IP

01. März 2021

Gemeinsam im Indo-Pazifik

Brüssel und London müssen anerkennen, dass ihre Interessen in der Region allein nicht umsetzbar sind. Auch hier geht es um China.

Im Zuge des Brexit sowie unter dem Eindruck der Präsidentschaft Donald Trumps erheben derzeit sowohl das Vereinigte Königreich als auch die Europäische Union den Anspruch, neue weltpolitische Anläufe zu machen: Großbritannien durch das Loslösen von Brüssel, die EU auf der Suche nach der vor allem vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron geforderten „strategischen Autonomie“.



Weder Großbritannien noch    der EU wird dies allerdings im völligen Alleingang gelingen, insbesondere nicht im Indo-Pazifik, einer Region, in der es angesichts der intensiver werdenden Rivalität zwischen den USA und China zu immer größeren Spannungen kommt. Sogenannte Mittelmächte wie Japan, Großbritannien oder die EU werden es nicht schaffen, sich unabhängig zu positionieren.



Ein einflussreicher Beitrag des britischen Think Tanks Policy Exchange vom vergangenen November fordert London dazu auf, in der Region flexible Partnerschaften zu unterhalten. Die „primären Partner“, allen voran demokratische Rechtsstaaten, umfassen Australien, Kanada, Neuseeland, Japan, Indien, Südkorea, Singapur, Malaysia, Indonesien und Sri Lanka. Darüber hinaus, so heißt es, solle London sich in „flexibler Zusammenarbeit und Offenheit“ mit aufstrebenden und strategisch wichtigen Partnern wie Vietnam (dem Hauptgegner des chinesischen Expansionismus im Südchinesischen Meer), Thailand und den Philippinen üben. Vor allem sollte die britische Strategie darauf ausgelegt sein, eine „freie Assoziation“ von Partnerschaften im Indo-Pazifik zu schaffen.



Eine solche Assoziation könnte auch die EU oder einzelne EU-Mitgliedstaaten umfassen. Denn Großbritannien und die EU haben im Indo-Pazifik die gleichen Prioritäten: den ungestörten, freien Austausch von Gütern über die Wasserwege in der Region zu sichern (fast zwei Fünftel des EU-Handels verlaufen durch das Südchinesische Meer); die Wirtschaftsbeziehungen mit den schnell wachsenden Volkswirtschaften der Region auszubauen; Frieden und Stabilität auch mit Blick auf Themen wie Cyber-Kriminalität und Terrorismus sicherzustellen; und, wenn man der Rhetorik Glauben schenken mag, Demokratie und Menschenrechte in der Region zu fördern.



Unterentwickelte Strategien

Auch wenn das Vereinigte Königreich und die europäischen Staaten in den vergangenen Jahren viel auf ihre Interessen im Indo-Pazifik hingewiesen haben, bleiben ihre Strategien unterentwickelt. Frankreich veröffentlichte 2018 eine eigene Indo-Pazifik-Strategie, gefolgt von Deutschland und den Niederlanden 2020, während die EU eine entsprechende Strategie wohl in diesem Jahr vorstellen wird. In allen Fällen sind dies aber keine fest umrissenen Pläne.



„Global Britain“ mag sich als Slogan nach dem Brexit-Referendum etabliert haben, die Hintergründe haben allerdings nur wenig mit dem Austritt aus der EU zu tun. Das britische Handelsvolumen mit Asien wuchs zwischen 2010 und 2016 signifikant an; während eines Besuchs in Kuala Lumpur 2012 kündigte der damalige Premierminister David Cameron an, dass die Zeit „freundlicher Vernachlässigung“ der britisch-südostasiatischen Beziehungen vorbei sei. Boris Johnson wiederholte als Außenminister 2016 lediglich das Offensichtliche, indem er betonte, dass die britischen Interessen „östlich des Suez-Kanals“ lägen; eine ungeschickte Art und Weise, den britischen „Pivot to Asia“ zu umschreiben und gleichzeitig ein ungeschickter Weg, einen außenpolitischen Richtungswechsel auszurufen, der noch gar nicht ausgearbeitet war.



Nun, da das Vereinigte Königreich die EU vollständig verlassen hat, ist es auch nicht mehr Teil des europäischen institutionalisierten Engagements im Indo-Pazifik. Dieses hat sich seit dem Brexit-Referendum 2016 deutlich verbessert. Die EU und die ASEAN-Staaten sind seit Dezember 2020 durch eine strategische Partnerschaft miteinander verbunden, während Großbritannien zunächst außen vor bleibt. Da ASEAN derzeit keine neuen Partnerschaftsabkommen aushandelt, wird sich eine Aufnahme der Briten in die Riege der Partner noch eine Weile verschieben, auch wenn sich die meisten ASEAN-Mitglieder dafür aussprechen. Außerdem konnte das Vereinigte Königreich bislang lediglich Freihandelsabkommen mit denjenigen asiatischen Staaten aushandeln, die auch bereits mit der EU Freihandelsabkommen unterhalten.



Allerdings verfügt das Vereinigte Königreich in der Region sowohl über Hard Power als auch über Soft Power, an denen es den anderen europäischen Staaten mangelt, insbesondere in Indien und Japan sowie in Teilen Südostasiens. Zudem unterhält Großbritannien in Brunei einen Militärstützpunkt und hat Zugang zu einer Marine-Einrichtung in Singapur, während es zugleich Berichte gibt, es gebe eine zunächst noch geheim gehaltene neue Marinebasis in der Region, vermutlich in Japan.



Gerüchten zufolge will Japan zudem Mitglied der „Five Eyes“ werden, der Geheimdienstpartnerschaft zwischen Großbritannien, den USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Das Vereinigte Königreich ist außerdem Mitglied der „Five Power Defense Arrangements“, zu denen Australien, Malaysia, Neuseeland und Singapur gehören.



Verteidigung könnte ein Kernbereich für Zusammenarbeit sein, vor allem, wenn Paris und Berlin ihre Versprechen im Hinblick auf verstärktes militärisches Engagement im Indo-Pazifik ernst meinen. Im Laufe dieses Jahres soll Deutschland ein Marineschiff in die Region schicken, um mit Australien gemeinsame Übungen abzuhalten. Frankreich führt bereits seit einigen Jahren „Freedom of Navigation“- Übungen im Südchinesischen Meer durch und wird ebenfalls in diesem Jahr ein Marineschiff in die Region verlegen.



Die Ära des Rückzugs beenden

Derweil plant London, 2021 seinen größten Flottenverband in die Region zu schicken, die vom 3,9 Milliarden Dollar teuren und 65 000 Tonnen schweren Flugzeugträger HMS Queen Elizabeth angeführt wird. Im November 2020 kündigte Johnson an, dass das britische Verteidigungsministerium für die kommenden vier Jahre zusätzlich zu seinem jährlichen Haushalt ein Budget von 16,5 Milliarden Pfund erhält; dies zeuge vom „Ende einer Ära des Rückzugs“, erklärte der Premier.



Britische und kontinentaleuropäische Militärverbände könnten in der Region gemeinsame Manöver durchführen. Dergleichen findet bereits statt: So waren beispielsweise 2017 britische Verbände als Teil der französischen „Jeanne d’Arc“-Task Force im Indischen Ozean unterwegs. Und die EU zu verlassen, bedeutet nicht, auch die intraeuropäischen verteidigungspolitischen Beziehungen aufzugeben, die auch bislang schon überwiegend bilateral geregelt waren. „Es ist wahrscheinlich, dass Großbritannien flexible Strukturen aufbauen will, die es ermöglichen, sich in die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzuschalten, wann immer dies im britischen Interesse liegt“, sagte Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations vergangenen Dezember voraus.



Tatsächlich bleibt Großbritannien weiterhin Mitglied der Joint Expeditionary Force (gemeinsam mit einigen EU-Mitgliedstaaten) und Teil der „Combined Joint Expeditionary Force“ mit Frankreich. London könnte seine verteidigungspolitischen Beziehungen auch durch die Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrats aufrechterhalten, wie ihn Berlin und Paris Anfang 2020 vorgeschlagen haben, oder durch ein „E3“-Format, bestehend aus dem Vereinigten Königreich, Deutschland und Frankreich. Paris hat bereits öffentlich darauf hingewiesen, dass Brüssel nun auch Nicht-EU-Mitglieder einladen kann, an Projekten im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) mitzuwirken. London könnte sich folglich daran beteiligen. Macron unterstützt zudem eine mögliche Einbindung des Vereinigten Königreichs in die Europäische Interventionsinitiative, die seit 2018 besteht.



Schlüsselnation Japan

Im Indo-Pazifik ist Japan für eine Verteidigungspartnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU von zentraler Bedeutung. „Japan hat das Potenzial, die Kooperation mit Europa im Bereich Verteidigung weiter auszubauen“, sagte der japanische Verteidigungsminister Nobuo Kishi nach einem Treffen mit seiner deutschen Amtskollegin Annegret Kramp-Karrenbauer im Dezember 2020. Wie japanische Medien berichteten, werden französische Truppen im Mai gemeinsam mit amerikanischen und japanischen Kräften an einer amphibischen Übung auf einer unbewohnten Insel im Südwesten Japans teilnehmen. Das Vereinigte Königreich könnte als wichtiger Vermittler dienen, mit dessen Hilfe Frankreich und Deutschland auch mit Australien und Singapur engere militärische Kooperationen eingehen könnten.



Ein weiteres Feld für Kooperationsmöglichkeiten im Indo-Pazifik ist der Klimaschutz. Großbritannien ist im November 2021 Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP26. Das von Premierminister Johnson ausgegebene Ziel, die Treibhausgasemissionen seines Landes bis 2030 gegenüber 1990 um 68 Prozent zu senken, ist deutlich ambitionierter als das Ziel der EU einer Reduzierung um 55 Prozent. Brüssel würde außerdem gut daran tun, London in Gespräche mit Indonesien und Malaysia zu einem geplanten Ende von Palmöl-Importen miteinzubeziehen, da dieser Importstopp der Grund dafür ist, dass Gespräche mit den beiden Staaten bislang gescheitert sind. Indonesien argumentiert, der Stopp von Palmöl-Importen sei Protektionismus, und hat den Fall bei der Welthandelsorganisation eingebracht. Großbritannien und die EU könnten zudem Fördermittel und Entwicklungshilfe zusammenlegen, um sicherzustellen, dass sie bei Umweltprojekten in der Region an einem Strang ziehen.



Das Gleiche gilt für den Schutz von Menschenrechten und den Demokratieaufbau. Die EU und das Vereinigte Königreich haben in den vergangenen Jahren angekündigt, sich hier international stärker einzusetzen. Johnsons Vorschlag einer D10-Gruppe demokratischer Staaten, in deren Rahmen Australien, Japan und Indien am G7-Treffen in London im Laufe dieses Jahres teilnehmen werden, passt zu US-Präsident Bidens Idee einer „Allianz der Demokratien“ und zum Versprechen des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, härter gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Auch bei Sanktionen gegen menschenrechtsverletzende Regimes könnten Großbritannien und die EU gemeinsam vorgehen, denn beide haben 2020 eigene Sanktionssysteme im Stile des amerikanischen Magnitsky-Gesetzes eingeführt.



Uneinig in Sachen China

Der Knackpunkt in der gemeinsamen Arbeit ist das Verhältnis zu China; bei dieser Frage bewegen sich London und Brüssel derzeit in verschiedene Richtungen. Die Haltung Großbritanniens war 2020 häufig härter als die schwache Rhetorik der EU, beispielsweise wenn es um die Unterdrückung und „Umerziehung“ von Millionen muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang oder um die Einflussnahme auf Hongkong geht. Die EU hat sich zudem so gut wie gar nicht zu Huawei geäußert und überlässt es den einzelnen Mitgliedstaaten, ob sie die Beteiligung des chinesischen Unternehmens am Aufbau des 5G-Netzwerks verbieten und sich dadurch den Zorn Pekings zuziehen wollen.



Als die Europäische Kommission Ende 2020 mit dem CAI ein umfassendes Investitionsabkommen mit China abschloss, behaupteten einige Beobachter, die EU habe nun ihr wahres Gesicht gezeigt: Die vermeintlich wertegeleitete Außenpolitik der EU sei zugunsten von Unternehmensgewinnen geopfert worden. Die Tatsache, dass die EU mit dem Abschluss dieses Abkommens nicht ein paar Monate warten konnte, um mit der neuen Biden-Regierung über eine gemeinsame China-Politik zu beraten, leistet der Ansicht Vorschub, die EU messe die USA und China am Ende doch mit gleichem Maß.



Brüssel und London positionieren sich bei der China-Politik also derzeit sehr unterschiedlich. Die britische Haltung könnte allerdings temporär sein, da sie insbesondere auf den Druck von Hinterbänklern im Parlament und Wählern zurückgeht, unter denen vielfach eine eher negative Einstellung zu China vorherrscht.



Dass es dennoch schon jetzt gemeinsamen Boden für eine Zusammenarbeit gibt, zeigte sich vergangenen September, als Frankreich, das Vereinigte Königreich und Deutschland gemeinsam eine Verbalnote an die Vereinten Nationen übermittelten, in der sie die Ansprüche Chinas im Südchinesischen Meer zurückwiesen. Wenn die militärische Kooperation zwischen den europäischen Staaten ausgebaut würde, könnte der Schutz des Völkerrechts im Südchinesischen Meer ein gemeinsames Handlungsfeld sein.



Ein neues Forum, in dem Großbritannien und die EU diese Themen besprechen können, wäre dabei besonders hilfreich. Im November haben sich die EU und die USA auf ein neues Dialogforum verständigt, in dessen Rahmen eine gemeinsame China-Politik diskutiert werden soll. Wie dieses Forum von dem neuen Abkommen zwischen der EU und China beeinflusst wird, wird sich zeigen. Aber ein ähnliches Dialogforum zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ist nicht undenkbar, und noch wünschenswerter wäre eines, das sich unmittelbar mit den großen Themen im Indo-Pazifik auseinandersetzt. Als erstes aber müssen beide Seiten erkennen, dass ihre jeweiligen Strategieansätze und Interessen in der Region allein nicht umzusetzen sind; stattdessen würden sie sich sinnvoll ergänzen, da beide über Vorteile verfügen, die die jeweils andere Seite nicht hat.

 

David Hutt pendelt als politischer Journalist zwischen Prag und London und schreibt vor allem über europäische Außenpolitik und die Beziehungen zwischen der EU und Asien.



Aus dem Englischen von Melina Lorenz

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 61-65

Teilen