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01. Mai 2022

Freundschaft unter Vorbehalt

Russland braucht China, China braucht Russland nicht ganz so sehr. Von Moskaus Krieg gegen die Ukraine profitiert Peking in vielerlei Weise. Vor allem gewinnt es: Zeit.

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Bild: Bau einer Gaspipeline zwischen Russland und China
Premiumkunden: Da Russlands wichtigster Gas-Absatzmarkt Europa künftig ausfallen dürfte, rückt China praktisch zum Monopolabnehmer auf. Hier: Arbeiter an der Pipeline „Kraft Sibiriens 1“.
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Hat Russland überhaupt noch Freunde?“ Ende Februar wurde diese Frage der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, in einem Interview des Fernsehsenders Rossija 1 gestellt. „Natürlich“, antwortete sie. „Schauen Sie sich die Reaktion der Giganten der Welt an. Die, die nicht so tun, als wären sie Giganten, sondern es wirklich sind. Also vor allem China.“

Folgen wir einmal Sacharowas Rat und betrachten die Reaktionen Pekings auf den russischen Überfall der Ukraine. Sagen wir es so: Sie sind eindeutig zweideutig, vage und widersprüchlich. Seit Ende 2021 äußerte man verschieden­tlich Verständnis für russische Anliegen, appellierte aber an beide Seiten, „Differenzen durch Verhandlungen zu lösen“. China betonte, wie wichtig es sei, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine zu achten und schob zugleich alle Schuld auf Amerika.

Russlands Krieg in der Ukraine hat China in eine unangenehme Position gebracht. Peking muss versuchen, zwei Zielen gerecht zu werden, die nicht miteinander vereinbar sind: der strategischen Annäherung an Russland einerseits und andererseits dem Festhalten an den Prinzipien der territorialen Integrität und Nichteinmischung in die inneren Angelegen­heiten anderer Staaten.

Stellte sich China bedingungslos auf die Seite Russlands, würde das Pekings Bekenntnis zum Prinzip der territorialen Integrität untergraben. Das ist aber sein wichtigstes Argument in der Taiwan-Frage. Nach Pekinger Lesart ist Taiwan – faktisch ein unabhängiger Inselstaat – integraler Teil der Volksrepublik. Wer das bestreitet, kann keine diplomatischen Beziehungen zu China aufnehmen.

Hinzu kommt, dass China, würde es die russische Invasion in der Ukraine unterstützen, anderen Ländern implizit die Erlaubnis erteilte, sich in Pekings innenpolitische Belange einzumischen. Das aber wäre gefährlich für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), vor allem vor dem Hintergrund ihrer Politik in der Autonomen Region Xinjiang. Die internationale Gemeinschaft beschuldigt Peking, die Rechte der religiösen und nationalen Minderheiten in Xinjiang zu verletzen. Peking weist alle Vorwürfe zurück und behauptet, dass es in Xinjiang gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus kämpfe. Alles, was dort geschieht, wird von den Behörden der Volksrepublik als ausschließlich innenpolitische Angelegenheit bezeichnet, in die andere Länder kein Recht hätten, sich einzumischen.

Wenn China andererseits Russlands Krieg gegen die Ukraine verurteilte, würde es die strategische Partnerschaft infrage stellen, die beide Länder über Jahrzehnte aufgebaut haben. Peking will Moskau nicht als wichtigsten Unterstützer verlieren, zumal jetzt, wo es selbst an der Schwelle einer Konfrontation mit dem Westen steht.



Gemeinsame Grenzen und Gegner

Im Verlauf der vergangenen zehn Jahre haben Russland und China ihre Zusammenarbeit intensiviert. In vielen Bereichen sind ihre Beziehungen heute so gut, wie sie es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr waren. Beide Staaten haben eine über 4000 Kilometer lange gemeinsame Grenze, sind mit Atomsprengköpfen bewaffnet und gehören zu den Staaten mit den größten und stärksten Armeen. Für zwei solche Länder ist es besser, befreundet zu sein als verfeindet. Zweitens scheint eine Zusammenarbeit Russlands und Chinas mit Blick auf Geografie und Wirtschaftsstrukturen geradezu vorher­bestimmt. Es kommt nicht oft vor, dass der größte Exporteur natürlicher Ressourcen auf der Landkarte direkt neben dem größten Importeur liegt.

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist China der wichtigste Handelspartner Russlands, sofern man die EU nicht als ein Land zählt. Im Jahr 2021 wuchs der Handel zwischen beiden Ländern um 35,8 Prozent und erreichte das Rekordvolumen von 146,9 Milliarden US-Dollar. In den ersten Monaten des Jahres 2022 setzte sich das Wachstum fort. Vor allem hat China Deutschland als Russlands Toplieferanten von Technologie und Industrieausrüstung ersetzt.

Drittens stimmt auch die politische und persönliche Dimension. Wladimir Putin bezeichnet Xi Jinping als „guten und verlässlichen Freund“, während Xi von Putin als seinem „besten Freund“ spricht. Sie treffen sich oft – seit 2013 über 40 Mal. In der Pandemie pflegten Putin und Xi ihre Freundschaft online. Das erste persönliche Treffen fand am Tag der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking statt. Experten bezeichneten die Zusammenkunft als historisch, ebenso die Erklärung, in der sich beide Länder gegen eine Ausweitung der NATO aussprachen. Das hat viel mit dem gemeinsamen Konflikt mit den USA zu tun: Russland und China treten als globale Gegner der US-geführten internationalen Ordnung auf.

Formell nennen weder Moskau noch Peking ihre Beziehung eine Allianz. Und es gibt auch Themen, bei denen man nicht gewillt ist, einander zu unterstützen. Russland versucht, sich aus dem Konflikt im Südchinesischen Meer und den chinesisch-indischen Grenzstreitigkeiten herauszuhalten, und China stellt sich nicht auf die Seite Russlands, wenn es um dessen Konflikte mit Georgien oder der Ukraine geht. Experten bringen das Verhältnis auf die Formel: „Nie gegeneinander, aber nicht immer miteinander“. Das derzeitige Vorgehen Russlands in der Ukraine hat jedoch eine völlig andere Größenordnung; China wird es kaum ignorieren können.

Wie hat China auf frühere russische Aggressionen reagiert? Nach dem russischen Einmarsch in Georgien und der Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens versuchte der damalige Präsident Dmitri Medwedew beim Gipfeltreffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Duschanbe, die Unterstützung Chinas zu erlangen. Vergeblich. In ihrer Erklärung drückten die Mitgliedstaaten der SOZ ihre „tiefe Sorge über die Spannung, die in der Südossetien-Frage entstanden ist“, aus. 2014 verhielt sich China vorsichtiger und versuchte, die Frage des Status der Krim komplett zu vermeiden. Peking rief lediglich dazu auf, den Konflikt durch Verhandlungen zu lösen. Im Sicherheitsrat und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen enthielt es sich der Stimme.

Auch im jetzigen Krieg versucht China, so neutral wie möglich zu bleiben. Dabei sind Pekings Erklärungen stark durch den wachsenden chinesisch-amerikanischen Dissens geprägt. So rügte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Hua Chunying, Ende Februar einen Journalisten, der in seiner Frage den Begriff „Invasion“ für das russische Vorgehen in der Ukraine gebraucht hatte. „Als die USA ohne Mandat der Vereinten Nationen illegale, unilaterale militärische Operationen im Irak und in Afghanistan durchführten und massive Opfer unter der Zivilbevölkerung verursachten, haben Sie da das Wort ‚Invasion‘ benutzt oder einen anderen Ausdruck?“, fragte sie.

Die meisten Medien in China bezeichnen den Krieg entweder als „Russland-­Ukraine-Konflikt“ oder als „militärische Spezialoperation“. China unterstützt Russland auch auf anderen Kanälen. So ließ Peking massiv Werbung mit prorussischer Propaganda auf Facebook schalten. Das Sprachrohr der KPCh, die Renmin Ribao (Volkstageszeitung), berichtete ausführlich über Behauptungen, die USA unterhielten Programme für biologische Waffen in der Ukraine. Parallel zu alldem finden sich in Chinas Medien aber auch dramatische Berichte über chinesische Bürger, die im Krieg festsitzen, oder über Kinder, die inmitten des Krieges geboren wurden.

Offiziell hat China Russland weder 2008 unterstützt noch 2014 oder heute. Jede dieser Krisen entfremdete Russland weiter vom Westen und trieb seine Politik der „Wendung nach Osten“ voran. Und jedes Mal nahm die Abhängigkeit Moskaus von Peking weiter zu. Im Warenhandel etwa beträgt Russlands Anteil an Chinas Handel 2,4 Prozent, während Chinas Anteil am russischen Handel 17,8 Prozent erreicht. Angesichts der massiven antirussischen Sanktionen wird Russlands Abhängigkeit von China weiter wachsen. Außerdem verliert Moskau an Verhandlungsmacht gegenüber Peking. Bei mehreren Projekten dürfte es höchstwahrscheinlich nicht mehr die Konditionen heraushandeln können, auf die sich die Chinesen vor Beginn des Krieges noch eingelassen hätten.

Das gilt etwa für die Gaspipeline „Kraft Sibiriens 2“, die Gazprom zwischen Sibirien und der Autonomen Region Xinjiang errichten soll. Der Baubeginn ist für 2024 geplant. Die beteiligten Parteien machen keine Angaben über die Formel zur Berechnung des Preises für das Gas, das über diese Pipeline geliefert werden soll. Aber vor dem Krieg befand sich Russland in einer starken Verhandlungsposition, weil China eine schwere Energiekrise durchmachte. Jetzt, wo Russlands wichtigster Absatzmarkt Europa weitere Gaslieferungen ablehnen könnte, rückt China praktisch zum Monopolabnehmer auf. Und jetzt wird Russland Zugeständnisse machen müssen.



Peking bleibt flexibel

Die Hauptfrage, wenn es um die Zukunft der Beziehungen zwischen China und Russland geht, ist offenkundig die, ob sich Peking der Welle von Sanktionen gegen den Kreml anschließen wird. 2014 beugten sich alle großen chinesischen Banken, die Verbindungen in den Westen hatten, den Sanktionen, die gegen die russische Wirtschaft verhängt worden waren. Zwar gab man keine öffentliche Erklärung dazu ab, weigerte sich aber, mit den Organisationen und Personen zusammenzuarbeiten, die auf der Embargoliste der USA standen.

Man muss dazu wissen, dass chinesische Banken aufgrund der Vorgaben ihrer eigenen Regulierungsbehörde verpflichtet sind, sich Sanktionen der USA anzuschließen. Bis vor Kurzem war die Bedeutung dieser Banken für die russische Wirtschaft zu vernachlässigen. Dennoch ist es von erheblicher Bedeutung, dass China für seine Kunden aus dem Machtbereich des befreundeten russischen Regimes keine Ausnahmen gemacht hat.

Auch dieses Mal steht nicht zu erwarten, dass chinesische Unternehmen, die immer noch sehr enge Beziehungen zu westlichen Märkten pflegen, Russland auf einmal blind unterstützen. Das gilt umso mehr, als keineswegs ausgemacht ist, wie weit der Westen mit den Sanktionen noch gehen wird. Chinas Unternehmen dürften sich vorerst weigern, mit Russland zusammenzuarbeiten, um auf der sicheren Seite zu sein. Die ersten Zeichen dafür sind bereits sichtbar. Vor Kurzem weigerte sich China, den russischen Fluggesellschaften Ersatzteile zu liefern. Der chinesische Öl- und Gaskonzern Sinopec hat seine Investitionen in eine petrochemische Fabrik und ein Vertriebs­unternehmen in Russland ausgesetzt.

Es gibt aber auch Unternehmen in China, die die Sanktionen zu ihrem Vorteil nutzen können. Zunächst sind das Firmen, die selbst US-Sanktionen unterliegen, wie der Telekommunikationsgigant Huawei und der Elektronikhersteller ZTE. Sie haben beste Aussichten auf eine weitere Expansion im russischen Smartphone-Markt, an dem chinesische Firmen bereits einen Marktanteil von etwa 50 Prozent halten. Auch das größte Schiffbau-Unternehmen Chinas, die China State Shipbuilding Corporation, ist für Russland zu einem noch attraktiveren Partner für die Entwicklung der Arktis geworden.

Natürlich war das Vertrauen auf chinesische Unterstützung nicht der Hauptfaktor, auf den der Kreml seine Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine gründete. Allerdings hatte die russische Regierung gehofft, in bestimmten Bereichen auf Chinas Hilfe zählen zu können. So hat Russland etwa kein internationales Zahlungssystem, während China über UnionPay verfügt. Russland hat auch Probleme mit Lieferungen von Mikroelektronik. Auf diesem Gebiet ist der größte chinesische Mikroelektronikhersteller Semiconductor Manufacturing International Corporation (SMIC) tätig, der ebenfalls auf der Sanktionsliste der USA steht und nun praktisch der einzige Lieferant von Mikrochips an Russland werden könnte.

Trotz alledem besteht der größte Nutzen, den China aus der russischen Militäroperation in der Ukraine zieht, nicht darin, dass Russland nun noch viel abhängiger von China geworden ist. Es ist nicht einmal die Tatsache, dass sich plötzlich ein absolut nicht konkurrenzfähiger Markt an Chinas nördlicher Grenze geöffnet hat. Der Hauptgewinn ist Zeit.

Experten sind sich einig, dass der geopolitische Hauptkonflikt des 21. Jahrhunderts nicht zwischen Russland und den USA ausgetragen wird, sondern zwischen Peking und Washington. Trotz seines militärischen Potenzials ist Russland nicht in der Lage, die Fundamente der internationalen Ordnung zu erschüttern. In den vergangenen 30 Jahren war Moskau weder imstande, sich in die von Amerika angeführte Weltordnung zu integrieren, noch der Welt eine attraktive Alternative anzubieten. Im Gegensatz dazu vermittelt das chinesische Staatsmodell vielen autoritären Regierungen den Eindruck einer funktionsfähigen Alternative zur liberalen Demokratie westlichen Stils. Keiner anderen Großmacht ist es in der jüngeren Geschichte so erfolgreich gelungen, die Demokratie als einzig brauchbares politisches System abzulösen.

Russland (oder, um es genauer zu sagen, die russische politische Elite, deren Altersdurchschnitt bei über 65 Jahren liegt) begreift durchaus, dass sich die Welt unweigerlich verändert und dass globale Trends unumkehrbar sind. Sie hat das Gefühl, in der Falle zu sitzen, und tut ihr Möglichstes, damit alles genauso bleibt, wie es immer war. Dazu gehört, ihre traditionellen Werte zu erhalten und zu verhindern, dass sich „westlicher Einfluss“ breitmacht und Russland zu einem Teil der Pax Americana werden lässt.

Mit der Entfesselung des Krieges in der Ukraine hat Moskau vorübergehend die Aufmerksamkeit des Westens auf sich gezogen. Damit hat es China mehr Zeit gegeben, sich auf den unvermeidlichen Zusammenstoß mit Amerika vorzubereiten. Und Zeit ist für die Volksrepublik sehr kostbar. China kann nicht nur den größten Nutzen aus der wachsenden Abhängigkeit der russischen Volkswirtschaft ziehen, sondern auch die Instrumente analysieren, die der Westen gegen Russland einsetzt. Und lernen, ihnen zu widerstehen.  

 

Temur Umarov ist Fellow am Carnegie Moscow Center. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören Chinas Beziehungen zu Russland und den zentralasiatischen Nachbarstaaten.

 

Aus dem Englischen von Bettina Vestring

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 37-41

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