Feminismus als Vorbild
Im Widerstand gegen die autoritäre und patriarchalische Herrschaft in der Türkei haben Frauen in der Vergangenheit einiges erreicht. Auch heute sind sie ein Modell für erfolgreichen Widerstand – doch die Zeiten werden härter.
Die Polizei brüllte die Demonstrantinnen auf dem Şişhane-Platz an: „Die Slogans, die ihr ruft, sind illegal! Hört auf mit euren illegalen Slogans!“ Es war Samstagabend, der 5. Oktober 2024. An einem Ende der İstiklal-Straße hatte sich eine Gruppe von Frauen versammelt, darunter auch die Autorin dieser Zeilen. Wir wollten gegen Männergewalt demonstrieren, der gerade zwei junge Frauen zum Opfer gefallen waren. Doch die Straße durften wir natürlich nicht entlang laufen. Stattdessen hatte man uns zum Şişhane-Platz verwiesen.
Am Vortag hatte ein 19-jähriger Mann zwei gleichaltrige Frauen ermordet und anschließend Selbstmord begangen; eine Tat, die beispielhaft für die wachsende Zahl von Frauenmorden in den vergangenen Jahren steht. Gegen solche Männergewalt und gegen das Versagen des Staates, der sie nicht verhindert, hatten wir uns zusammengetan. Doch bei allen Slogans, die die Rolle des Staates bei Femiziden ansprachen, griff die Polizei ein.
Wie schon so oft wurde auch der Mord an den beiden Frauen als Einzelfall dargestellt, verübt durch einen drogensüchtigen jungen Mann mit psychischen Problemen. Tatsächlich hat Männergewalt ihre Wurzeln in der patriarchalischen Weltsicht, die von der AKP-Regierung rhetorisch und politisch unterstützt wird. Als Feministinnen betonen wir, dass Femiziden ein systemisches Muster zugrundeliegt, und wir machen den Staat dafür verantwortlich, dass er die Männer mithilfe der Justiz, der Polizei und der Sozialhilfe schützt.
In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 wurden in der Türkei 296 Frauen von Männern ermordet. Die Zahl ist viel höher als in Ländern, in denen Frauen mehr Schutz erhalten und wo es konsequente politische Maßnahmen, Initiativen zur Gleichstellung der Geschlechter und wirksame rechtliche Rahmenbedingungen gibt, die zur Eindämmung geschlechtsspezifischer Gewalt beitragen.
Kein Schutz durch den Staat
Hatte die AKP in den ersten zehn Jahren ihrer Regierung noch das Ziel einer Demokratisierung und einer Annäherung der Türkei an die EU verfolgt, so kam diese Dynamik zum Erliegen, als man begann, einen autoritären Kurs zu fahren. Eine der Folgen davon war der Gezi-Aufstand im Sommer 2013, der von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen wurde.
Auf Gezi folgte der Abbruch des Friedensprozesses mit den Kurden und ein regelrechter Krieg gegen das kurdische Volk. Jeder Ruf nach Frieden, jede Stimme gegen diesen Krieg wurde mit Terrorismus gleichgesetzt. Der feministischen Bewegung, die eng mit der kurdischen Frauenbewegung zusammenarbeitete, schadete das sehr. In dieser Atmosphäre kam es im Juli 2016 zu einem Putschversuch – für die türkische Regierung die perfekte Gelegenheit, den Ausnahmezustand auszurufen. In den Jahren ab 2018 formte sie das politische System des Landes vom Parlamentarismus zu einer Ein-Mann-Herrschaft um.
Die Folgen erlebten wir besonders drastisch im März 2021, als die Türkei aus der Istanbul-Konvention austrat – eine Entscheidung, die aus der Laune eines einzelnen Mannes heraus erfolgte. Die Istanbul-Konvention enthält u.a. weitreichende Normen zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und für die strafrechtliche Verfolgung von Tätern. Im Jahr 2011 war die Türkei das erste Land, das die Konvention unterzeichnete, was von der AKP und von Frauenrechtsgruppen seinerzeit nachdrücklich unterstützt wurde.
Angesichts des türkischen Rückzugs aus der Istanbul-Konvention und der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes Nr. 6284 zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen müssen sich die Frauen in der Türkei keine Illusionen machen, bei Polizei und Justiz Unterstützung zu finden. Ebenso wissen die Männer, dass ihre Gewalt ungestraft bleibt. Es vergeht kein Tag, ohne dass eine Frau ermordet wird, ohne dass wir Opfer von Gewalt werden. Der Staat hat mit seiner Entscheidung zum Austritt aus der Istanbul-Konvention den Versuch aufgegeben, Frauen vor Gewalt zu schützen.
Die Gegner der Konvention – ultrarechte, von der Überlegenheit des Mannes überzeugte Lobbygruppen – hatten sich darüber beschwert, dass die Konvention Scheidungen ermutige und traditionelle Familienwerte untergrabe. Sie kritisieren insbesondere, dass die unterzeichnenden Staaten verpflichtet sind, Opfer unabhängig von ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität vor Diskriminierung zu schützen. Sie befürchten, dass allein diese Klausel quasi in die Homo-Ehe führen würde. Der Sprecher von Präsident Erdoğan erklärte, die ursprüngliche Absicht der Istanbul-Konvention, die Rechte der Frauen zu fördern, sei „von einer Gruppe von Leuten gekapert worden, die versuchen, Homosexualität zu normalisieren“.
Ohnehin äußern Vertreter der im Islamismus wurzelnden AKP immer häufiger Vorbehalte gegen lesbische, schwule, bisexuelle, transgeschlechtliche und queere Menschen (LGBTQ). Mittlerweile haben Hassreden, Gewalt und Diskriminierung dazu geführt, dass die Türkei auf der Rangliste von LGA-Europe, einer zivilgesellschaftlichen Organisation für die LGBTQ-Gleichstellung, an vorletzter Stelle steht. Nach ihr kommt nur noch Aserbaidschan.
Die Wende hin zum Autoritären ist also auch eine Wende zum Patriarchalischen: Eine Regierung, die von Autoritarismus, Islamismus und Nationalismus getrieben wird, versucht, Frauen auf traditionelle Familienrollen zu beschränken und ihre Körper zu kontrollieren. Sie setzt eine von Männern dominierte Politik durch, die Frauen in erster Linie nach ihrer Fruchtbarkeit definiert. Sie gibt vor, wie eine Geburt abzulaufen hat, wie viele Kinder idealerweise zu bekommen sind, und sie bürdet die Verantwortung für Haushalt und Erziehung allein den Frauen auf.
Abtreibung als Mord
In jüngerer Zeit hat das Gesundheitsministerium den Aktionsplan „Die normale Geburt ist natürlich“ eingeführt und eine Kampagne gegen Kaiserschnitt-Operationen gestartet. Indem der Staat die vaginale Entbindung als die einzige „normale“ Methode definiert und alle anderen als abnormal, positioniert er sich einmal mehr als Entscheidungsträger über den Körper von Frauen.
Diesen Anspruch demonstrierte die AKP bereits mit ihrer Haltung gegen Abtreibung. Nachdem Erdoğan erklärt hatte, dass er Abtreibung als Mord betrachte, versuchte seine Partei, ein Verbot von Abtreibungen einzuführen. Dieses Gesetz wurde zwar nach Protesten von Feministinnen zurückgezogen. Dennoch wurde der Zugang zu Abtreibungen seither immer stärker eingeschränkt, was vor allem auf Mängel im öffentlichen Gesundheitswesen zurückzuführen ist. Erdoğan macht seine Haltung deutlich, indem er Frauen häufig dazu auffordert, „mindestens drei Kinder“ zu bekommen, und junge Menschen ermutigt, früh zu heiraten.
Als Feministinnen blicken wir auf hart erkämpfte Errungenschaften der frühen 2000er Jahre zurück, als wir das türkische Straf- und Zivilgesetzbuch reformierten, die Istanbul-Konvention durchsetzten und Anfang 2010 Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt erreichten. Heute befinden wir uns in der Defensive. Angesichts einer Regierung, die sich mit antifeministischen Lobbygruppen verbündet, müssen wir um den Erhalt unserer Errungenschaften kämpfen. Das geschieht in einem immer feindseligeren globalen Klima, das durch Angriffe auf Abtreibungskliniken, Pläne zum „Familien-Mainstreaming“ und das Wiederaufleben einer genderfeindlichen, homophoben und patriarchalischen Politik gekennzeichnet ist.
Ventil für die kollektive Empörung
In der Türkei schrumpft der Spielraum für die Durchsetzung von Frauenrechten beständig. Besonders deutlich zeigt sich das an dem berühmten Feministischen Nachtmarsch, der 2003 mit wenigen hundert Teilnehmerinnen begonnen hatte. Nach den Gezi-Protesten stieg die Beteiligung sprunghaft an und ging 2015 in die Zehntausende. Doch 2019 verbot die Regierung den Marsch und setzte zum ersten Mal Polizeigewalt gegen die Teilnehmerinnen ein. Seither greift sie immer härter durch.
Trotz allem ist die Stimme der feministischen Bewegung heute weiter verbreitet als je zuvor. Wir sehen, wie sehr sie die öffentliche Reaktion auf die jüngsten schrecklichen Vorfälle geprägt hat. Das gilt für die beiden aufsehenerregenden Morde ebenso wie für den herzzerreißenden Fall eines jungen Mädchens in Diyarbakır, das im August vermisst und später tot aufgefunden wurde.
Obwohl die Regierung nach wie vor versucht, die feministische Bewegung zu kriminalisieren, gewinnen unsere Forderungen nach Gerechtigkeit – ein Ende der Straffreiheit, den erneuten Beitritt zur Istanbul-Konvention und eine wirksame Umsetzung des Gesetzes Nr. 6284 – in verschiedenen Teilen der Gesellschaft an Unterstützung, auch bei AKP-nahen Frauen.
Verbote und Razzien haben das Wachstum der Frauenbewegung nicht gestoppt, sondern beflügelt
Verbote und Razzien haben die Bewegung nicht gestoppt, im Gegenteil: Sie haben ihr Wachstum beflügelt und feministische Räume zu kraftvollen Symbolen des Widerstands gemacht. Die üblichen Unterdrückungsstrategien der AKP – Polarisierung und Kriminalisierung – waren gegenüber der Frauenbewegung nicht im gewünschten Sinne erfolgreich. In diesem Klima hat sich eine neue Form des Aktivismus herausgebildet: eine nur lose organisierte, aber von Leidenschaft und Widerstandswillen getragene Bewegung. Der Feminismus ist zu einem Ventil für die kollektive Empörung gegen ein Regime geworden, das uns das Recht absprechen will, Nein zu sagen.
Der Erfolg der Republikanischen Volkspartei CHP, die bei der Kommunalwahl am 31. März 2024 wichtige Bürgermeisterposten in Großstädten und Bezirken errungen hat, ist ein vielversprechender Wendepunkt für Frauen. Die von der CHP geführten Gemeinden haben sich verpflichtet, Kindergärten und Frauenhäuser zu eröffnen, Gesundheitsleistungen bereitzustellen und Bildungsprogramme für Frauen anzubieten. Auch in den Gemeinden, die von der prokurdischen DEM-Partei regiert werden, dürften sich neue Möglichkeiten bieten, um die Frauenbewegung zu unterstützen und den Boden wieder gut zu machen, der unter den unterdrückerischen, nach dem Putschversuch 2016 staatlich ernannten Treuhandverwaltungen verloren gegangen war.
All das bietet neue Chancen, auf der kommunalen Ebene Frauenrechte voranzubringen und die feministischen Stimmen hörbar zu machen.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 26-29
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