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29. Juni 2018

Freidenker als Lenker

Wer sind Russlands Systemliberale?

Russlands Wirtschaft stagniert, der Staatskapitalismus verheißt nur mäßiges Wachstum. Damit wächst die Bedeutung der so genannten Systemliberalen: Sie gehören zur russischen Elite, vertreten aber die Werte der freien Marktwirtschaft und wollen ihr Land modernisieren. Wie groß ist ihr Potenzial, Einfluss auf die Regierung zu nehmen? Drei Porträts.

Elwira Nabiullina

Maxim Oreschkin

German Gref

Elwira Nabiullina

Leiterin, russische Zentralbank

geboren 1963 in Ufa

Ausbildung: Lomonossow-Universität, Moskau (Wirtschaftswissenschaften)

Stationen: Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel, Zentrum für strategische Entwicklungen, Wissenschaftlich-industrieller Verband der UdSSR

International verehrt, in der Heimat verachtet. Seit den 1990er Jahren lastet dieses Stigma wie ein Fluch auf liberalen Reformern in Russland. Und kaum jemand verkörpert dieses Problem heute besser als Elwira Nabiullina. Als die erste Frau an der Spitze der russischen Zentralbank ihren Job 2013 antrat, war ihr Ziel eigentlich, das russische Bankenwesen auszumisten: Zu viele windige Finanzinstitute, die im Interesse einzelner Unternehmen oder Oligarchen agierten, tummelten sich dort. Stattdessen wurde Nabiullina zu einer der Schlüsselpersonen, die Russlands Wirtschaft durch die Rubel-Krise steuerten.

Es sei kein Job für Angsthasen, schrieb die Moskauer Wirtschaftspresse bei ihrem Amtsantritt. Damals fürchteten Beobachter, die zurückhaltende Akademikerin werde zu wenig Durchsetzungsvermögen mitbringen und abhängig sein vom Kreml und seinen Interessen. Die Gelegenheit, sich zu beweisen, bekam Nabiullina schnell. Ein Doppelschlag aus Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise und dem rapiden Verfall auf den Ölmärkten schickten den Rubel dermaßen auf Talfahrt, dass viele sich bereits an die Staatspleite 1998 erinnert fühlten. Bis in die Nacht, so berichteten Insider später, tagten die Währungshüter.

Während die einen dafür plädierten, den Rubelverfall mit dem Verkauf von Reserven der Zentralbank zu stoppen, bestand die Chefin darauf, mit einer rigiden Leitzinssteigerung und dem Verzicht auf Interventionen der Situation Herr zu werden. Auch wenn der Rubel mittlerweile seit 2014 fast 50 Prozent seines Wertes eingebüßt hat: Für ihre Entscheidung erntete ­Nabiullina später viel Anerkennung. Nicht nur der IWF lobte die Politik der Zentralbank als einen der wichtigsten Gründe dafür, dass Russlands Wirtschaft nicht ganz zusammenbrach. Medien wie Euromoney oder The Banker kürten die Russin 2015 und 2016 zur Zentralbankchefin des Jahres. Zuletzt konnte Nabiullina auf eine Inflationsrate verweisen, die unter 4 Prozent gesunken ist, ein historisch niedriger Wert.

Seitdem ist es ihr nicht nur gelungen, Wladimir Putin von ihrer Geldpolitik zu überzeugen, sondern auch zahlreiche Attacken abzuwehren. Zu ihren Kritikern gehörten mächtige Oligarchen wie Oleg Deripaska, die eine lockerere Geldpolitik und einen niedrigeren Währungskurs sehen wollten. Doch das Staatsoberhaupt lobte Nabiullina demonstrativ. „Sie hat viel für die Stabilität unserer Wirtschaft getan“, erklärte Putin anlässlich ihrer jüngsten Bestätigung im Amt.

Beliebtheit in der Bevölkerung und bei großen Teilen der Unternehmenswelt hat ihr das nicht gebracht. Vor allem Nabiullinas nüchterne, zuweilen als herzlos empfundene Art stößt in der Bevölkerung vielfach auf Unverständnis. So sorgte Nabiullina zuletzt für einen Sturm der Entrüstung, als sie die Behauptung aufstellte, viele Rentner in Russland seien nur deshalb arm, weil sie nicht vernünftig gespart hätten. Wie man denn von seiner winzigen Rente noch etwas sparen solle, fragten sich viele. Dass Nabiullina die Russen lediglich dazu aufrufen wollte, selbstständig fürs Alter vorzusorgen, wollten die wenigsten hören.

Elwira Nabiullina und der Rest des Landes haben ein Kommunikationsproblem. Das stellten Ökonomen nicht nur während der jüngsten Krise fest, als die Zentralbank es versäumte, ihre durchaus richtige Politik den Marktteilnehmern zu vermitteln; das führte zu noch größeren Problemen. Ähnlich läuft es nun mit der Zinspolitik. Industrielle und Unternehmer haben sich längst auf die Zentralbankchefin eingeschossen. Sie und ihre Geldpolitik seien dafür verantwortlich, dass es in Russland kaum möglich sei, Kredite zu einstelligen Zinssätzen zu bekommen. Konservative Politiker, denen die Wirtschaftsliberalen in der Regierung und im Dunstkreis des Kremls zuwider sind, gehen sogar noch weiter. So hielt etwa der ultrakonservative Internetsender Tsargrad TV Nabiullina kürzlich vor, nicht auf der jüngsten Liste der US-Sanktionen zu stehen – und spielte damit darauf an, sie sei eigentlich eine Agentin der Vereinigten Staaten. Für Staatspräsident Putin dagegen scheint Nabiullina als Aufräumerin ohne politische Ambitionen genau die richtige zu sein, um das Land weiter durch die wirtschaftlichen Turbulenzen zu steuern.

Maxim Oreschkin

Wirtschaftsminister

geboren 1982 in Moskau

Ausbildung: Higher School of Economics, Moskau (Wirtschaftswissenschaften)

Stationen: Finanzministerium, Crédit Agricole, Zentralbank

Dieser Mann muss Nerven haben wie Drahtseile, sagten sich damals viele in Moskau. Sein Vorgänger stand gerade vor Gericht und sah einer langjährigen Haftstrafe entgegen, als Maxim Oreschkin im Herbst 2016 zum jüngsten Minister im russischen Kabinett berufen wurde. Alexei Uljukajew, der dieses Ressort über Jahre geleitet hatte, stand wegen Verdachts auf Korruption vor Gericht. Kurz zuvor hatte sich Uljukajew gegen den Verkauf eines staatlichen Ölkonzerns an den ebenfalls mehrheitlich dem Staat gehörenden Konzern Rosneft gestellt. Bei der Verhandlung erklärte der Ex-Minister, dass die Vorwürfe nichts anderes seien als eine Intrige von Rosneft-Chef und Putin-Freund Igor Setschin gegen ihn. Ein Oligarch bringt einen Minister hinter Gitter? Kein Wunder, dass Oreschkins neuer Arbeitsplatz im Wirtschaftsministerium als Pulverfass galt.

Heute zeigt sich, dass Oreschkin nicht nur das angeschlagene Ansehen des Wirtschaftsministeriums aufpoliert, sondern auch sich selbst in die Position eines Günstlings von Wladimir Putin gebracht hat. Dabei galt der junge Ökonom vielen anfangs bloß als einer der neuen Technokraten, die der Kremlherr zuletzt in Schlüsselpositionen platziert hatte. Unter Wirtschaftsexperten gilt Oreschkin als professionell. Er weiß um die riesigen Probleme der russischen Wirtschaft, etwa das schlechte Investitionsklima, die hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten und die steigende Rolle des Staates in fast allen Wirtschaftsbereichen.

Anders als sein Vorgänger erlaubt er sich jedoch keine ätzenden Kommentare in Richtung des Kremls, dessen Außenpolitik nach Ansicht des Ex-Ministers mitverantwortlich für die Wirtschaftsmisere im Land war. Eine der letzten Wirtschaftsprognosen unter Uljukajews Leitung sah für Russland in den kommenden beiden Jahrzehnten kaum Chancen auf Wachstum. Oreschkin signalisiert dagegen nach Kräften, dass alle Probleme Russlands auch mit dem jetzigen Regime lösbar seien, wenn man nur die richtigen Reformen anpacke. So bezeichnete Oreschkin auch die letzte Sanktionsrunde der USA als Stress­test – und er zeigte sich überzeugt, dass die Wirtschaft ihn bestehen werde.

Seine Karriere begann Oreschkin bei der Zentralbank, die auch heute noch als Hort wirtschaftsliberalen Denkens in Russland gilt. Später arbeitete er unter anderem bei der Russland-Tochter der französischen Crédit Agricole. Mit 31 Jahren schaffte es Oreschkin bereits in den Personalpool des Präsidenten, eine Art Liste potenzieller Kandidaten für wichtige Ämter. Oreschkins letzter Arbeitgeber war schließlich das Finanzministerium, unter dessen Aufsicht die Staatsausgaben in den vergangenen Jahren trotz Krise und Aufrüstung nicht aus dem Ruder gelaufen sind.

Es war wohl Oreschkins mangelnde politische Erfahrung, die anfänglich bei vielen Politikexperten die Erwartung weckte, er werde im Schatten seines vorhergehenden Arbeitgebers agieren und sein Ministerium gleichsam zur Filiale des Fiskus machen. Doch noch vor Ablauf seines ersten Amtsjahrs zeigte sich, dass der neue Minister einen anderen Plan verfolgte. Zunächst holte der 35-Jährige neue Mitarbeiter ins Haus, die Erfahrung in der privaten Wirtschaft hatten. Über sein Facebook-Profil rief der Minister Kandidaten auf, sich direkt bei ihm zu bewerben. Gleichzeitig regte Oreschkin den Umzug seines Ministeriums in das Geschäftsviertel Moscow-City an. Besonders angetan zeigte sich Putin von der Idee, moderne Managementinstrumente aus der Unternehmenswelt auf das Ministerium zu übertragen, etwa ein Bonussystem oder gemeinsame Projekte von Mitarbeitern verschiedener Hierarchiestufen. „Wenn das erfolgreich ist, ließe es sich auf andere Ministerien übertragen“, schrieb Oreschkin im Herbst in einem Brief an Putin.

Kein Wunder also, dass die Wirtschaftspresse Oreschkin bereits zum neuen Favoriten des Präsidenten gekürt hat. Vor allem im vergangenen Herbst waren beide häufig Seite an Seite zu sehen. Oreschkin ließ des Öfteren verlautbaren, dass er Putin für den richtigen Mann halte, um Reformen anzupacken. Gleichzeitig vertrat er Russland bei wichtigen internationalen Foren, etwa in Davos. Sein Ministerium hat der 35-Jährige jedenfalls binnen anderthalb Jahren vom Pulverfass zur Startrampe für seine weitere politische Karriere umgebaut.

German Gref

Vorstandsvorsitzender, Sberbank

geboren 1964 in Panfilowo

Ausbildung: Staatliche Universität Omsk (Jura)

Stationen: Wirtschaftsministerium, Stadtverwaltung St. Petersburg

Einem Elefanten das Tanzen beibringen: So beschrieb German Gref seine Aufgabe, als er vor gut zehn Jahren vom Wirtschaftsministerium zur angestaubten staatlichen Sberbank wechselte. Gref galt damals als einer der fähigsten Reformer in Putins Team. Insbesondere die erste Amtszeit des Präsidenten gilt als die wirtschaftlich erfolgreichste. Der heute 54-Jährige gehörte zu Beginn der Putin-Ära zu jenen Liberalen im Land, die im neuen Machthaber eine Garantie dafür sahen, dass die marktwirtschaftlichen Reformen der 1990er Jahre notfalls mit harter Hand verteidigt würden, etwa gegen die Kommunisten.

Tatsächlich gehören innerbetriebliche Demokratie, also flache Hierarchien und Mitspracherecht für Mitarbeiter nicht unbedingt zu Grefs Führungsstil. Damit verkörpert der Sberbank-Chef die Idee einer „Liberalisierung von oben“, die vielen Reformern in Russland bis heute vorschwebt. Nicht umsonst schwärmte Gref noch in seiner Zeit als Minister von den straffen Gesetzen in Singapur. Modernisierung bedeutet für Gref vor allem, neue, insbesondere ­digitale Technologien umzusetzen. So gehörte er zu den ersten Bankenchefs in Russland, die die Einführung einer Crypto-Währung ins Spiel brachten. Und die Sberbank war die erste, die Apple Pay in Russland einführte.

Gleichzeitig scheut Gref nicht davor zurück, seine Meinung zu äußern, auch wenn sie gegen die Interessen deutlich mächtigerer Putin-Freunde verstößt. So ist vielen noch Grefs Auftritt bei der Gerichtsverhandlung im Chodorkowski-Prozess in Erinnerung geblieben. Hätte Chodorkowski tatsächlich so viel Öl von seiner eigenen Firma gestohlen, wie es die Staatsanwaltschaft ihm vorwerfe, dann hätte er das als Minister merken müssen, erklärte Gref damals.

Doch vor allem seine Erfolgsbilanz bei der Sberbank hat ihm Respekt bei vielen unterschiedlichen Lagern in der Moskauer Elite verschafft. Unter seiner Führung wurden Tausende Filialen der maroden Sparkasse erneuert, der Service drastisch verbessert, die territoriale Trennung in Einzelgesellschaften aufgehoben. Heute gilt die wichtigste staatliche Bank des Landes auch als eine der fortschrittlichsten.

Kein Wunder, dass regelmäßig Gerüchte um eine Rückkehr des Bankchefs in die Regierung auftauchen. Ähnlich wie Ex-Finanzminister Alexej Kudrin gilt Gref immer wieder als Geheimfavorit für den Posten des Premiers. Befeuert wurden diese Gerüchte zuletzt vor zwei Jahren, als Gref mit der Idee vorpreschte, bei der Regierung ein spezielles Reformkomittee zu schaffen. „Russland braucht eine Reform des Staatsapparats“, erklärte er. Doch die Idee blieb wie andere liberale Reformen nur ein Vorschlag auf dem Papier. Zuletzt landete sie im Wahlprogramm von Boris Titow, der als unternehmensnaher Kandidat ins Rennen ging, ohne jedoch ernsthaft mit Putin konkurrieren zu wollen.

Mittlerweile beurteilen die meisten Beobachter Grefs Chancen auf eine Rückkehr in die Politik jedoch als ziemlich gering. Zumal er sich höchstwahrscheinlich nicht mit einem einfachen Ministerposten zufriedengeben würde. Und so bleibt für ihn die Rolle des wohl einflussreichsten Wirtschaftsliberalen unter den Chefs der Staatskonzerne. Aus dieser Position heraus hat er zuletzt immer wieder Hoffnungen auf Reformen nach der Wahl verbreitet. Russland müsse vor allem seine Wirtschaft diversifizieren, deregulieren und das so genannte Staatsmanagement verbessern. „Der Präsident hat derzeit sehr große Unterstützung und genug fähige Leute in seinem Umfeld, um Reformen endlich anzugehen und deren soziale Folgen abzufedern“, sagte Gref vor wenigen Wochen in einem Interview. Dem russischen Staatselefanten das Tanzen beizubringen, werden aber wohl andere übernehmen müssen.

Maxim Kireev arbeitet in Russland als freier Korrespondent für deutschsprachige Medien, unter anderem für die WirtschaftsWoche und Zeit Online.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2018, S. 20 - 24

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