Gemischte Bilanz
Buchkritik
Teils umsichtig, teils irritierend, teils desaströs: In seinen Memoiren beschäftigt sich Gerhard Schröder intensiv mit der Außenpolitik seiner Regierung. Dennoch hätte man sich mehr Konkretes gewünscht.
Die Außenpolitik nimmt in Gerhard Schröders Memoiren breiten Raum ein. Aber wie ergiebig sind sie für denjenigen, der sich um ein besseres Verständnis der rot-grünen Außenpolitik von 1998 bis 2005 bemüht? Drei Themen seien hier aufgegriffen und näher betrachtet: Die Kosovo-Krise, in der die Regierung Schröder nach Auffassung dieses Rezensenten insgesamt bemerkenswert umsichtig und erfolgreich agierte; die Europapolitik, bei der die rot-grüne Bundesregierung eine gemischte, unter dem Strich aber eher mäßige Bilanz zu verzeichnen hatte; und schließlich das Debakel der Bündniskrise mit den USA um den Krieg in Irak.
Die Kosovo-Krise behandelt der jüngste Altkanzler nur knapp. Er beansprucht dabei – zu Recht – einen großen Teil des Verdienstes, den Weg für eine Beteiligung der Bundeswehr an der NATO-Intervention „Operation Allied Force“ eröffnet zu haben, und er überlässt – ebenfalls zu Recht – Joschka Fischer (und seinen hervorragenden Diplomaten, aber die bleiben in diesen Memoiren ganz generell unerwähnt) das Verdienst am erfolgreichen politischen Krisenmanagement zur Beendigung des Krieges. Irritierend an dieser Darstellung ist allerdings die hier einmal mehr ausgebreitete Mär, das vereinigte Deutschland habe sich erst unter Rot-Grün zur Mitwirkung an Militäreinsätzen des Bündnisses zur Friedenserzwingung durchringen können.
Tatsächlich fanden die entscheidenden Prozesse des Umdenkens in allen großen Parteien schon Mitte der neunziger Jahre im Kontext des Krieges in Bosnien statt, der schließlich durch einen ersten Militäreinsatz der NATO und die Vereinbarungen von Dayton 1994 beendet werden konnte. Die Bundesregierung beschloss bereits damals, also zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl, den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr, der dann von den Tornados der Luftwaffe ausgeführt wurde. Und das Umdenken in der deutschen Politik war keineswegs auf die damaligen Regierungsparteien beschränkt, es hielt bereits zu dieser Zeit auch bei den Grünen und in der SPD Einzug, deren außen- und sicherheitspolitische Schwergewichte schon damals, 1994, Einsätze der Bundeswehr bei UN-Friedensmissionen befürworteten und dabei unter bestimmten Bedingungen auch bereit waren, Kampfeinsätzen zuzustimmen. Gerhard Schröder selbst allerdings gehörte damals in der SPD zu denjenigen, die sich gegen einen solchen Kurswechsel der Partei stellten. Wenn Schröder nun in seinen Memoiren davon spricht, dass Deutschland 1998/99 mental „völlig unvorbereitet“ dafür gewesen sei, dass mit Deutschlands Vereinigung „auch eine umfassendere außenpolitische Verantwortung verbunden sein würde“ (S. 146), so gilt das sicherlich für viele Deutsche und vielleicht auch für den Politiker Gerhard Schröder, nicht aber für seine Partei und schon gar nicht für die politische Klasse insgesamt, die 1999 mehrheitlich längst auf eine neue Linie umgeschwenkt war.
Sympathisch an der Darstellung der Europapolitik wirkt in den Memoiren vor allem Schröders Distanzierung von seiner „etwas flapsigen“ Ankündigung bald nach Amtsantritt, Brüssel werde nun nicht länger „das Geld Deutschlands verbraten“: „(M)eine Bemerkung (war) eine aus der Mottenkiste der antieuropäischen Polemik, die ich heute bedaure“ (S. 327). Und glaubwürdig wirkt es, wenn der Altkanzler seine europa-politischen Lernprozesse nachzeichnet und sich dann eindrücklich zu einer europäischen Verantwortungspolitik Deutschlands bekennt, die auf den geschichtlichen Erfahrungen Europas mit Deutschland aufbaut (S. 328). Dennoch: In den über 500 Seiten dieser Memoiren hätte man sich mehr konkrete Einzelheiten zur Europapolitik von der Art gewünscht, wie sie sich im Zusammenhang mit der Suche nach einem neuen EU-Kommissionspräsidenten 2003/04 finden: Schröder beschreibt hier ausführlich sein offenbar eng mit Jacques Chirac abgestimmtes Werben um Edmund Stoiber, das der bayerische Ministerpräsident nach langem Zaudern schließlich abwies.
Am erhellendsten sind Schröders Einlassungen zur Bündniskrise 2002/03. Gewiss kann sich der Autor hier mit einigem Recht zugute halten, mit seiner Einschätzung der Situation im Irak Recht behalten zu haben. Aber seine Medienschelte an der deutschen Presse ist überzogen und ignoriert völlig jenen Strang der Kritik, der sich nicht gegen die inhaltliche Position der Bundesregierung richtete, sondern gegen die Art und Weise ihres Taktierens. Und diese Kritik bestätigt der Altkanzler in seinen Memoiren unfreiwillig erneut: So beklagt er etwa wortreich den „Brief der Acht“ – jene vom Wall Street Journal initiierte und von Tony Blair realisierte Ergebenheitsadresse des (nach Donald Rumsfeld) „neuen Europa“ an die Bush-Regierung – als vertane Chance, und er fährt zutreffend fort: „Eine gemeinsame Haltung Europas hätte dazu beitragen können, Amerika von einem verhängnisvollen Fehler abzuhalten“ (S. 229). Aber was unternahm denn die Bundesregierung, um eine solche gemeinsame Position aufzubauen? Offenbar gab es keine Bemühungen des Kanzlers um eine koordinierte europäische Stellungnahme, keine persönlichen Gespräche mit Bush. Lediglich öffentliche Stellungnahmen erwähnt Schröder, und dass er – viel zu spät, nämlich Mitte Februar, als sich Washington längst verrannt hatte – eine „kleine Delegation von hochrangigen Beamten des Auswärtigen Amtes (!)“ zu den Sicherheitsberatern des Präsidenten schickte, um jenen noch einmal ausführlich die Argumente des Kanzlers darzulegen: „Ich ließ wiederholen, was ich auf der NATO-Tagung im November 2002 in Prag gesagt hatte“ (S. 220). Dass das Weiße Haus daraus gut die Schlussfolgerung ziehen konnte, Schröder sei es mit seinen Einwänden seit Mitte 2002 gegen die amerikanische Irak-Politik doch eher um seinen Wahlsieg am 22. September 2002 gegangen, scheint dem Autor auch jetzt noch nicht in den Sinn zu kommen. In der Tat: Eine verpasste Gelegenheit mit höchst gefährlichen Folgen – auch wenn man mit Schröder daran zweifeln mag, ob selbst der Einfluss eines mit einer Stimme sprechenden Europas ausgereicht hätte, um Washington von seinen Kriegsplänen abzubringen. „Aber so hatten wir überhaupt keine Chance, in Washington Gehör zu finden“ (S. 229). Eben.
Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg: Hoffmann & Campe, 544 Seiten, € 25.
Internationale Politik 1, Januar 2007, S. 134 - 136.