verbunden und daher mit Souveränität als Konzept zum Schutz demokratischer Willensbildung verknüpft.



Souveränität wird als Reaktion auf wachsende Abhängigkeit konstruiert: Als erste Quelle von Abhängigkeit gilt das Verhältnis von staatlicher Macht zu privaten Mächten, insbesondere von den großen digitalen Plattformunternehmen (Hindman 2018). Diese werden als Quasi-Souveräne betrachtet, da sie im Hinblick auf ihre Größe (versinnbildlicht in dem häufig zu lesenden Vergleich von Facebooks Mitgliederzahl mit der Einwohnerzahl von Staaten) und wirtschaftliche Macht (festgemacht etwa an Börsenwerten oder liquiden Mitteln) als ebenbürtig erscheinen. Zum anderen, weil die durch sie erbrachten Leistungen infrastruktureller Art sind und tief in die Selbstkonstitution von Gesellschaft eingreifen (Staab 2019).



Die zweite Quelle von Abhängigkeit wird im technologischen Unterbau gesehen. Von der materiellen Dimension der physischen Kabel und Datenspeicher bis zur immateriellen Ebene von Software, Diensten oder auch Patenten: Digitalität basiert auf einem Ineinandergreifen dieser stacks, wobei die zunehmende Konzentration von Produktion und Entwicklung in bestimmten Weltgegenden oder in Händen weniger Firmen als Problem gilt.



Die dritte Quelle von Abhängigkeit zielt direkt auf die geopolitische Dimension und besteht im ungleichen Einfluss von Staaten und Regionen auf die technologische Entwicklung. Die Snowden-Enthüllungen haben eine hohe Sensibilität erzeugt, da sie nicht nur das theoretische Potenzial der Beherrschung offenlegen, sondern auch den Machtwillen staatlicher Akteure demonstriert haben. Dies findet heute seine Fortsetzung in dem industriepolitischen Blick auf Digitalität, wie er im „AI Arms Race“ oder in den USA-China-Beziehungen hervortritt. Die vierte Quelle von Abhängigkeit schließlich besteht in der Digitalität unserer Gesellschaften, der Durchdringung unserer lebensweltlichen Routinen (Couldry/Hepp 2016). Die Abhängigkeit, die sich durch Habitualisierung und den affektiven Aufbau der Technologien nochmal verstärkt, wird als Gefahr für den demokratischen Prozess begriffen.





Souveränität ist nicht die Lösung

Die aktuelle Konfiguration der digitalen Konstellation wird zu Recht kritisiert, sie ist von großer politischer, wirtschaftlicher, aber eben auch demokratietheoretischer Relevanz (Berg et al. 2020; Thiel 2020). Was ich aber argumentieren möchte: Der Versuch, Souveränität zum gemeinsamen Nenner staatspolitischer, wirtschaftspolitischer und zivilgesellschaftlicher Anliegen zu machen und stets vom großen Ganzen – der Gefahr für die Demokratie und „unsere“ Werte – her zu denken, befördert letztlich vor allem die Errichtung von Kontrollstrukturen und konterkariert den Demokratiegedanken.



Ideengeschichtlich handelt es sich bei Souveränität um einen staatsbezogenen Begriff, der im Kern eine Zentralisierung von Macht als Antwort auf die Unwägbarkeiten pluralistischer Ordnung postuliert. Souveränität soll eine Klarheit von Zuständigkeiten und Kapazitäten herstellen; und sie tut dies, indem sie einen Bezugspunkt für Befehl und Kontrolle benennt. Konfrontiert mit Wechselbeziehungen und Unklarheiten soll Souveränität so Gestaltungsmacht sicherstellen – und seit der Neuzeit meinte dies: die Ordnung des Nationalstaats ins Recht setzen. Dabei hat sich das Konzept im Laufe seiner Geschichte zwar von seinen absolutistischen Wurzeln entfernt, trotzdem bleibt die Kritik aktuell. Schaut man, wie digitale Souveränität performativ hervorgebracht wird, so spielen Abgrenzung und Ausschluss eine zentrale Rolle (Lambach 2019; Möllers 2020).



Dies wird auch nicht dadurch gemindert, dass der Begriff der Souveränität im digitalen Kontext auf der Ebene europäischer Politik verortet wird. Es ist jedoch in mehrerer Hinsicht überraschend. Zunächst, weil das europäische Projekt ja gerade aus der Idee der Überwindung nationalstaatlicher Souveränität geboren ist und weil Versuche, europäische Souveränität oberhalb der europäischen Nationalstaaten zu propagieren, teils große Krisen im Prozess der europäischen Integration ausgelöst haben.

Dass digitale Souveränität trotzdem so gerne als europäische eingeführt wird, hat mehrere Ursachen. Die offenkundigste davon ist die Notwendigkeit eines großen Marktes, was zur Diagnose des Souveränitätsverlusts aufgrund der Stärke der nichteuropäischen Privatwirtschaft passt – und doch immer auch den Eindruck der Normativierung simpler Standortpolitik erzeugt.



Ähnlich wichtig ist die führende Rolle Deutschlands im Diskurs digitaler Souveränität (im französischen Diskurs ist die Forderung auch verbreitet, aber doch verhaltener und weniger umfassend) (Pohle 2020b). Die Umarmung des Konzepts digitaler Souveränität durch deutsche Politik liegt wegen ihrer Grundpfeiler nah – von der Exportpolitik über ein starkes ordnungspolitisches Element bis hin zu Besonderheiten wie dem öffentlich-rechtlichen Sektor oder der hohen Europaaffinität Deutschlands. Sie trägt aber dazu bei, dass das Projekt zur Reduzierung technologischer, wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeiten in anderen Ländern Europas weniger als Demokratisierungs- denn als Hegemonialprojekt ankommt. Das Verwischen der Grenze zwischen Nationalstaat und Europa – wie es in deutschen Positionspapieren praktiziert wird – offenbart in seiner Penetranz einen stark staatspolitisch verengten Blick auf die digitale Konstellation.



Drittens ist einzuwenden, dass in der Forderung nach Souveränität der Schritt der Errichtung von Kontrollstrukturen eigentlich immer vor deren (potenzieller) Demokratisierung zu erfolgen hat. Wer digitale Souveränität fordert, muss etwa im Bereich der Steuerung des öffentlichen Diskurses immer zunächst ein Durchgreifen möglich machen. Im Kontext digitaler Gesellschaften heißt dies, dass die Souveränitätsforderung auf das Schaffen und Rechtfertigen neuer Eingriffs- und Beobachtungspunkte hinausläuft. Bereits der ältere und wesentlich begrenztere Souveränitätsdiskurs der Jahre 2000 bis 2010 hat etwa wie ein Katalysator auf die Zahl und Möglichkeit der Eingriffspunkte für Staaten wie für private Dritte gewirkt (Benkler 2016; DeNardis 2012).

 

Eine falsche Reanimation

Die gegenwärtige Wiederbelebung des Souveränitätsbegriffs ist so falsch wie unnötig: Sie versucht etwas zu reanimieren, was längst überwunden sein sollte. Für die Leistungen, die wir von Souveränität erhoffen, haben wir in freiheitlichen und komplexen Gesellschaften bessere, begrenztere und vor allem demokratischere Äquivalente. Der Versuch, auf die Probleme mediatisierter Demokratien mit der Forderung nach mehr Souveränität zu antworten, scheitert: Souveränität – egal ob über das Adjektiv europäisch oder digital eingeleitet – kann nicht einfach in Offenheit oder Rechtsstaatlichkeit umgedeutet werden. Souveränität betont Handlungskontrolle und Hierarchisierung, vor dem Hintergrund von Interdependenz und Pluralität ist sie ein Abwehrreflex, der eine demokratische Selbstverständigung auf das Moment der Selbstbehauptung verkürzt.



Die kommende Dekade wird in Europa fraglos im Zeichen des Kampfes um den Erhalt der freiheitlichen Demokratien und des übergreifenden Integrationsprojekts stehen. Die soziotechnische und ökonomische Situiertheit ist hierfür von größter Bedeutung. Ein Gestalten dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist aber auch dann möglich, wenn man gar keine völlige Autonomie anstrebt, sondern eine aktive Politik im Kontext der digitalen Transformation mittels der republikanischen Idee begründet, den Raum des Politischen strukturell offen zu halten. Soziale und institutionelle Voraussetzungen sind hierfür ähnlich wichtig wie technische und wirtschaftliche Aspekte – was im beständigen Fordern digitaler Souveränität aber untergeht.



Thorsten Thiel ist Leiter der Forschungsgruppe „Digitalisierung und Demokratie“ am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Special, Digitales Europa, November 2020, S. 68-73

Teilen