Titelthema

26. Juni 2023

Fair vermeiden

Der Globale Norden trägt die historische Schuld für die Erderwärmung, der Süden die Last. Zeit, dass der Norden bei der Emissionseinsparung stärker vorangeht, Zeit für Klimagerechtigkeit.

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Bild: Eine kleine Herde Büffel auf ausgetrocknetem Boden
Leidtragende des Klimawandels: Büffel durchqueren ein fast komplett ausgetrocknetes Bett des Yamuna-
Flusses, dem wichtigsten Zufluss des Ganges, in Neu-Delhi, Indien.
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Wenn es darum geht, wer verantwortlich für den Klimawandel ist, dann ist der Fall klar: Die Industriestaaten führen dank ihrer langen Geschichte von industrieller Produktion und Wirtschaftswachstum die Liste der größten Treibhausgasemittenten an. Diese Emissionen zählen zu den wichtigsten Ursachen für die aktuelle Klimakrise; die Dekarbonisierung schreitet ausgesprochen langsam voran.



Wenn es allerdings darum geht, bei wem die überwiegende Last im Kampf gegen die Erderwärmung liegt, dann ist der Fall ebenso klar: bei den Entwicklungsländern. Diesen fehlt es oft an den finanziellen Mitteln, um umfassende Strategien für die Eindämmung des Klimawandels umzusetzen oder sich zumindest anzupassen. Zwar haben die Industriestaaten versprochen, Finanzhilfe zu leisten, doch entspricht das tatsächlich Geleistete bislang nicht dem Versprochenen. So bleibt die Fähigkeit von Entwicklungsländern, gegen die Auswirkungen des Klimawandels effektiv vorzugehen, begrenzt. Die Länder des Globalen Südens brauchen Zugang zu sauberen und nachhaltigen Technologien, um den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu schaffen. Doch verhindern hohe Preise und juristische Hürden – Stichwort Recht am geistigen Eigentum – einen effektiven Technologietransfer; Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Technologien kommen nur selten zustande. Und obwohl einige Industriestaaten Fortschritte bei der Emissionsreduktion gemacht haben, reicht das Erreichte nicht aus, um die ­Pariser Klimaziele einzuhalten.



Geteiltes Leid?

Dass die globalen Anstrengungen zur Bewältigung der Klimakrise durch wenig ambitionierte Reduktionsziele und unzureichende politische Maßnahmen ausgebremst werden, betrifft grundsätzlich alle Länder der Welt; unter den Folgen aber leiden in allererster Linie die Entwicklungsländer. Denn die Auswirkungen des Klimawandels treten ja nicht etwa gleichmäßig über den Globus verteilt auf – einige Regionen und Bevölkerungen sind besonders bedroht.



So sind Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkommen, die häufig keinen Zugang zu Ressourcen wie sauberem Wasser haben, eher von durch Wasser übertragenen Krankheiten betroffen – Krankheiten, die aufgrund steigender Temperaturen künftig häufiger auftreten dürften. Auch können der steigende Meeresspiegel und Sturmfluten in Küstenregionen zu Erosionen, Überschwemmungen und Salzwasserinfiltration führen, was Lebensgrundlagen zerstören und zu klimabedingter Migration führen kann.



Indigene Gemeinschaften sind durch die Auswirkungen des Klimawandels wie Bodendegradation oder den Verlust an Biodiversität besonders verletzlich, da sie im Alltag und zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf natürliche Ressourcen angewiesen sind. Der Klimawandel kann ihre traditionelle Lebensweise und ihre kulturellen Praktiken zerstören. Und: Aufgrund ihrer sozialen und ökonomischen Rolle in vielen Gesellschaften sind Frauen und Mädchen von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen.



Niemanden alleine lassen

Der Klimawandel hat die soziale und ökonomische Ungleichheit verschärft und es für Menschen im Globalen Süden schwerer gemacht, sich aus der Armut zu befreien. Die Frage der Klimagerechtigkeit ist hier nicht nur aufgrund der überproportional heftigen Auswirkungen des Klimawandels von besonderer Relevanz, sondern auch deshalb, weil die gefährdetsten Staaten eben häufig nicht diejenigen sind, die am meisten zum Problem beigetragen haben.



Der Globale Süden hat in der Vergangenheit weniger Treibhausgasemissionen verursacht, ist aber den Auswirkungen des Klimawandels oft am stärksten ausgesetzt.



Bei der Klimagerechtigkeit handelt es sich um ein Konzept, in dessen Fokus die Bedeutung klimapolitischer Maßnahmen für die Verfolgung der Ziele zur nachhaltigen Entwicklung, zur Verringerung von Armut und zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit steht. Dass hier viele Staaten des Globalen Südens mit beträchtlichen Herausforderungen konfrontiert werden, versteht sich von selbst.



Daher ist es unerlässlich, klimapolitische Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die die besonderen Bedürfnisse und Ziele dieser Staaten berücksichtigen, und sicherzustellen, dass niemand bei der Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft im Regen stehen gelassen wird. Klimagerechtigkeit ist ein integraler Bestandteil des klimapolitischen Ansatzes des Globalen Südens; sie ist unverzichtbar, um die Last der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung daran gerecht auf die ganze Welt zu verteilen.



Gefahr für Wirtschaft und Gesundheit

Eines der drängendsten Probleme des ­Globalen Südens sind die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit und die Wirtschaft. Gerade in Regionen mit ­beschränkten Ressourcen und einer schwachen Gesundheitsversorgung ­können diese Auswirkungen beträchtlich sein.



Höhere Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster können zur Übertragung von Krankheiten wie Ma­laria oder Dengue-Fieber führen. Außerdem kann die Luftverschmutzung aufgrund der Verbrennung fossiler Energieträger Atemwegserkrankungen verschlimmern.



Daneben kann der Klimawandel einen erheblichen Einfluss auf die Wirtschaft haben, gerade in Regionen, die stark von Landwirtschaft und dem Abbau natürlicher Rohstoffe abhängen. So können Extremwetterereignisse nicht nur Ernteausfälle hervorrufen, sondern auch die Produktivität der Fischerei und anderer Wirtschaftszweige hemmen.



Potenziale mit Problemen

Neben den fehlenden finanziellen und technologischen Ressourcen mangelt es dem Globalen Süden vor allem am Zugang zu erneuerbaren Energiequellen. Um diese Probleme anzugehen, sollte die internationale Gemeinschaft den Globalen Süden durch den Green Climate Fund sowie durch Initiativen zum Technologietransfer unterstützen. Denn der Globale Süden verfügt ja tatsächlich über ein erhebliches Potenzial für die Gewinnung erneuerbarer Energien wie Solar-, Wind- und Wasserkraft. Derzeit ist die landwirtschaftliche Produktion allerdings in besonderem Maße anfällig für die Auswirkungen von klimawandelbedingten Dürren, Fluten und Niederschlagsveränderungen. Zur Bekämpfung dieser Risiken ist es entscheidend, in resilientere landwirtschaftliche Praktiken zu investieren – etwa in effiziente Bewässerungssysteme oder in dürreresistente Nutzpflanzen.



Um die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels zu stärken, muss sich der Globale Süden auf Anpassungsmaßnahmen konzentrieren. Dazu können die Einführung von klimaintelligenten Infrastrukturen sowie Frühwarn- und Reaktionssystemen ebenso zählen wie natürliche Lösungen. Anpassungsstrategien sollten unter Berücksichtigung der kontextspezifischen Bedürfnisse und Verwundbarkeiten der lokalen Bevölkerung konzipiert und umgesetzt werden.



Auch der politische Wille ist entscheidend. Denn wenn Staaten dem Klimaschutz Priorität einräumen, geht das nicht selten einher mit politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Das öffentliche Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen, ist daher ebenso bedeutsam wie das nationale und internationale Werben für Klimaschutz-Maßnahmen und -Initiativen. Um die Klimakrise effektiv anzugehen, müssen alle Staaten der Welt zusammenarbeiten, um gemeinsam Treibhausgasemissionen zu reduzieren und vulnerable Gruppen zu unterstützen – wobei aus den genannten Gründen ein besonderer Schwerpunkt auf den gefährdeten Bevölkerungen des Globalen Südens liegen sollte.



Die überproportionalen Auswirkungen des Klimawandels müssen angegangen werden, indem für Klimagerechtigkeit ­geworben und die Notwendigkeit anerkannt wird, die am stärksten benachteiligten Menschen zu unterstützen. Doch es kann nicht nur darum gehen, finanzielle und technische Unterstützung bei der Umsetzung von Strategien zur Eindämmung und Anpassung zu leisten: Ebenso wichtig wird es sein, benachteiligte Gruppen in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, um sie zu ermächtigen, für ihre Interessen einzutreten.



Daneben müssen natürlich die globalen Anstrengungen weitergeführt und verstärkt werden, um die Treibhausgas­emissionen zu reduzieren und das Tempo des Klimawandels zu verlangsamen; die einkommensstarken Staaten stehen hier auch historisch besonders in der Verantwortung. Nur wenn wir das Konzept der Klimagerechtigkeit in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen, können wir einen angemessenen Umgang mit dem Klimawandel finden und zu einer gerechteren Zukunft für die kommenden Generationen beitragen.



Geist der globalen Solidarität

Um die Klimakrise effektiv anzugehen, müssen die Industriestaaten sich zusammentun und beherzt loslegen. Alle Anstrengungen sollten von einem Geist globaler Solidarität getragen sein, der die Verbundenheit aller Staaten anerkennt und die Notwendigkeit begreift, eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu schaffen. Um dies zu erreichen, müssen der Globale Norden und der Globale Süden kooperieren, um Resilienz und Anpassung im Globalen Süden voranzubringen.



Neben der Bereitstellung von Finanzhilfen lässt sich das durch eine erhöhte Förderung von Eindämmungs- und Anpassungsinitiativen in Entwicklungsländern sowie die Einführung transparenter und zugänglicher Finanzierungsmechanismen zur Absicherung der effizienten Nutzung von Fonds erreichen.



Der Globale Norden kann darüber hinaus durch technische Hilfestellung, Bildungsangebote und Plattformen für Wissensaustausch die Möglichkeiten und die Anpassungsfähigkeit des Globalen Südens bei Eindämmung und Anpassung stärken. Auch kann er auf der lokalen Ebene Innovation und Resilienz fördern. Durch eine Zusammenarbeit in der Klimaforschung, der Datengewinnung und dem Wissensaustausch ließe sich hier einiges bewerkstelligen.



Außerdem können durch Partnerschaften innerhalb des Globalen Südens einschlägige Technologien, Politiken und Ansätze, die für bestimmte Regionen wichtig sind, übertragen werden und somit zu Entwicklung und Wachstum in Entwicklungsländern beitragen. Neben der Bereitstellung von Versicherungs- und Risikoverminderungsleistungen wäre es sinnvoll, sich über Erfahrungswerte im Katastrophenmanagement auszutauschen. Darüber hinaus könnten und sollten der Globale Norden und der Globale Süden gemeinsam Initiativen für nachhaltige Entwicklung unterstützen und so die Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung daran in Stadtplanung, Landwirtschaft, Umweltschutz oder bei der Förderung umweltfreundlicher Industrien voranbringen.



Schließlich können kollektive Verantwortung und öffentliches Engagement durch gemeinsame Kampagnen, Bildungsinitiativen und Medienkooperationen gestärkt werden, um nachhaltiges Verhalten weltweit zu propagieren.



Reform der Klimafinanzierung

Eine Reform der Art und Weise, wie die reichen den armen Staaten im Fall einer Klimakatastrophe finanzielle Unterstützung gewähren, erfordert eine umfassende Strategie, die die Schwächen bestehender Finanzmechanismen beseitigt und angemessene sowie effiziente Hilfe garantiert. Es wäre ein Anfang, sich an die finanziellen Ziele zu halten, die in internationalen Vereinbarungen wie dem Green Climate Fund oder dem Pariser Klimaschutzabkommen aufgestellt wurden. So bestimmt die Pariser Vereinbarung in Artikel 9: „Die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, stellen finanzielle Mittel bereit, um – in Fortführung ihrer bestehenden Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen – die Vertragsparteien, die Entwicklungsländer sind, sowohl bei der Minderung als auch bei der Anpassung zu unterstützen.“



Darüber hinaus kann die Aufstockung der Klimafinanzierung auf ein der Klimakrise angemessenes Ausmaß erreicht werden, indem neue Finanzierungsmechanismen entwickelt und öffentliche Finanzierungsbeiträge sowie private Investitionen in klimabezogene Initiativen in armen Ländern erhöht werden.



Außerdem ist es wichtig, den Fokus der Klimafinanzierung zu verschieben: weg von Krediten und hin zu Beihilfen sowie einer Finanzierung zu Vorzugsbedingungen. So kann sichergestellt werden, dass die Mittel bei den am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen ankommen und es ihnen ermöglichen, effektive Klimamaßnahmen zu ergreifen.



Klimafinanzierung sollte so gestaltet sein, dass sie auf langfristige und berechenbare Weise finanzielle Unterstützung ermöglicht, um Nachhaltigkeit und Klimaresilienz zu fördern und gleichzeitig das Problem klimabedingter Verluste und Schäden in gefährdeten Staaten zu lösen. Die Entscheidungsfindung sollte partizipativ sein und Entwicklungsländer mit gleichberechtigter Stimme zu Wort kommen lassen; ihre Interessen und Prioritäten sind bei der Entwicklung, Umsetzung und Bewertung finanzieller Mechanismen besonders zu berücksichtigen. Um dies zu erreichen, sollten internationale Klimaverhandlungen inklusiv gestaltet und Entwicklungsländer in die Leitungsstrukturen der Klimafinanzierungsinstitutionen integriert werden.



Mehrdimensionaler Ansatz

Insgesamt erfordert die Antwort des Globalen Südens auf die Klimakrise einen mehrdimensionalen Ansatz: Beschränkungen durch knappe Ressourcen müssen ebenso bedacht werden wie die Verfügbarkeit erneuerbarer Energien, klimabedingte Auswirkungen auf die Landwirtschaft, der politische Wille der internationalen Gemeinschaft sowie die Fähigkeit reicher Staaten, ärmeren Ländern gerechte und effektive Hilfe zukommen zu lassen. Ganz allgemein wird es darum gehen, die internationale Zusammenarbeit zu fördern, um nachhaltige und klimaresiliente Entwicklung für alle Menschen zu erreichen.



Aus dem Englischen von Matthias Hempert

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 42-47

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Dr. Shoba Suri ist Senior Fellow bei der Health Initiative der Ob- server Research Foundation in Neu-Delhi.

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