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01. Mai 2017

Generation Gerechtigkeit

Was die russische Jugend will, kann Putin ihr nicht bieten

Russlands Generation Z galt als demografisch marginal und völlig unpolitisch. Dann gingen Jugendliche im vergangenen März auf die Straße. Ihnen geht es um Werte wie Rechtsstaatlichkeit. Diese Generation wehrt sich gegen eine Politik, die sich viel mit der Vergangenheit, nie mit der Zukunft beschäftigt. Gegen Regierungspropaganda ist sie immun.

Wenn die Mathematik die Königin der Wissenschaften ist, dann ist die Demografie zweifellos die Königin der Sozialwissenschaften. Denn die Politik wurde – ebenso wie die Wissenschaft von ihr – von den Menschen und für die Menschen geschaffen. Das demografische Bild wirkt sich auf die politischen Prozesse eines Landes aus, auch wenn es sie nicht determiniert; ansonsten würden sich Länder mit vergleichbaren Altersstrukturen politisch nicht nur ähnlich, sondern gleich verhalten.

Die Jugend-Lücke

Schauen wir einmal auf die Bevölkerungspyramide Russlands im Jahre 2016. Was wir sehen, ist eine nicht nur alte, sondern auch eine alternde Bevölkerung. Was vollkommen fehlt, ist das, was die Demografen einen „Jugendüberschuss“ nennen – eine überproportional große Zahl von 20- bis 25-Jährigen.

Stattdessen haben wir eine regelrechte Jugend-Lücke. Die Generation der in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Geborenen, der heute 25- bis 29-Jährigen, bleibt vergleichsweise überschaubar. Die nachfolgende Altersschicht zwischen 15 und 19 Jahren ist noch kleiner – Spiegelbild der niedrigen Geburtenrate der zweiten Hälfte der neunziger und frühen 2000er Jahre. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir haben an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.

Das Durchschnittsalter beträgt heute in Russland 39 Jahre. Zum Vergleich: Im Jahre 1917 waren die Einwohner von St. Petersburg im Schnitt 19. Wir sind ein alterndes Land, mit einer wachsenden Dominanz von Frauen. Das ist der unterschiedlichen Lebenserwartung geschuldet: Diese ist über die vergangenen 15 Jahre langsam gestiegen, und doch lag sie 2014 bei schockierend niedrigen 65,3 Jahren für Männer und gerade so ausreichenden 76,5 Jahren für Frauen.

Der demografische Faktor beeinflusst das Wesen der politischen Auseinandersetzung und letztlich auch die Wahrscheinlichkeit, ob ein Land Richtung Autoritarismus abdriftet. In Ländern, in denen wir von einem Jugendüberschuss sprechen, finden wir in der Regel eine stärkere Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft vor. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes über 40 ist, dann ist es wahrscheinlicher, dass Proteste friedlich und innerhalb des gesetzlichen Rahmens verlaufen.

Auf die Wahrscheinlichkeit eines Militärcoups, dem anderen Grundübel halbautokratischer Regime, hat die Existenz einer älteren Bevölkerung dagegen keine signifikanten Auswirkungen. Eine ganze Reihe dieser Coups hat zur Demokratisierung geführt – doch das passiert für gewöhnlich in Ländern, in denen die Armee eine modernisierende, säkulare Kraft ist. Mittlerweile kommt das immer seltener vor, und im Falle Russlands ist es nicht besonders wahrscheinlich.

Zwar dürfte der Befund, dass Frauen im Alter von 45 und älter nach und nach die dominierende soziale Gruppe in Russland werden, einen Anstoß geben, soziale Themen auf die politische Agenda zu setzen – Gesundheit, Erziehung, Umwelt. Doch derzeit setzt sich die politische Elite in Russland im Wesentlichen aus Männern im Alter von über 60 zusammen, die sich alle sehr ähnlich sind, was ihren biografischen Hintergrund angeht, ihre Erziehung, ihre Werte und ihre Art, die Welt zu sehen.

Dem World Values Survey zufolge spielen säkulare, rationale Werte in der russischen Gesellschaft eine entscheidende Rolle, ist die Idee des reinen Überlebens wichtiger als die der Entwicklung – der Frage, wie wir künftig leben wollen. Die Gruppe derjenigen, die von moralischen Problemen getrieben sind, ist überschaubar; von Sicherheitsthemen aber sind alle beherrscht. So etwas wie den Zorn des Gerechten verspüren Russen nur selten – wenn überhaupt, dann nur als Imitation. Es ist nicht Moralismus, der sie umtreibt, es ist Überleben um jeden Preis. In gewisser Weise befinden sie sich in ideologischer Opposition zu jeglichem moralischen Code, sei er traditionalistisch oder liberal.

Das hat einen Vorteil. Radikale, fundamentalistische Prediger wird man in Russland abseits der Ränder des Landes auch künftig kaum antreffen. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Moralisches Laisser-faire in Kombination mit der permanenten Sorge ums eigene Leben und Wohlergehen hemmen die Entwicklung des Individuums und der Gesellschaft. Der russischen Gesellschaft mangelt es aus nachvollziehbaren Gründen an dem fundamentalen Sicherheitsgefühl, das sich Psychologen zufolge im ersten Lebensjahr eines Kindes herausbilden sollte und es ihm erlaubt, seine Fähigkeiten zu entwickeln, Risiken einzugehen und Neues schätzen zu können.

Kein Kinderkreuzzug

Nun muss man, um Wandel anzuregen, nicht notwendigerweise „die Mehrheit“ mobilisieren. Es genügt, eine aktive Minderheit ausfindig zu machen, die bereit ist, etwas zu tun. Die überraschend großen und weit verbreiteten Anti-Korruptionsproteste, die in Russland am 26. März stattfanden, wurden in den nationalen und globalen Medien vorwiegend als Jugendproteste oder gar als „Schülerrevolte“ dargestellt.

Ich würde allerdings davor warnen, die Proteste als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten darüber, wie viele Menschen an den Demonstrationen beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit. Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Zahl und Alter der Festgenommenen), handelte es sich weder um einen Schüleraufstand noch um eine Studentenrevolte wie 1968 in Europa, sondern um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil Jugendlicher.

Das hat schon deshalb für Aufsehen gesorgt, weil junge Menschen bei uns für gewöhnlich nicht an Demonstrationen teilnehmen – und an Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsgruppe, die im politischen Geschehen Russlands schlicht nicht vorkommt.

Was wissen wir über Russen, die jünger sind als 25 Jahre? Inwieweit ähneln sie dem Rest der Gesellschaft, worin unterscheiden sie sich? Die meisten Studien zur russischen Generation Z dienen Marketingzwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkaufen kann. Dennoch lassen sich aus diesen Studien durchaus auch politische Rückschlüsse ziehen. Eine jüngere Untersuchung der Firma Validata im Auftrag der Sberbank hatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen acht und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von sozialen Netzwerken und Experten­interviews zurück.

Eine ähnliche Studie wurde kürzlich von der US-Firma Sparks & Honey publiziert. Und eine Forschungsgruppe der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und den Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA) untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.

Sozial, moralisch, gerechtigkeitsliebend

Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges erhebliche politische Relevanz: Sie verfügt über große soziale Fähigkeiten – und stuft das auch selbst als ausgesprochen wichtig ein. Sie strebt nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung und vermeidet Alleingänge, so gut es geht. Moralischen Werten wie Ehrlichkeit und Gerechtigkeit misst sie einen höheren Stellenwert bei als die Älteren. Daneben geht es ihr darum, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sich selbst zu verwirklichen („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“). All das steht in ziemlichem Widerspruch zum Klima des moralischen Laisser-faire, das ansonsten in der russischen Gesellschaft herrscht.

Ein bemerkenswertes Ergebnis all dieser Studien ist das Fehlen eines Generationenkonflikts – im Gegenteil: Sowohl die Väter als auch die Söhne, die an der Befragung teilnahmen, bezeugen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.

Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Ihnen geht es darum, „ein interessantes Leben“ zu führen; das Leben ihrer Eltern empfinden sie als tendenziell eher „langweilig“, eines, das sie sich nicht für sich selbst vorstellen können. Die Eltern ihrerseits zögern, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg“ ist in diesen unberechenbaren Zeiten. Für Eltern wie für Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.

Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind ein typisches Merkmal der heutigen Zeit. Wer heute um die 35 oder älter ist, hat weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern oder ist sogar regelrecht mit ihnen zerstritten. Die neue Harmonie, die wir beobachten, ist eine zwischen Eltern, die ihre Elternrolle als soziale und zuweilen regelrecht politische Rolle ernst nehmen, und jungen Menschen, die Verbundenheit und das Sicherheitsnetz, das Familienbande gewähren, höher bewerten als die traditionellen „Jugendwerte“ der Revolte oder der Unabhängigkeit.

Für die Alten auf die Straße

Dass familiäre Werte ein hohes Gut sind, ist mehr oder weniger überall auf der Welt Konsens. Doch in einem Land, das mit einem Erbe der forcierten sozialen Atomisierung und des Zerreißens sozialer Bindungen durch den totalitären Staat zu kämpfen hat und in dem das Vertrauen in die Institutionen des ­neuen halbautoritären Staates mit seinem Hang zu Lügen und Fälschungen derart niedrig ist, kommt den Familienwerten eine ganz neue Bedeutung zu.

Wenn die russische Jugend heute auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen; im Wesentlichen sind das Werte, die sich grob unter dem Begriff Gerechtigkeit zusammenfassen lassen. Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.

Diese Ungerechtigkeit hat viele Facetten. Dazu gehört ein wirtschaftlicher Abschwung, der auf 15 Jahre des wachsenden Wohlstands folgt. Dass es in Russland viel Armut gibt, ist nicht neu; doch was zählt, ist weniger das Einkommensniveau als die Dynamik. Die verfügbaren Realeinkommen der Menschen sind über die vergangenen 15 Jahre stetig gestiegen. Die Russen sind es schlicht nicht mehr gewohnt, ärmer zu sein, als sie es am Tag zuvor waren. Insbesondere der Mangel an sozialen Aufstiegsmöglichkeiten ist aus Sicht der nachwachsenden Generation ein unhaltbarer Zustand. Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was diese jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Karriereperspektiven, die nicht daran geknüpft sind, ob man der Verwandte eines Gazprom-Funktionärs oder eines FSB-Offiziers ist – oder beides.

Von Sowjetmenschen für Sowjetmenschen

Von alldem sieht die Jugend im Augenblick nicht viel. Die herrschende Bürokratie besteht im Wesentlichen aus Männern um die 50 und älter, die auf eine Vergangenheit im Sicherheitsdienst, im Geheimdienst oder im Militär zurückblicken. „Stabilität“ ist das Ideal dieser Eliten, und sie können sich nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der sich ernsthaft etwas anderes wünscht.

Konsequenterweise spricht in den Staatsmedien und im öffentlichen Raum niemand über die Zukunft. Dafür werden ständig Diskussionen über Themen von gestern geführt: über die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putin-Ära, oder es werden Vergleiche angestellt über die Vorzüge historischer Gestalten wie Stalin, Breschnew, Iwan der Schreckliche oder Nikolaus II. Eine vernünftige Debatte darüber, welche Art von Zukunft das Land braucht, findet dagegen kaum statt.

Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie online finden. Für ihre Unterhaltung nutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die Fernsehpropaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie sich diese ansehen, verstehen sie nicht, was man von ihnen will. Das russische Staatsfernsehen ist von Sowjetmenschen für Sowjetmenschen gemacht. Sein Vokabular, sein Wertekanon, seine Themen: Alles stammt aus der Sowjetära. Sein Hauptziel ist es, Gefühle der Nostalgie zu aktivieren. Wenn man damit nichts am Hut hat, wird man nicht verstehen können, was das Ganze soll.

Eine wichtige und weithin unterschätzte Tugend, die die Kinder- und ­Elterngeneration verbindet, ist ihr Wunsch, sich an Regeln zu halten. Das kann eine Tugend sein, sofern man unter einem politischen Regime lebt, in dem die Herrschaft des Rechts eine größere Rolle spielt als derzeit in Russland. Es kann aber auch als Feigheit oder Opportunismus ausgelegt werden, besonders von denen, die nach mehr und aktiveren Protestformen verlangen.

Generell waren die russischen Proteste der vergangenen Jahre nicht gewaltsam, sondern streng an Recht und Ordnung orientiert; man wandte sich gegen Rechtsbrüche und verlangte, dass sich der Kreml und die Regierung an die Verfassung hielten. Bei den Massenprotesten von 2011/2012 etwa gingen die Menschen nicht spontan auf die Straße. Es handelte sich um organisierte Kundgebungen mit einer bestimmten Agenda. Diejenigen, die sie organisierten, versuchten stets, eine offizielle Genehmigung zu bekommen – wenn auch nicht immer erfolgreich. Dasselbe gilt für die Proteste vom 26. März 2017. 2011/2012 wandte man sich vornehmlich gegen Wahlfälschungen, 2017 gegen Korruption. Die Proteste in den Jahren dazwischen hatten ebenso die Verletzung des Rechts und anerkannter Regeln zum Inhalt. Es ging dabei zum Beispiel um den Konflikt mit der Ukraine oder um die Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow. Gegen das System als solches waren diese Demonstrationen niemals gerichtet.

Angst vor Ausgrenzung

Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Die für die Sowjetzeit so typische Atomisierung hat diese Generation überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlt und deren Unterstützung spürt, oder ob sie den Eindruck gewinnen muss, einsam und allein gelassen zu sein.

Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sich die jungen Russen nicht als Minderheit und Außenseiter empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitischen Aktivitäten fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlichen Tätigkeiten mitbringt. In diesem Punkt unterscheidet sich die russische Jugend nicht von der amerikanischen Generation Z. Und eines kommt noch hinzu: Eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität ist das beste Mittel gegen Angst und das Klima des mangelnden Vertrauens, das eine fortdauernde Plage für Russlands Gesellschaft ist – sowohl für die Jüngeren als auch für die Alten.

Prof. Ekaterina Schulmann ist Senior Lecturer an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und den Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen ­Föderation (RANEPA).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 32-37

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