Titelthema

30. Okt. 2023

Flucht vor den Fluten

Stürme, Überschwemmungen, Hitzewellen: Bangladesch leidet in vielfacher Weise unter den Folgen der Erderwärmung. Viele Menschen müssen ihre Heimat verlassen. Allerdings entstehen aus der Not auch innovative Ideen in Sachen Anpassung, von denen Länder wie Deutschland lernen könnten.

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Bild: Überflutete Straßen in Dhaka, August 2023.
Wassermassen: Mit heftigen Niederschlägen hat man in Bangladesch zu leben gelernt. Doch immer häufiger kommt es zu regelrechten Fluten. Bild: Straßenszene in Dhaka, August 2023.
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Überleben ist ein Kampf“, sagt die 20-jährige Juena Akter. Die zierliche Frau verließ vor vier Jahren die Schule, um ihren Vater in der Landwirtschaft zu unterstützen. Das sollte die Erträge sichern, doch es reichte nicht.

Juena stammt aus dem ländlichen Sunamganj in Bangladesch, das in der bekannten Teeanbauregion Sylhet liegt und immer wieder von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht wird Heute lebt sie im industriell geprägten Umland der Hauptstadt Dhaka. Die Erinnerung an ihr Heimatdorf sei wie ein verschwommener Traum, sagt sie. 2019 war Juenas Familie aufgrund der ständigen Belastung durch die jährlichen Überschwemmungen überschuldet und beschloss, in die Hauptstadt zu ziehen.

Ihr Vater fand eine Anstellung in der Bekleidungsindustrie, Juena folgte ihm. Ihren ersten bezahlten Job hatte sie als Näherin in einer der zahlreichen Fabriken in Dhaka.

So begann sie, wie viele andere Frauen, den Motor anzutreiben, der die Wirtschaft des Landes am Laufen hält: Bangladeschs starke Textilindustrie. Auch Juenas jüngere Schwestern begannen dort zu arbeiten, um die Schulden aus der Landwirtschaft abzubezahlen. 

Mit ihrem Mann kann sich Juena in Dhaka ein eigenes Zimmer und drei Mahlzeiten am Tag leisten. Sie verdient monatlich umgerechnet 85 Euro – das ist etwas mehr als der niedrigste Lohn für einfache Arbeiter. Damit unterstützt sie ihre Familie. An das schnelle Leben habe sie sich gewöhnt, sagt sie. Zwar hat sie ihre Heimat verlassen, doch bedeutet das Leben im extrem dicht besiedelten Dhaka für sie ein Stück Unabhängigkeit. 

Neben dem Wunsch, vor Überschwemmungen sicher zu sein, lockt die Textilindustrie viele Menschen an. „Täglich kommen etwa 2000 Personen in Dhaka an und verschwinden in den über 200 Slums der Stadt“, sagt Saleemul Huq, Direktor des Internationalen Zentrums für Klimawandel und Entwicklung. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Huq mit den Folgen der Erd­erwärmung; Migration ist nur eine davon. 
 

Anfällig für Naturkatastrophen

In Südasien, einer Region mit mehr als zwei Milliarden Bewohnern, häufen sich extreme Wetterereignisse, geraten bekannte Wettermuster durcheinander. Bangladesch ist von den Auswirkungen des Klimawandels besonders stark betroffen. Die Küstenlage, die niedrige Höhe über dem Meeresspiegel und die dichte Besiedlung machen das Land anfällig für Naturkatastrophen. 

Eigentlich ist das 170 Millionen-Einwohner-Land an die regenreichen Mon­sunmonate von Juni bis Oktober gewöhnt. Doch das veränderte Niederschlagsverhalten begünstigt Flutkatastrophen. Besonders schwere Überschwemmungen, wie es sie früher nur alle 20 Jahre gab, kommen heute etwa alle fünf Jahre vor, erklärt Klimaexperte Huq. Das bedeutet, dass weniger Zeit für den Wiederaufbau bleibt. 

Ein Großteil des Landes liegt im Ganges-Brahmaputra-Delta, dem größten Flussdelta der Welt. Die Flüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna bilden die Lebensgrundlage vieler Menschen, verursachen aber natürlich Überschwemmungen, wenn sie zu viel Wasser führen.

Wie im Sommer 2022. Über 4,3 Millionen Menschen waren direkt betroffen, als Sturzfluten vor allem die Region Sunamganj im Bezirk Sylhet verwüsteten. Der Brahmaputra und weitere kleinere Flüsse traten über die Ufer. In der Folge verloren etwa 90 000 Menschen ihr Zuhause. Atiqul Haque, damals Generaldirektor des Ministeriums für Katastrophenschutz, bezeichnet die Flut als die schlimmste in über 120 Jahren. Klimaforscher Huq erwartet, dass sich derartige Naturkatastrophen künftig noch häufiger ereignen werden: „Es wird viel schwieriger, vorbereitet zu sein.“

Ein zentrales Problem sind die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung. In Küstenregionen kämpfen Bewohner nach Fluten häufig damit, dass das Süßwasser knapp ist, weil es durch salziges Meerwasser verunreinigt wurde. Das wiederum erschwert den Anbau von Nutzpflanzen wie Reis.  Zum Trinken müsste solches Wasser aufbereitet werden und – mangels eines Wasseraufbereitungssystem vor Ort – wieder zu den Betroffenen transportiert werden.  

Menschen können eine gewisse Menge Salzwasser vertragen, doch zuviel davon kann zu Bluthochdruck und bei Schwangeren zu Komplikationen führen. Die Bereitstellung von Trinkwasser ist daher eine der ersten Aufgaben von Katastrophenschützern. Zwar sammeln viele Anwohner Regenwasser in Tanks auf ihren Dächern, ­jedoch ist das nach heftigen Unwettern nicht immer verfügbar. ­Verunreinigungen von Nahrungsmitteln und stehendem Wasser können Durchfallerkrankungen hervorrufen. Zudem können sich durch Mücken übertragene Krankheiten wie Dengue und Malaria leichter verbreiten.

Aufgrund des länger anhaltenden Monsuns ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Dengue-Patienten gestiegen, sagt die Ärztin Rahnuma Parveen aus Dhaka. Im feucht-heißen Klima gedeihen die Larven der Aedes-Mücke in stehendem Wasser, das sich in ausrangierten Reifen, Plastikbehältern oder auf überschwemmten Böden sammelt. Das durch ihre Stiche übertragene Dengue-Virus verursacht Durchfall und Fieber und ist besonders bei wiederholten Infektionen gefährlich.  

In diesem Jahr kam es zu einer Rekordzahl von über 170 000 Erkrankten, darunter viele Kinder, und zu über 839 Todesfällen im Zusammenhang mit Dengue-Fieber. Die Krankenhäuser in der Hauptstadt geraten an ihre Belastungsgrenze. Das beschäftigt auch Katastrophenschützer, die mit der Regierung zusammen versuchen, die Lage durch Aufklärungskampagnen sowie die Verteilung von Mückennetzen und Testkits unter Kontrolle zu bringen. 
 

Aufklärung und Prävention

Mittlerweile ist es Bangladesch gelungen, einen effektiven Katastrophenschutz aufzubauen. Dadurch konnte die Zahl der Toten und Verletzten bei den immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen reduziert werden. Als 1970 der Zyklon Bhola über Bangladesch hinwegfegte, kamen etwa eine halbe Million Menschen um, bemerkt Sanjeev Kafley. „Beim letzten Wirbelsturm Mocha gab es keine Toten. Das ist ein echter Erfolg“, sagt der Nepalese, der die Mission der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Bangladesch leitet. 

Mit Blick auf seine Erfahrungen ist Kafley verhalten optimistisch. „Wenn es zu einer Katastrophe kommt, arbeiten alle zusammen, und das bewegt etwas.“ Allerdings sieht er auch große Herausforderungen: den starken Monsunregen, Wirbelstürme, den Meeresanstieg, Erosionen, die den Lebensraum von Millionen Menschen bedrohten. Ältere und Menschen mit Behinderung litten besonders unter den Naturkatastrophen.

Gefährdet seien auch die geflüchteten Rohingya, die im Osten des Landes im größten Flüchtlingslager der Welt leben. Kutupalong in Cox’s Bazar beherbergt fast eine Million aus Myanmar vertriebene muslimische Rohingya. Klimaforscher Huq befürchtet, dass ihre Unterkünfte im Falle einer Katastrophe Überschwemmungen und Wirbelstürmen kaum standhalten würden; zudem mangele es an Ausrüstung wie Schwimmwesten. Das berge die Gefahr eines Worst-Case-Szenarios.

Die Katastrophenhilfe wird weiter erschwert, wenn Betroffene nicht lesen und schreiben können. „Analphabeten sind oft stark durch Klimafolgen gefährdet“, so Sanjeev Kafley. Bildung ist ein wichtiger Baustein der Vorsorge. Erfreulich ist, dass die Klimakrise bald in den Schulen Bangladeschs behandelt werden soll. 2021 startete die heute 17-jährige Klimaaktivistin Aruba Faruque eine Petition, um das Thema auf den Lehrplan zu bringen. Bis zur vollständigen Umsetzung werde es dauern, aber: „Ich bin froh, dass das Bildungsministe­rium die Idee aufgegriffen hat.“

Die Klimakrise bedroht über 20 Millionen Kinder in Bangladesch, sagt Aruba Faruque, die im Osten des Landes lebt. Laut des Klima-Risiko-Indices für Kinder von UNICEF liegt Bangladesch auf Platz 15 und ist damit „extrem gefährdet“, betont sie. Faruque war aufgefallen, dass ihre Mitschüler kaum etwas über die Klima­krise wussten. Das traf sie. „Die Klimakrise fühlt sich wie eine Ungerechtigkeit gegenüber meiner Generation an. Das Gewicht dieser Krise und ihre Auswirkungen sind etwas, das ich jeden Moment mit mir herumtrage, sogar im Schlaf.“

In Bangladesch sei die Klimakrise bittere Realität. Es gehe längst nicht mehr darum, den Planeten zu retten. Etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, bedeute nichts anderes, als das eigene Leben zu schützen. Vor allem Kinder und Jugendliche litten: „Wir sind ständig psychischem Stress durch diese Umstände ausgesetzt.“

In Aruba Faruques Heimat Brahmanbaria sind die Niederschläge im Spätsommer zurückgegangen und die Temperaturen gefährlich gestiegen. Dadurch trockneten Feuchtgebiete aus, was zu Ernteausfällen und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führe, erklärt die Schülerin.

Die Nahrungsmittelknappheit wiederum treibt die Preise in die Höhe, was die Ernährungsunsicherheit verschärfen könnte. So importiert Bangladesch vieles aus dem benachbarten Indien, das seine Ausfuhren aber immer wieder einschränkt, da es selbst klimabedingte Ernteausfälle erlebt. 

Manche halten den Klimawandel für eine „Strafe Gottes“, sagt Aruba Faruque. Doch eine solche Sichtweise bringe niemanden voran. Mit Kampagnen versucht sie, in den Schulen ein Umdenken zu erreichen. „Menschen in Bangladesch haben eine unglaubliche Widerstandskraft bewiesen“, sagt sie. Trotzdem sei klar, dass ihr Kampf von Tag zu Tag härter werde. 

Saleemul Huq stimmt ihr zu, er gehörte zu den Unterzeichnern ihrer Petition. Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels sei nicht nur für Bangladesch wichtig. „Macht euch keine Sorgen um Bangladesch, sorgt euch um euch selbst“, mahnt er. Bangladesch habe bei 1,1 Grad bereits eine Schwelle erreicht. „Wir bereiten uns auf 1,2 / 1,3 / 1,4 und 1,5 Grad vor. Wir sind bereit für den Klimawandel.“ Für Europa dagegen sieht er bei einer weiteren Erwärmung schwarz, die Länder seien nicht vorbereitet. Hätte ein Hochwasser wie im Ahrtal in Bangla­desch stattgefunden, so vermutet er, dann wären weniger Menschen ums Leben ­gekommen.

Im Zuge der Bemühungen Bangladeschs im Kampf gegen den Klimawandel werden Forderungen nach finanzieller Kompensation aus dem Westen lauter. Jene Staaten sollen für Klimafolgen aufkommen, die im Wesentlichen durch sie verursacht wurden. Hatte sich Bangladesch lange kaum für Entschädigungszahlungen eingesetzt, so forderte Premierministerin Sheikh Hasina im September als Gast des G20-Gipfels in Neu-Delhi, den „Loss and Damage“-Fonds möglichst bald einzurichten.

Noch ist Bangladesch das bevölkerungsreichste der am wenigsten entwickelten Länder. Nach Schätzungen der Weltbank wird Bangladesch die Gruppe 2026 verlassen, wenn die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung anhält. Premierministerin Hasina äußerte im Mai dieses Jahres allerdings Zweifel: „Die häufigen klimabedingten ­Katastrophen könnten unseren reibungslosen Übergang gefährden. Die Anpassung an den Klimawandel und die Katastrophenvorsorge gehören daher zu den politischen Prioritäten meiner ­Regierung.“

Auch Deutschland engagiert sich in Bangladesch. Bislang hat Berlin das Land laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit rund 3,2 Milliarden Euro in der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt. Dabei arbeite man mit Bangladesch besonders beim Schutz vor Überschwemmungen zusammen. Zudem sollen Binnen-Klimageflüchteten Beschäftigungsmöglichkeiten geboten werden. Dafür stellt das BMZ 157 der neu zugesagten 191 Millionen Euro zur Verfügung. Neben Geld- und Sachleistungen möchte Deutschland Expertise in der Anpassung der städtischen Infrastruktur zur Verfügung stellen. 

Die Klimaanpassung in Bangladesch hat bereits viele Facetten: Sie reicht von schwimmenden Märkten und Plantagen über den Anbau von Salzwasser-resistenteren Reissorten bis hin zum Ausbau eines Zyklon-Warnsystems, in dem Frauen eine tragende Rolle einnehmen.

Die Mission der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Bangladesch hat ihre Notfallpläne ausgebaut und verfeinert: „Einen für Überschwemmungen, einen für Wirbelstürme, und vor Kurzem haben wir einen für Hitzewellen erstellt“, sagt Sanjeev Kafley. In der Digitalisierung sieht Kafley weitere Potenziale. „Wir müssen herausfinden, wie wir Daten nutzen können, um Menschen vor Fluten zu evakuieren und zu retten“, sagt er. ­Bangladesch steckt schon mitten in der Klimakrise – aber das Land findet Antworten. Auch Deutschland könnte davon lernen.

Mitarbeit: Dunya Wasella, Uni Heidelberg

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, November/Dezember 2023, S. 38-42

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Dil Afrose Jahan, Investigativjournalistin aus Bangladesch, befasst sich mit den Rechten von Frauen und Kindern, Menschenhandel und Minderheiten. Für ihre Arbeit wurde  sie mit zahlreichen Stipendien ausgezeichnet.

Natalie Mayroth arbeitet als Journalistin in Südasien und Deutschland. Für ihre Berichterstattung über Gesundheit, Klima und Gender wurde sie mehrmals vom European Journalism Center gefördert.

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