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01. Dez. 2008

Freiheit, die wir meinen

Buchkritik

Mit der Finanzkrise ist der Neoliberalismus zum Angriffsziel vieler Politiker und Medien geworden. Doch wer die Kritik am Neoliberalismus richtig einordnen will, muss sich zuerst mit seinen Grundlagen vertraut machen. Das Werkzeug dafür liefern drei Neuerscheinungen.

Es waren Freiburger Wissenschaftler, die in den dreißiger Jahren im Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft die erste Konzeption des Neoliberalismus entwickelten. Eine Konzeption, die nichts weniger ist als die Wurzel der viel gerühmten Ehrhardschen Sozialen Marktwirtschaft. Wofür die Schule steht und welchen Beitrag sie noch heute für Debatten und fällige Reformen leisten kann, vermitteln die von Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth herausgegebenen „Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik“.

Der Band vereinigt Beiträge von 26 Autoren und führt damit die klassischen und die neueren Texte der so genannten Freiburger Schule zusammen. Diese Schule tritt mit ihrem „Denken in Ordnungen“ durchaus für einen starken Staat ein. Das gilt allerdings nur für das Setzen des notwendigen Ordnungsrahmens, die Verteidigung von Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger sowie im Widerstand gegen Sonderwünsche von Interessengruppen. Daher nennt man sie auch „Ordoliberale Schule“ und ihr Denkgebäude „Ordoliberalismus“. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, ist umfassend informiert und für Auseinandersetzungen gerüstet.

Als zweites sollte der Interessierte zum Buch von Philip Plickert über die „Wandlungen des Neoliberalismus“ greifen. Hier erfährt er, wie der klassische Liberalismus entstand und wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg, nun mutiert zum Neoliberalismus, in der Politik seinen Weg bahnte. Wie er in der Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus an Zulauf gewann, wie ihm vorübergehende Durchbrüche „an die Macht“ gelangen – in Deutschland mit Ludwig Erhard, in Großbritannien mit Margaret Thatcher und in Amerika mit Ronald Reagan – und schließlich, dass „eine große historische Umkehr“ letztlich doch nicht gelang.

Plickert möchte dazu beitragen, die Debatte um das heute „meist negativ konnotierte Schlagwort“ vom Neoliberalismus zu versachlichen und die geistes- und zeitgeschichtlichen Ursprünge dieses „geläuterten Liberalismus“ zu erhellen. Das geschieht tiefgründig, umfassend und aufschlussreich. Plickert beschreibt die verschiedenen Schulen des erneuerten Liberalismus: die Wiener, die Londoner, die Chicagoer oder die Freiburger Schule. Der Leser erfährt, wie sich der Liberalismus in den dreißiger Jahren als Reaktion auf die große Depression zum Neoliberalismus wandelte. Die Geburtsstunde des Neoliberalismus war eine Konferenz 1938 in Paris. Was hier begann, wurde später in der Mont Pelerin Gesellschaft voll ausgebildet. Der Neoliberalismus wurde zum Gegenentwurf zur dominierenden Lehre des britischen Nationalökonomen J. M. Keynes von der Initialzündung durch den Staat mittels Verschuldung, mit der eine lahmende oder krisengeplagte Wirtschaft anzukurbeln sei.

Solcherart gerüstet kann man sich dann einem dritten Buch zuwenden. Schon in der Einleitung wird deutlich, dass man hier Neoliberalismus so versteht, wie er heute in der Öffentlichkeit hingestellt wird: als menschenverachtenden „Marktradikalismus“: „Das gesellschaftspolitische Projekt des Neoliberalismus strebt nach einem Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen.“ Erhards Neoliberalismus ist das nicht, ebenso wenig jener der Freiburger Schule.

Dabei beschreibt Mitherausgeber Ralf Ptak die Ursprünge des Neoliberalismus und seine im Laufe der Zeit wechselnden Ausprägungen durchaus kundig und im Wesentlichen zutreffend. Und wie selbstverständlich räumt er ein, tatsächlich habe der deutsche Ordoliberalismus das erste relativ geschlossene marktwirtschaftliche Programm des Neoliberalismus vorgelegt und sei nicht zuletzt deswegen nach 1945 in Westdeutschland so erfolgreich gewesen. Damit stellt sich aber die Frage, warum dieses Programm seit Ende der sechziger Jahre an Erfolg und Akzeptanz eingebüßt hat. Als wichtigste Ursache drängt sich für Ordoliberale die Tatsache auf, dass sich die Politik seitdem an den neoliberalen Grundsätzen tiefgreifend vergangen hat. Doch das ist das Thema von Ptak und seinen Mitautoren gerade nicht.

Weil Ptak die Grundlagen kennt, ist er sich bewusst, dass Neoliberalismus „einer der schillerndsten Begriffe unserer Zeit“ ist. In der internationalen Diskussion stehe der Begriff für das Unbehagen gegenüber einer entwurzelten Ökonomie im globalen Maßstab. Jedoch sei diese negative Deutung „noch ein relativ junges Phänomen“. Sie beruhe auf der Liberalisierung der Finanzmärkte, den freien Wechselkursen der Währungen, der Intensivierung des Freihandels, einem (angeblich) massiven Rückbau des Sozialstaats und „einer Wirtschaftspolitik, die auf die einseitige Verbesserung der Angebotsbedingungen von Unternehmen zielt“. Das alles habe die „Konturen einer neuen Wirtschafts- und Sozial(un)ordnung geformt und sichtbar werden lassen“.

Unordnung also statt Ordnung. So sehen es auch die Ordoliberalen, wenngleich mit einer anderen Zielvorstellung. Damit ist umrissen, gegen was sich die Kritik des Buches richtet. „Am Ende des 20. Jahrhunderts“, so Ptak, sei der Neoliberalismus zur „dominanten Ideologie des Kapitalismus“ avanciert, „deren Leitsätze international den Referenzrahmen für die Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik vorgeben.“ Dabei sei der Machtanspruch des Neoliberalismus (müsste heißen: dieses Neoliberalismus) total und universell. Der (= dieser) Liberalismus sei zum negativen Inbegriff des entfesselten, global agierenden Kapitalismus geworden. Damit habe sich der Neoliberalismus zu einem politischen Schlagwort mit wechselnder Bedeutung entwickelt: Die einen sähen in ihm eine rein ideologische Bewegung, andere verstünden darunter nur die expansionistische Politik der Supermacht USA, wieder andere erkannten in ihm einen allgemeinen Trend zur Ökonomisierung der Gesellschaft. Gegenwärtig dominiere die amerikanische Strömung, weswegen die spezifisch deutsche Ausprägung der fünfziger und sechziger Jahre „oft unterschlagen oder als völlig eigenständiger Ansatz betrachtet“ wird.

Zutreffend schreibt Ptak, eine Grundfigur der neoliberalen Ideologie sei die Kritik am ausufernden Interventionsstaat. Ebenso hat allerdings die sozialistische Ideologie eine entsprechende Grundfigur; es ist die, dass der Staat umfassend intervenieren müsse. Beide Haltungen speisen sich aus tiefsitzenden Überzeugungen, die nie zusammenkommen werden. Welche der beiden Ideenlehren sich, zumindest temporär, durchsetzt, hängt von der politischen Machtverteilung, vom Zeitgeist und von der Gunst oder Ungunst der Stunde ab. Mit der Finanzkrise hat sich der Neoliberalismus gerade der Ungunst zu erwehren, leider auch der – falsch oder nicht verstandene – Ordoliberalismus.

„Strategien zur Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors“ macht Tim Engartner in der neoliberalen Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik aus. Er kritisiert den Neoliberalismus als eine Haltung, „die einseitig auf die Privatisierung staatlicher Aufgaben setzt“. Die neoliberale Doktrin richte sich auf „eine Enthronung der Politik“. Zustimmen kann man Engartner in seiner Ablehnung, auch hoheitliche Aufgaben wie das Überwachen von Gesetzesübertretungen, das Betreiben von Haftanstalten oder die Tätigkeit von Gerichtsvollziehern, Grundbuch- und Standesämtern in private Hand zu legen.

Doch will Engartner auch Nichthoheitliches in öffentlicher Hand aufgehoben wissen. So wendet er sich gegen die Entstaatlichung der Daseinsvorsorge, die „Privatisierung von Lebensrisiken“ (wie: Zuzahlungspflicht bei Arztleistungen, private Riester-Rente). Und er irrt mit der Feststellung, die steigende Arbeitslosigkeit seit den achtziger Jahren und „die Erosion des keynesianischen Grundkonsenses“ in der Bundesrepublik hätten eine Abkehr vom interventionistischen Wohlfahrtsstaat ausgelöst. Die Abkehr hat gerade nicht stattgefunden, und eben diese Unterlassung ist aus ordoliberaler Sicht für die Arbeitslosigkeit zu einem großen Teil mitverantwortlich.

Mit den „Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial)Politik“ befasst sich Christoph Butterwegge. Er sieht etwa im Wunsch nach „Generationengerechtigkeit“ einen „neoliberalen Kampfbegriff“ und ein „ideologisches Ablenkungsmanöver“. Freiheit und Eigenverantwortlichkeit sind für ihn „Formeln zur Rechtfertigung der wachsenden sozialen Ungleichheit“, die Folgen des neoliberalen „Wettbewerbswahns“ sind Spaltung der Gesellschaft, sozialer Ausschluss und allgemeine Destabilisierung. Er spricht von einer „Erosion des Gerechtigkeitsbegriffs“. Und schließlich beschwört Bettina Lösch „die neoliberale Hegemonie als Gefahr für die Demokratie“. Man möchte ihr entgegnen, dass der Sozialismus die weitaus greifbarere Gefahr darstellt, weil er in Gesellschaft, Politik und Gesetzgebung bereits in einem aus ordoliberaler Sicht gemeinwohlschädigenden Maße verankert ist. Für Lösch dagegen sind „die Meinungen der Menschen von neoliberalen Denkmustern geprägt und dominiert“. Davon aber ist in der Realität nicht viel zu merken. Lösch schreibt vom „Elend der Politik im Neoliberalismus“ und kritisiert, dass dieser die Demokratie darauf reduziere, Dienerin der Ökonomie zu sein. Die neoliberale Globalisierung habe neue politische Akteure hervorgebracht und die Politik privatisiert.

Etliche Fehlentwicklungen, die das Buch beschreibt, sehen und beklagen auch Ordoliberale. Aber das Buch dämonisiert den Neoliberalismus und lenkt damit ab vom Dämon Sozialismus. Vor allem gegen die Beiträge von Engartner, Butterwegge und Lösch ist aus ordoliberaler Sicht derart viel einzuwenden, dass eine fundierte Kritik der Kritik am Neoliberalismus den vorgegebenen Rahmen sprengen würde.

Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth (Hrsg.): Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. Tübingen: Verlag Mohr Siebeck 2008, 782 Seiten, 49,00 €

Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zur Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pelerin -Society“. Stuttgart: Lucius & Lucius 2008, 516 Seiten, 59,00 €

Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak (Hrsg.), unter Mitarbeit von Tim Engartner:Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 298 Seiten, 12,90 €

Dr. KLAUS PETER KRAUSE ist freier Publizist. Zuvor war er Ressortleiter Wirtschaft der FAZ und Geschäftsführer der Fazit-Stiftung.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 102 - 105

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