Für eine realistische Europa-Debatte
Wunsch und Wirklichkeit: Deutschlands EU-Bild ist apolitisch und realitätsfremd
16 Jahre nach Erlangung der vollen staatlichen
Souveränität zeigt die außenpolitische Debatte der Bundesrepublik vor allem
eines: die fundamentale Unreife der öffentlichen Auseinandersetzung über die
zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre. Diese manifestiert sich
besonders in der unrealistischen Diskussion um die deutsche Europa-Politik.
Das Land und seine Bevölkerung, ja sogar weite Teile der politischen Elite sind noch nicht angekommen in einer Situation, die einerseits geprägt ist von der latenten Bedrohung der Freiheit durch die Feinde der offenen Gesellschaft und andererseits von dem massiven Druck, den die Globalisierung auf das deutsche Wohlstandsmodell ausübt. Sichtbaren Niederschlag findet diese Unreife zum einen in der (fehlenden) Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr, in der Bevölkerung und Teile der Entscheider noch immer davon ausgehen, dass Deutschland mit Berechtigung eine Sonderrolle spielen und die Bundeswehr von echten Kampfeinsätzen mit ihren furchtbaren Risiken ferngehalten werden kann.1 Vor allem aber zeigt sie sich in der weitgehend unrealistischen Diskussion um die deutsche Europa-Politik.
Die europäische Integration diente den Deutschen seit den fünfziger Jahren vor allem als politische Ersatzreligion. Das diskreditierte Nationale, das in den Kategorien von Interesse und politischem Wettbewerb denkt, wurde sublimiert und in das unverdächtige Modell Europa projiziert. Als Folge entwickelte sich Deutschland zum europäischen Musterland mit der größten Bereitschaft zur weitestgehenden Integration. Dies war eine durchaus rationale und vor allem eine äußerst wirksame Strategie, da es nicht nur darum ging, Wohlstand zu schaffen, sondern vor allem darum, sich selbst und den deutschen Nachbarn und vormaligen Kriegsgegnern wieder vertrauenswürdiger Partner zu werden.
Diese sowohl nach innen als auch nach außen gerichtete Selbstaufgabe („Ich fühle mich nicht als Deutscher, ich bin Europäer“) verfehlte die intendierte Wirkung nicht. Aber sie hat den Deutschen von Beginn an ein verzerrtes Bild von Europa vermittelt, indem es sie glauben ließ, die Schaffung und der Ausbau der Brüsseler Kompetenzen und Institutionen sowie eines umfangreichen Rechtsbestands würden allein schon zu einem leistungsfähigen und einigen Europa, zu Frieden und Wohlstand führen. Es war diese Grundannahme, die die Deutschen letztlich sogar ihre eigene Währung aufgeben ließ, eine der wenigen unumstrittenen Insignien eigener nationaler Stärke.
Nun, da die Begründung Europas nicht mehr hauptsächlich in der Einhegung Deutschlands liegt, sondern im Überlebenskampf in einer sich globalisierenden Welt, ist dieses Europa-Bild endgültig nicht mehr brauchbar. Spätestens jetzt stellt sich heraus, dass dieses Bild apolitisch ist und damit wirklichkeitsfremd. Da sich aber nicht nur dieser Außendruck für Reformen erhöht, sondern auch allenthalben von europäischer Krise zu lesen und zu hören ist, ist es höchste Zeit für eine realistische deutsche Europa-Debatte. Denn Europa kann nur von selbstbewussten und starken Nationen gemacht werden. Selbstaufgabe ist kein Zukunftsmodell mehr. Was bedeutet das konkret?
Europa ist kein Selbstzweck mehr
Deutschland muss lernen, dass die europäische Integration kein Selbstzweck mehr ist, sondern einem nüchternen, funktionalen Kalkül entspringt. Wie jedes politische System hat Europa sich vor allem an seiner Nützlichkeit messen zu lassen, d.h. an seiner Fähigkeit, die praktischen politischen Probleme der Bürger Europas zu lösen. In Deutschland, wo man geneigt ist, die Sache an sich schon für ausreichend zu halten, ist dies eine ungewohnte Übung, die aber dringend erforderlich ist, um Europa an den Stellen zu vertiefen, wo es notwendig ist – und an anderen Stellen auch über weniger Europa nachzudenken, sofern möglich. Ohne kritische, an der erbrachten Leistung orientierte Bewertung ist dies nicht möglich,
Die Monnet-Methode, die eine politische Einheit Europas über seine wirtschaftliche und regulative Integration erzwingen will, ist vor allem selbstbezogen, d.h. sie betrifft in erster Linie das Verhältnis der europäischen Staaten untereinander. Diese Methode reichte aus, solange ein dynamischer Wirtschaftsraum Europa hauptsächlich aus sich selbst heraus Wohlstand und Frieden für seine Mitglieder erzeugen konnte. In einer globalisierten Welt, in der weit entlegene Teile des Globus direkt und ohne Zeitverzug in Konkurrenz stehen, in denen sich Kapital und Arbeitskräfte so frei wie noch nie im Markt bewegen, ist die Monnet-Methode, mit der vor allem Deutschland so gut leben konnte, nicht mehr ausreichend. Europa steht dabei doppelt unter Druck: Die für den globalen Wettbewerb benötigte weitere Integration Europas ist mit immer mehr Mitgliedsstaaten immer schwerer zu handhaben. Gleichzeitig muss Europa aber viel schneller und flexibler einem steigenden Außendruck gewachsen sein. Die Monnet-Methode, die zwar effektiv, aber auch sehr langsam vorgeht, ist dem nicht gewachsen. Vor allem aber ist sie eines: Politikersatz. Indem sie die politische Integration als alleinige Folge wirtschaftspolitischer Weichenstellungen betrachtete, enthob sie die politischen Führer Europas auch ihrer Verantwortung für eine bewusst gestaltete Politische Union. Nichts aber benötigt die EU so sehr wie das bewusste und vereinte Angehen politischer Probleme durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Deutschland muss erkennen, dass das automatisierte Abtreten nationaler Gestaltungsmöglichkeiten Richtung Brüssel die erforderlichen Ergebnisse nicht erbringen wird. Erzielt werden diese Ergebnisse nur durch eine starke deutsche Position, die sich dem Wettstreit der politischen Ideen stellt. Nicht mehr Selbstaufgabe, sondern Selbstbehauptung ist erforderlich. Dies erfordert eine klare Definition deutscher Interessen, den Willen zum Kampf um Mehrheiten für diese Ideen, die Bereitschaft zum Kompromiss und eine gehörige Portion Skepsis gegenüber Brüsseler Automatismen. Mit der gemütlichen Ersatzreligion früherer Zeiten hat dies nichts mehr zu tun.
Vergesst die Verfassung!
Bestes Indiz dafür, dass die alten europapolitischen Reflexe in Deutschland noch funktionieren, ist die Debatte um den gescheiterten Entwurf für einen EU-Verfassungsvertrag. Nach den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich, die eine endgültige Ratifizierung unwahrscheinlich erscheinen lassen, hätte es in Deutschland eine Chance gegeben, das Projekt genauer zu betrachten und auf seinen tatsächlichen Wert für die Zukunft Europas hin zu prüfen. Diese Diskussion aber unterblieb. Stattdessen wurde in Fachbeiträgen, auf Konferenzen und in Talk-Shows der Eindruck vermittelt, das Schicksal Europas hänge davon ab, die Verfassung doch noch irgendwie in Kraft zu setzen. Andernfalls drohe das Scheitern des gesamten „Projekts Europa“. Diese Haltung entspricht dem tief verankerten deutschen Institutionenglauben und dem weit verbreiteten Irrtum, dass sich Probleme, die in Wahrheit in mangelndem politischen Willen und fehlender Führungskraft begründet liegen, durch Kodifizierung und Regulierung beheben ließen. Beides sind traditionelle Irrtümer der deutschen außenpolitischen Debatte (die u.a. auch zu einem geradezu naiven Glauben an die Macht der Vereinten Nationen führen) und deutlichstes Indiz für die Unreife der außenpolitischen Debatte.
Das Scheitern der Verfassung ist nicht das zentrale Zukunftsproblem Europas. Der integrationspolitische Nettogehalt des Entwurfs ist nicht sonderlich hoch und hätte die faktische politische Krise Europas kaum beseitigt.2 (Abgesehen davon, dass man sich fragt, was die Staaten Europas davon abhält, die dort einstimmig vereinbarten neuen Regularien bereits jetzt in die Tat umzusetzen.) Die Erwartungen an die Verfassung waren und sind viel zu hoch. Schlimmer noch: Die Verfassungsdebatte ist ein weiteres Beispiel für die eigentliche, die politische Krise Europas – statt über die zentralen Zukunftsprobleme der EU Einigkeit zu erzielen, statt über geeignete Maßnahmen zu streiten und alles daran zu setzen, einen gemeinsamen politischen Willen herbeizuführen, hat die politische Elite Europas mit der Verfassung eine Scheindebatte geführt, deren vorrangiges Ziel es ist, von der fundamentalen Uneinigkeit der 25 abzulenken. Institutionenfragen sind grundsätzlich Folgefragen, nicht Führungsfragen. Wenn sich die betroffenen Akteure über gemeinsame Ziele einig geworden sind, haben die Institutionen zu folgen und werden entsprechend der Zielsetzung konstruiert und ausgestattet. Immer wenn es andersherum abläuft, wie bei der Verfassung geschehen, ist dies ein sicheres Zeichen für eine politische Krise und politische Handlungsunfähigkeit.
Das Projekt Europa wird dann vorankommen, wenn die Mitgliedsstaaten sich zusammenraufen, um die zentralen, fast übergroßen Zukunftsthemen Europas gemeinsam anzupacken. Hierzu gehören die Folgen des demographischen Wandels, die strukturelle Schwäche der europäischen Volkswirtschaften, die angesichts von Globalisierung suizidal zu nennende Tendenz zur Renationalisierung im Binnenmarkt („nationale Champions“), die fundamentale Krise im Bildungswesen in fast ganz Europa, die versorgungstechnischen und politischen Abhängigkeiten im Bereich Energieversorgung, der nicht einmal ansatzweise vollzogene Wandel von Immigrations- zu Integrationsgesellschaften und nicht zuletzt die große Ungewissheit der Europäer gegenüber ihrer eigenen Identität und ihren eigenen Werten. Die Verfassung gehört nicht zu diesem Katalog, und je länger über sie debattiert wird, desto mehr Zeit und Kraft gehen für das verloren, was eigentlich zählt.
Verteidigt den Binnenmarkt!
Das eigentlich Bedrohliche an der gegenwärtigen Europa-Depression ist nicht nur die mangelnde Verständigung über einen grundlegenden Europa-Kurs der 25 Mitgliedsstaaten, sondern es sind die Tendenzen, den bereits erreichten Integrationsstand wieder in Frage zu stellen. Hauptangriffsziel ist dabei das Kernstück der EU, der Binnenmarkt. Nach dem Monnet’schen Modell waren die Vergemeinschaftung der Handelsbeziehungen und die damit einhergehende Liberalisierung (sowie Regulierung) der Märkte in der EU das Zugpferd für das politische Europa. Es ist daher ein Alarmsignal – und ein Indikator für die Tiefe der EU-Krise –, dass die Regierungen von EU-Mitgliedsstaaten in offenem Vertragsbruch nationale Industrien und Unternehmen vor Übernahmen und Beteiligungen schützen wollen (Autostrade, Endesa), und es der Kommission nur mit Mühe gelingt, diese Tendenzen einzudämmen. Ins Bild passt, dass in Großbritannien erstmals eine Mehrheit der Unternehmer und Manager der Auffassung ist, dass die Kosten des Binnenmarkts seinen Nutzen übersteigen.3
Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass die EU in eine ernste Existenzkrise geraten kann, wenn der Wille zum Festhalten an ihrem Kernstück schwindet. Der Binnenmarkt ist eine Wohlstandsmaschine ersten Grades. Neben den Struktur- und Regionalfonds ist es vor allem der Binnenmarkt, der die Mitgliedschaft in der EU attraktiv macht und aus dem Europa seine ordnungspolitische Gestaltungskraft gegenüber Mitgliedskandidaten und Handelspartnern ableitet. Wer den Binnenmarkt in Frage stellt und damit die vielgerühmte Soft Power der EU unterminiert, der braucht über Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und über eine reanimierte Lissabon-Strategie erst gar nicht zu reden.
Die Naivität der Debatte liegt beim Thema Binnenmarkt in der populistischen Ausschlachtung von Überregulierung und scheinbarem Realitätsverlust der EU-Institutionen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tatsächlich vorhandenen Schwächen und Übertreibungen bei Liberalisierung und Regulierung findet dabei nicht statt. Kühl kalkulierend tragen dabei die beiden Denkschulen des Binnenmarkts ihr Gefecht auf dem Rücken eben jener Kreatur aus, die sie zu schützen vorgeben. Diejenigen, denen der Binnenmarkt vornehmlich Freihandelszone und Liberalisierungsinstrument ist, werfen denjenigen, die mit Regulierungen auch Sozialstandards, Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechte schützen wollen, Sozialromantik und die Tendenz zum Superstaat vor. In die Gegenrichtung schallt der Vorwurf des kalten, ausbeuterischen Neoliberalismus.
Doch der Binnenmarkt taugt nicht für ideologische Nabelschau, denn die EU kann es sich nicht leisten, bei der Stärkung der Hauptstütze ihrer Weltgeltung Zeit zu verlieren. Eine Rückkehr zu nationalen Egoismen im vergemeinschafteten Bereich wäre fatal und angesichts eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs geradezu aberwitzig. Der Binnenmarkt muss gestärkt und ausgeweitet werden (z.B. im Energiesektor und im von Deutschland zäh verteidigten öffentlichen Bankensektor). Und er muss auch qualitativ weiterentwickelt werden. Liberale und entschlackte Modelle wie die von Gordon Brown, der anmahnt, den Binnenmarkt nicht nur als Binnenverhältnis der Mitgliedsstaaten zueinander, sondern als Instrument der globalen Positionierung der EU zu betrachten,4 und die in unregelmäßigen Abständen wiederkehrende Idee einer Transatlantischen Freihandelszone mit Nordamerika (TAFTA)5 erscheinen im Moment nicht realisierbar, zeigen aber an, in welchen Dimensionen angesichts der enormen Herausforderungen gedacht werden muss.
Denkt Europa strategisch!
Die deutsche Europa-Debatte ist hauptsächlich mit technischen Fragen der Integration, d.h. mit den Niederungen des politischen und administrativen Tagesgeschäfts befasst. Das ist zunächst einmal gut so und für eine gewissenhafte und solide Außenpolitik unentbehrlich. Was Deutschland allerdings fehlt, ist der langfristige, strategische und global vernetzte Blick auf die Europäische Union. Stattdessen hält man es für strategisch, in irrelevanten Finalitätsdebatten theoretische Modelle eines zukünftigen Europas gegeneinander abzuwägen. Dies zeugt von einem fundamentalen Missverständnis, was Größe und Bedeutung der EU, vor allem was aber die Erwartungshaltung unserer Nachbarn gegenüber der EU angeht. Die EU ist längst ein strategischer Akteur auf der Weltbühne, von dem Lösungsansätze für den Nahen Osten, für Afrika, für den freien und fairen Welthandel und in der globalen Sicherheitsarchitektur erwartet werden. Die Frage zukünftiger Beitritte (vor allem der der Türkei) sowie die attraktive Ausgestaltung einer neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) können dabei nicht nur vor dem Hintergrund der internen Funktionstüchtigkeit der EU geführt werden, sondern sie müssen den Blick fest auf die geostrategischen Notwendigkeiten und langfristigen Folgen europäischer Entscheidungen richten. So ist beispielsweise auch die dringend erforderliche Anhebung der deutschen Militärausgaben in Zukunft nicht mehr zuvorderst eine Frage der deutschen, sondern vor allem eine der europäischen Leistungsfähigkeit.
Europa kann seine Legitimität (noch) nicht aus eigener Kraft nachweisen. Seine Existenzberechtigung bleibt eine von den Nationalstaaten abgeleitete. Umso dringlicher ist es, die für alle demokratischen Gesellschaften so wichtigen meinungsbildenden Debatten auch zum Thema Europa in Deutschland auf hohem Niveau zu führen. Die genannten komplexen Zusammenhänge müssen erkannt und unermüdlich vermittelt und erklärt werden, damit eine entsprechende Politik der Eliten auch langfristig vom deutschen Souverän, dem Bürger, der auch Bürger Europas ist, mitgetragen wird.
Anmerkungen
1 Die wiederholten Bemühungen der Verteidigungsminister Peter Struck und Franz Josef Jung, eine öffentliche Debatte über die möglichen Konsequenzen militärischer Kampfeinsätze zu initiieren, zu denen Deutschland sich sowohl in der NATO als auch in der EU verpflichtet hat, fanden keinen Widerhall.
2 Die klarsichtigste und wissenschaftlich fundierteste Darstellung dieser Problematik liefert mit Andrew Moravcsik bezeichnenderweise kein europäischer, sondern ein amerikanischer Wissenschaftler. Siehe Andrew Moravcsik: What Can We Learn from the Collapse of the European Constitutional Project, Politische Vierteljahresschrift 2/2006, S. 219–241.
3 Vgl. Single Market Blues, Economist, 11.11.2006, S. 40.
4 Siehe Gordon Brown: Global Europe: full employment Europe, London 2005.
5 Zuletzt wurde diese Idee vom Vorsitzenden des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union im Deutschen Bundestag, Matthias Wissmann, wieder ins Gespräch gebracht, siehe: Matthias Wissmann: TAFTA! Für eine transatlantische Freihandelszone, Die Welt, 24.9.2006.
Internationale Politik 12, Dezember 2006, S.34‑39
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