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05. Mai 2014

Für Werte und Interessen

Warum Deutschland die Menschenrechte in China fördern sollte – und wie

Darauf beharren „Realisten“ gerne: Menschenrechtspolitik sei im besten Falle idealistisch, im schlimmsten arrogant – denn wem gebühre schon das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen? Falsch. Gerade im Fall Chinas wäre es im Interesse Deutschlands, eine deutliche Menschenrechtspolitik zu betreiben.

Deutschland hat ausgeprägte Wirtschaftsinteressen in China, für die sich die Regierung auch angemessen einsetzen sollte. Berlin ist Pekings bevorzugter diplomatischer Partner in Europa; anders als die USA ist Deutschland für China kein strategischer Rivale. Zudem ziert sich Deutschland aus „historischen Gründen“ generell, anderen Ländern Vorhaltungen in Wertefragen zu machen.

Dies erklärt die deutsche Zurückhaltung gegenüber China in Menschenrechtsfragen. Doch der oft bemühte Gegensatz von Werten und Interessen ist falsch. Werte sind ebenso wichtig wie nationale Interessen. Dies sei am Beispiel der Beziehungen Deutschlands zu China ausgeführt.

Welche Normen?

Wie andere westliche Staaten hat auch Deutschland ein elementares Interesse an der Einhaltung internationaler Regeln und Normen in den Bereichen Handel, Investitionen, Finanzen, Abrüstung und maritime Sicherheit. Auch die Wahrung der so genannten „ökonomischen, sozialen und kulturellen“ Rechte und damit die Gewährung von Entwicklungshilfe liegen in seinem Interesse. Eine wohlhabendere und sicherere Welt dient auch Deutschlands Wohlstand und Sicherheit. Dass es gälte, internationalen Normen wie der Ächtung von Genozid und anderen Verbrechen gegen die Menschheit Respekt zu verschaffen, ist sicher unstrittig. Die kontroversere Frage ist, wie stark es auch in Deutschlands eigenem Interesse ist, bürgerliche und politische Rechte zu fördern, die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren beinhalten.

Wo?

Man könnte behaupten: Je größer die Nachbarschaft, desto stärker auch das strategische Interesse an der Verankerung und Einhaltung bürgerlicher und politischer Rechte. Die Erweiterungspolitik der EU basiert auf der Idee, dass sich die internen Angelegenheiten benachbarter Staaten wie Ungarn, Ukraine oder Türkei direkt auf die Sicherheit Europas auswirken. Aus demselben Grund sorgen sich auch viele über die Menschenrechtssituation in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Wie aber verhält es sich mit weiter entfernten Ländern wie Myanmar, Kambodscha und China? Hat Deutschland ein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen?

Nach derzeitigem internationalen Recht lautet die Antwort: Ja, mit gewissen Einschränkungen. In unserer postwestfälischen Welt ist es Regierungen nicht nur erlaubt, sich zu ­äußern. Während der „Universal Periodic Review“ des UN-Menschenrechtsrats sind sie sogar dazu verpflichtet, Stellung zur Missachtung von Menschenrechten in anderen Staaten zu nehmen. China hat außerdem bilateralen Regierungsgesprächen unter anderem mit Deutschland über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zugestimmt. Als stärkste Maßnahmen sind nach internationalem Recht auch Wirtschaftssanktionen und sogar bewaffnete Intervention erlaubt – aber nur, wenn sie ein Mandat des Sicherheitsrats bekommen. Viel umstrittener ist der Bereich, der zwischen diesen Optionen liegt: Welche legalen Maßnahmen kann ein Staat ergreifen, die stärker sind als der Revisionsprozess des UN-Menschenrechtsrats oder bilaterale Gespräche und schwächer als Wirtschaftssanktionen oder gar eine Intervention?

In Deutschland gibt es dabei jenseits der politischen auch eine moralische Komponente, denn häufig wird argumentiert, dass es Deutschland wegen seiner Geschichte nicht anstünde, sich zum Schulmeister in Fragen der Menschenrechte aufzuschwingen. Das mag löblich sein, ist aber nicht automatisch moralisch. Denn wann eine „Einmischung“ notwendig wird, hängt ja nicht von historischen Lasten, sondern von der spezifischen Situation ab.

Ebenfalls häufig zu hören ist das Argument, dass es zwar rechtlich und moralisch erlaubt sein mag, sich für die Einhaltung der Menschenrechte in anderen Ländern einzusetzen. Dass es doch aber sinnlos wäre, fremden Kulturen die eigenen Werte und Normen aufzwingen zu wollen. Nun gibt es zwar kaum noch Länder, die Jahrhunderte nach Beginn der westlichen Moderne gänzlich unberührt geblieben wären von diesen „fremden“ Werten, auch wenn der Grad ihrer Verankerung in den jeweiligen Gesellschaften sicherlich nicht statistisch zu messen ist.

Auch in Asien sind Menschenrechtsnormen weithin anerkannt. Und selbst, wenn Opfer von Unterdrückung lieber nach „Gerechtigkeit“ rufen, als den „Rechtsstaat“ zu fordern, so haben sie genau das im Sinn, was in den internationalen Codices der Menschenrechte verankert ist: das Recht auf persönliche Sicherheit, Gedankenfreiheit, Redefreiheit und gerechte Regierungen, die ihren Bürgern dienen und nicht umgekehrt. Wie überall sind es auch in Asien eher die Mächtigen als die Machtlosen, die auf eine angeblich „fremde westliche ­Kultur“ verweisen, wenn sie Kritik von außen abwehren wollen.

Dessen ungeachtet bleibt doch zu fragen: Welches Interesse hat Deutschland daran, Bürgerrechte in China zu fördern? Und in welchen Bereichen?

Rechtsstaatlichkeit verankern

Eine „Herrschaft des Rechts“ – und damit eine zentrale Komponente der bürgerlichen und politischen Rechte – ist aus verschiedenen Gründen in deutschem Interesse. Es gilt zunächst, deutsche Staatsbürger in China wie Geschäftsleute, Wissenschaftler, Journalisten oder Touristen zu schützen. Immer wieder wurde deutschen, aber auch Bürgern anderer westlicher Staaten die Ausreise aus China verweigert; nicht wenige wurden verhaftet oder von den Behörden schikaniert. So sitzt der Deutsche Nils Jennrich gerade wegen des „Imports unterbewerteter Kunstobjekte“ im Gefängnis. Ungeachtet der Frage, ob sich diese Vorwürfe als wahr herausstellen, lässt sich feststellen, dass die meisten Verhaftungen ausländischer Staatsbürger auf Dispute mit chinesischen Behörden oder staatsnahen Unternehmen zurückzuführen sind. Oft werden die Inhaftierten im Gefängnis misshandelt, nie sind die Verfahren transparent.

Noch dringender auf Schutz angewiesen sind chinesische Staatsbürger, die für deutsche oder andere ausländische Unternehmen arbeiten. Können sie nicht auf ein unabhängiges Rechtssystem und transparente, faire Gerichtsverfahren zählen, haben sie gerade dann Willkür zu fürchten, wenn „ihre“ Unternehmen unter staatlichen Druck geraten. Ohne verlässliches, transparentes Rechtssystem ist weder das Eigentum von Ausländern und ihrer chinesischen Angestellten und Partner – inklusive geistigen Eigentums – ausreichend geschützt. Noch wären ausländische und chinesische Firmen vor Übervorteilung oder unlauterem Wettbewerb gefeit. Wer über Einfluss in den Kontrollbehörden und Gerichten verfügt, wird seine Macht auch dazu nutzen, Wettbewerbsvorteile gegenüber ausländischen Unternehmen zu gewinnen.

Dieses Interesse geht über die Aktivitäten ausländischer Unternehmen in China selbst hinaus. Der chinesische Markt ist riesig und chinesische Unternehmen steigen in der Wertschöpfungskette rasch auf. Für ausländische Unternehmen aber wird es sehr viel schwieriger, erfolgreich mit chinesischen Unternehmen zu konkurrieren, wenn diese ihre Arbeitskräfte weiter ungehindert ausnutzen sowie ökologische Standards und das Recht auf geistiges Eigentum verletzen. Zieht China auf diesem Gebiet nicht nach, dann setzt auch für deutsche Unternehmen ein immer schneller werdendes „race to the bottom“ ein; dann müssen sie selbst Löhne und Arbeitsstandards senken.

Kritische Öffentlichkeit zulassen

Dass das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt wird, hat nicht nur negative Folgen für China selbst. Eben weil die Kontrolle durch eine kritische Öffentlichkeit fehlt, kommt es immer wieder zu Skandalen, die auch andere Länder betreffen. So wurde Kinderspielzeug mit giftiger, bleihaltiger Farbe exportiert; Umweltprobleme oder der Ausbruch von Epidemien wie SARS oder der Vogelgrippe wurden von den staatlichen Stellen zunächst verschwiegen oder kleingeredet, was ein frühzeitiges Krisenmanagement erschwerte. Noch immer ist eine kritische Öffentlichkeit das beste Mittel, um solchen Missständen abzuhelfen. „Whistleblower“ aber brauchen die Aufmerksamkeit und Unterstützung des Auslands, wenn sie nicht zum Schweigen gebracht werden sollen. Natürlich steht nicht jede Enthüllung in direktem Zusammenhang mit deutschen oder generell ausländischen Interessen. Aber es ist in einem direkten deutschen Interesse, Presse- und Redefreiheit in China zu fördern.

Dazu kommt: Nachhaltiges Wachstum in China ist von entscheidender Bedeutung für Deutschlands Wohlstand. Korruption, Umweltverschmutzung, illegale Landnahme und Überinvestition für „Ego-Bauprojekte“ – die durch überbordende Machtkonzentration und die Unterdrückung von Dissidenten erst möglich gemacht werden – aber gefährden dies. Ohne eine „Gegensteuerung“ durch eine kritische Öffentlichkeit, also ohne Rede- und Pressefreiheit, das Recht auf Versammlung und ohne Rechtsstaatlichkeit, wird China nach Meinung vieler Beobachter auf eine Krise zusteuern, die durch die jetzigen Fehlentwicklungen wie Immobilien- und Aktienblasen, Überinvestitionen in unproduktive Infrastrukturprojekte und wachsende Kosten der Umweltverschmutzung entstehen kann. Weil aber die chinesische Wirtschaft so groß und globalisiert ist, hätte eine solche Krise enorme Auswirkungen auf andere Volkswirtschaften der Welt – und ganz sicherlich auf die deutsche Wirtschaft.

Kein falsches Vorbild fördern

Direkt und indirekt nimmt China Einfluss auf Länder, die auch für Deutschland von großem Interesse sind – vor allem in Afrika. Mit seiner Entwicklungshilfe, seinen Investitionen und Handelsbeziehungen unterstützt Peking oft Regime, die Arbeitsrechte, Landrechte, Umweltrechte sowie bürgerliche und politische Rechte einschränken – also genau jene Bereiche, die essentiell wichtig wären, um den dortigen Missständen abzuhelfen. Auch indirekt besitzt das „Modell China“, das in der Lage zu sein scheint, großes Wachstum ohne demokratische Strukturen zu generieren, enorme Anziehungskraft, gerade für autokratische Regime. Das untergräbt die Bemühungen Deutschlands und anderer Länder, Good-Governance-Strukturen in den Entwicklungsländern zu schaffen.

Stabilität sichern

Deutschland hat ein Interesse an der politischen Stabilität Chinas. Politischer Aufruhr würde nicht nur in Chinas unmittelbarer Nachbarschaft unkalkulierbaren Schaden anrichten. Das Wirtschaftswachstum könnte global erlahmen, Umweltprobleme wären noch schwerer zu lösen, es könnte zu größeren Flüchtlingsbewegungen oder gar zu militärischen Auseinandersetzungen kommen. Wenn wir davon ausgehen, dass Veränderungen des politischen Systems in China wohl unweigerlich eintreten werden, dann müssten wir uns auch aktiv dafür engagieren, dass sie möglichst ohne größeres Chaos vonstatten gehen. Die Unterdrückung von Dissens ist dabei nicht hilfreich. Unerlässlich hingegen sind ein verlässliches Rechtssystem sowie transparente und verantwortungsvolle Institutionen.

Nicht zuletzt hat Deutschland ein Interesse an strategischer Stabilität in Asien. Der Gebietsstreit im Ost- und Südchinesischen Meer und Pekings Pläne, seine Marine, Raketenstreitmacht sowie Weltraum- und Cyberkriegskapazitäten auszubauen, haben Spannungen verursacht. Welche strategischen Absichten China hegt, bleibt weitgehend Spekulationen überlassen, da die chinesische Außenpolitik im kleinsten, abgeschlossenen Zirkel beschlossen wird. Würde sie in einem offenen politischen Prozess formuliert, wäre sie transparenter und nachvollziehbarer und könnte das Misstrauen der Nachbarn und das Risiko von Fehleinschätzungen verringern.

Als Mittelmacht in einer interdependenten Welt ist Deutschland für seinen Wohlstand und seine Sicherheit auf internationale Rechtsstaatlichkeit angewiesen. Die Zwangsenteignung von einem Stück Land in ­Sichuan oder die Verhaftung eines Bloggers in Guangdong mag Deutschlands Interessen nicht direkt beeinflussen; aber ein politisches System, dem dieser Missbrauch immanent ist, ist eine Bedrohung für Deutschlands Interessen. Je größer die Achtung für Menschenrechte in China, desto mehr ist auch Deutschlands Interessen ­gedient.

Da geht noch was

Deutschlands derzeitige Menschenrechtspolitik gegenüber China ist nützlich, aber unzureichend. Einige Mängel seien hier aufgezeigt.

Das Prinzip „Wandel durch Handel“ mag wohl generell Positives bewirken. Nach drei Jahrzehnten des wirtschaftlichen Engagements in China dürfte man aber feststellen können, dass sich ein „Wandel“ nur sehr langsam vollzieht. Chinas Regime hat eine bemerkenswerte und erfolgreiche Strategie des „Wandels nach Gusto“ entwickelt. Reformen finden nur dort statt, wo man es selbst anstrebt. Auch geschieht der Prozess der Demokratisierung und Liberalisierung nicht automatisch. Und enge Handelsbeziehungen schützen weder vor unerwarteten Ereignissen, die diesen Prozess chaotisch verlaufen lassen können, noch reichen sie aus, um Menschenrechte zu fördern.

Sowohl die deutsche Regierung als auch parteinahe Stiftungen führen regelmäßig Gespräche über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit Vertretern der chinesischen Regierung. Das mag zu Verbesserungen in Teilen der chinesischen Rechtsordnung beitragen. Nur finden sich auf der chinesischen Seite des Dialogs vor allem Vertreter des Regimes oder regierungsnahe Akademiker. Mehr als das, was das Regime ohnehin für nützlich oder wünschenswert hält, wird man mit diesem Mittel also nicht erreichen können.

Daneben kommt Deutschland als Mitglied des UN-Menschenrechtsrats natürlich seiner Verpflichtung nach, Menschenrechtspraktiken im Rahmen des regelmäßigen Review-Prozesses zu kommentieren. Doch dafür stehen 50 Sekunden zur Verfügung. Eine sorgfältige Analyse ist also nicht möglich. Immer wieder auch setzt sich Berlin auf diplomatischer Ebene für Menschenrechte ein, gewährt in Einzelfällen Asyl für chinesische Aktivisten und Autoren oder setzt symbolisch durch die Ehrung des Dalai Lama oder von Künstlern wie Ai WeiWei Zeichen.

Auch Stiftungen, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen tragen dazu bei, die deutsche Position in Menschenrechtsfragen zu verdeutlichen. Damit leistet man eine ganz wichtige Unterstützung für chinesische Dissidenten. Auf die Praktiken des Regierungsapparats selbst hat das keinen oder nur sehr geringen Einfluss. Bundeskanzlerin Merkel genießt unter chinesischen Politikern eine hohe Glaubwürdigkeit und vermag es, spezifische Fälle respektvoll zur Sprache zu bringen. Reagieren die chinesischen Verantwortlichen nicht, kann stille Diplomatie durch etwas mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ergänzt werden. Aber fallspezifische Interventionen sind naturgemäß begrenzt und tragen nur wenig zu Veränderungen auf der Systemebene bei.

Mehr wäre hier tatsächlich mehr. Das Thema Menschenrechte sollte beständiger Teil der deutschen China-Politik sein. Es läge im deutschen Interesse, wenn Kanzleramt und Auswärtiges Amt Menschenrechtsangelegenheiten – sowohl symbolischer Natur als auch spezifische Einzelfälle – zum Gegenstand ihrer Gespräche mit ranghohen Repräsentanten machten und diese Angelegenheiten dann konsequent auf Arbeitsebene weiter verfolgten. Auch wenn Peking es immer wieder versucht hat zu verhindern.

Doppelte Standards?

Dabei wird gerne eingewandt, dass westliche Regierungen mit zweierlei Maß messen würden. Schließlich würde das Thema Menschenrechte dann schnell irrelevant, wenn Pekings Gesprächspartner Dringenderes zu besprechen hätten. Das ist übertrieben. Regierungen sind durchaus in der Lage, mehrere, ihnen wichtige Ziele auf einmal zu verfolgen, wenn sie nur klar formuliert sind. Im Übrigen misst auch China mit zweierlei Maß. Norwegen oder Großbritannien wurden für die Unterstützung von Dissidenten und den Empfang des Dalai Lama jedenfalls härter abgestraft als das für China wichtigere Deutschland.

Noch weiter gehen Kritiker, die einer deutlichen Menschenrechtspolitik generell eine gewisse Verlogenheit unterstellen. Schließlich habe sich der Westen doch selbst Menschenrechtsverletzungen wie Folterungen von Terrorverdächtigen durch die CIA oder die flächendeckende Bespitzelung durch die NSA vorzuwerfen. Deutschland aber hat sich nicht an diesen Menschenrechtsverletzungen beteiligt, als Verbündeter der USA hat es sie sogar deutlich kritisiert. Nun mag auch Deutschlands Bilanz nicht perfekt sein. Aber wäre Perfektion eine unerlässliche Voraussetzung für Kritik an der Verletzung von Menschenrechten in anderen Ländern, dann sollte wohl auch China darauf verzichten, die Menschenrechtsverletzungen in den USA anzusprechen, wie es das jetzt gerne tut.

Gespräche zu Menschenrechten sollten nicht nur Teil der diplomatischen Routine sein – sie sollten auch umfassender sein als bisher. Berlin spricht immer wieder die ohne Frage sehr wichtigen Themen Todesstrafe, Meinungsfreiheit im Internet, Minderheitenrechte, Umerziehung durch Arbeit und Folter an. Aber es sollte China auch dazu drängen, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den es 1998 unterschrieben hat, endlich zu ratifizieren. Chinesischen Anwälten stünde so ein wirksames Mittel zur Verfügung, die Regierung zur Erfüllung ihrer Vertragsverpflichtungen zu bewegen.

In eigener Initiative wiederum sollte Deutschland konkrete Fälle ansprechen, die unbestritten internationale Standards verletzen, Zeichen für einen systematischen Missbrauch sind und ganz klar deutsche Interessen berühren, ungeachtet der Frage, ob auch deutsche Bürger direkt betroffen sind. Dazu gehören die Verhaftungen von „Whistleblowern“, oder von Menschen, die sich innerhalb des in China geltenden Rechtsrahmens für friedliche Veränderungen einsetzen wie Xu Zhiyong und andere Mitglieder der „Neuen Bürgerbewegung“. Einsatz wäre auch notwendig für Menschen, die nicht einer der fünf offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften angehören und ihre Religion friedlich ausüben wollen. Das gilt auch für Uiguren und Tibeter oder deren Gemeinden, die ihre Religion und kulturelle Identität friedlich leben wollen sowie für Bürger, die durch lokale Regierungsbeamte schikaniert wurden, weil sie sich gegen die Konfiszierung ihres Landes, Zwangsumsiedlungen, Korruption oder Umweltverschmutzung zur Wehr gesetzt haben.

Stille Diplomatie ist dafür nicht immer das geeignete Mittel, auch wenn einige Beobachter davor warnen, Menschenrechtsfragen offen anzusprechen. Schließlich würde man die chinesische Führung nur in Verlegenheit bringen. Oder es handle sich ohnehin nur um Schaufensterdiplomatie, die auf die eigene Öffentlichkeit abziele. Nur: Klare Worte unterstreichen, wie wichtig Berlin dieses Thema nimmt, sie leisten dringend notwendige moralische Unterstützung für chinesische Menschenrechtler und sie könnten chinesische Regierungsvertreter auf höherer Ebene dazu bringen, Missbrauch auf unteren Ebenen des Regierungsapparats wahrzunehmen und dem entgegenzuwirken. Das Argument, Deutschland sei zu klein, um einen so großen Akteur wie China bestrafen zu wollen, unterschätzt Deutschlands Bedeutung für China. Peking kann es sich nicht leisten, Berlin ebenso abzustrafen wie andere Länder.

Wertediplomatie

Auf globaler Ebene gälte es, die Validität des UN-Menschenrechtssystems zu bewahren oder wieder herzustellen. Der Westen hat China und anderen autoritären Staaten die Festlegung der Grundregeln für den UN-Menschenrechtsrat weitgehend überlassen – die dann glatt eine Verteilung der Sitze nach Region durchgesetzt haben. Das verschafft just jenen Regimen Vorteile, die Menschenrechte missachten, verhindert einen zielgerichteten Evaluierungsprozess für jene Länder, in denen die schlimmsten Missbräuche stattfinden, und machen es fast unmöglich, länderspezifische Resolutionen einzureichen. China und seine Verbündeten konnten zudem die Mandate der „Sonderverfahren“ (special procedures) des Menschenrechtsrats einschränken. Und nicht zuletzt haben es die westlichen Länder versäumt, China zu einer intensiveren Kooperation mit dem Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zu bewegen.

China hat es sehr erfolgreich vermocht, all jene auseinander zu dividieren, die das Thema Menschenrechte ansprechen. Deutschland sollte also seine Menschenrechtsdiplomatie gegenüber China stärker mit seinen Verbündeten und EU-Partnern koordinieren. Das mag keine der leichtesten Übungen sein. Aber westliche Menschenrechtsdiplomatie hätte einen wesentlich größeren Einfluss, wenn die europäischen Staaten dieselben, miteinander verbundenen Themen behandeln, relevante Demarchen, Dialoge und Menschenrechtsratsresolutionen koordinieren und sich solidarisch verhalten würden, sobald sich der Ärger Pekings gezielt gegen ein Land richtet.

All dies wäre auch im strategischen Interesse der europäischen Partner. Denn wenn es um Menschenrechte geht, ist Wertediplomatie der wahre Realismus.

Prof. Dr. 
Andrew J. Nathan 
lehrt Politikwissenschaft an der Columbia University, New York. Sein neuestes Buch (mit Andrew Scobell): „China’s Search for Security“ (2012).
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 86-93

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