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29. Apr. 2024

Europas Wachstumsschmerzen

Um Stabilität in die Nachbarschaft zu bringen und Autokratien wie Russland und China auszubremsen, hat die EU ihre Erweiterungspolitik wiederbelebt. Was ist zu tun, damit das nicht zulasten von Rechtsstaatlichkeit und Handlungsfähigkeit geht?

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Bild: Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock
Skepsis im Blick: Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock weist immer wieder darauf hin, dass einiges zu tun ist, damit eine größere EU besser funktioniert als bisher.
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Russlands Angriff auf die Ukraine hat die politische Geografie Europas verändert. Die NATO ist um Finnland und Schweden gewachsen, was die trans­atlantische Verteidigungsallianz stärkt und Russlands Landgrenze zur NATO um über 1300 Kilometer verlängert. Unter dem drängenden Beitrittswunsch der kriegserschütterten Ukraine und der Republik Moldau hat die Europäische ­Union ihre Erweitterungspolitik wiederbelebt – auch und vor allem, um den Kontinent zu stabilisieren. Zwar ist der Druck jetzt hoch, bald mehr Staaten aufzunehmen; doch muss sich die EU zunächst einmal im Inneren stärken.

Einige Beitrittskandidaten warten bereits sehr lange. Vor gut zehn Jahren war die Erweiterung um fünf Westbalkan-Staaten knirschend stehengeblieben. EU-Staaten wie Frankreich und die Niederlande hatten wenig Lust, weitere Länder in die Union zu lassen. Einige hatten die Osterweiterung des Jahres 2004 politisch nicht richtig verdaut und ihrer Bevölkerung die Bedeutung dieses historischen Schritts nicht überzeugend vermittelt. 

Durch den relativen Machtverlust, den der Sprung von 15 auf 25 EU-Mitglieder mit sich brachte, und durch wachsendes Misstrauen gegenüber Kandidaten­regierungen, die europäische Rechts- und Demokratiestandards nicht einhielten, wurde die Erweiterungsskepsis größer. Zudem nutzten außer den deutschen Unternehmen nur wenige das wirtschaftliche Potenzial des erweiterten Binnenmarkts. 

Die Blockaden von 2013 ­erschütterten die Glaubwürdigkeit des Erweiterungsprozesses schwer

Als 2013 einige EU-Regierungen die nächste Stufe des Erweiterungsprozesses für Albanien und Nordmazedonien blockierten, obwohl die Europäische Kommission wichtige Fortschritte anerkannt hatte, war es mit der Glaubwürdigkeit des Beitrittsprozesses aus Sicht der Kandidatenstaaten vorbei. Manche hinterfragten fortan die Objektivität der Kriterien, und je mehr sie sich als ungeliebte Eindringlinge fühlten, desto schwieriger wurde es für ihre Regierungen, zuhause schwierige Reformen durchzusetzen. 

Zwei Jahre, nachdem der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2018 eine Erweiterungspause gefordert hatte, versuchte die Kommission, die Glaubwürdigkeit der Erweiterungspolitik wiederherzustellen, indem sie eine Reform des Beitrittsprozesses anstieß. Das geschah auch auf Initiative Frankreichs, das sich seit dem Amtsantritt Emmanuel Macrons deutlich stärker für Mittel-, Ost- und Südosteuropa interessierte. Maßgeblichen Fortschritt brachte es nicht. So verpasste die EU vor gut zehn Jahren die historische Chance, das klaffende Loch auf der Landkarte südlich von Kroatien und Ungarn, westlich von Rumänien und Bulgarien und nördlich von Griechenland durch einen gut vorbereiteten, beherzten Balkan-Beitritt zu schließen.


Das Erweiterungsparadox

Putins Angriff auf die gesamte Ukraine seit dem 24. Februar 2022 brachte eine Kehrtwende. Die Erweiterung der EU wird mittlerweile als wichtigstes geopolitisches Instrument gesehen, um die unmittelbare Nachbarschaft der EU zu stabilisieren und den wachsenden Einfluss autoritärer oder totalitärer Mächte wie Russland und China einzudämmen. 

Deren Einfluss wirkt sich auch auf die Beitrittsdebatte selbst aus. Das gilt besonders für Kandidaten, deren geopolitische Positionierung uneindeutig ist. Beispiel Serbien, größter Beitrittskandidat auf dem Westbalkan: Präsident Aleksandar Vučić pflegt seine Beziehungen nach Moskau und Peking, trägt Sanktionen gegen Russland nicht mit, liefert aber Waffen an Kiew. 

Nicht nur der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo schwelt weiter: Im Inneren des Landes sind neue Repressionen an die Stelle der früheren Öffnung getreten. Aktuellen Demokratieindizes zufolge ist nicht nur ein mangelnder Fortschritt in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verzeichnen: Seit gut zehn Jahren muss man von einem regelrechten Rückbau liberaldemokratischer Errungenschaften sprechen. Kontrollierte Medien, Wahlbetrug, politische Einflussnahme auf Gerichte und in Universitäten – die Liste der Rückschritte ist lang. Die Ukraine und die Republik Moldau haben derweil in rasantem Tempo die ersten Hürden des Beitrittsprozesses genommen und Verhandlungen gestartet. Beide bereiten sich so entschieden vor, dass so manche Regierung auf dem Westbalkan befürchtet, überholt zu werden. Auch Georgien hat mittlerweile den Kandidatenstatus erhalten. 

Die EU-Erweiterung erscheint als beste Option, um Stabilität in die Nachbarschaft zu bringen. Doch eben diese Erweiterung droht, die Union ihrerseits zu destabilisieren 

Dass die drei Staaten in einem beschleunigten Prozess in die EU gelangen, ist sehr unwahrscheinlich. Sowohl die meisten Regierungen als auch die Kommission selbst bestehen zu Recht darauf, dass die Kandidaten trotz – oder gerade wegen – des geopolitischen Drucks die Beitrittskriterien vollumfänglich erfüllen. 

Interessant ist indes, wer für einen schnellen Beitritt aller Kandidaten argumentiert: etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der mit der EU im Konflikt über die Frage der Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land liegt. Orbán wittert die Chance, dass die EU-Mechanismen ausgehebelt werden können, wenn er mehr Staaten mit ähnlicher Haltung an seiner Seite hätte. Das aber würde die EU schwächen und den Binnenmarkt gefährden.

2024 ist die EU daher in einer paradoxen Situation: Ihre Erweiterung erscheint als beste Option, um Stabilität in die EU-Nachbarschaft zu bringen. Doch eben diese angestrebte Erweiterung droht, die EU zu destabilisieren. Der Ausweg aus dieser Situation ist politisch herausfordernd: Die Erweiterung und die Reform der EU müssen Hand in Hand gehen, so schwierig das auch sein mag. Gerade weil der Druck so groß ist, ist eine Erweiterung der Europäischen Union nur dann sinnvoll, wenn sie die Union stärker macht.


Rechtsstaatlichkeit einfordern

So stellen sich alte Fragen neu: Wie kann die EU entscheidungsfähig bleiben, wenn bei noch mehr Mitgliedern noch mehr unterschiedliche Interessen und Ideen aufeinanderprallen? Wie lassen sich Politiken reformieren und finanzieren, wie werden ausreichende Ressourcen bereitgestellt und verteilt, wenn der Lebensstandard zwischen den Staaten noch stärker als zuvor auseinander geht? Schließlich stellt sich die Frage, was für ein Grad an Flexibilität im Erweiterungsprozess und im Inneren der EU sinnvoll ist.

Offenbar haben die europäischen Staats- und Regierungschefs die inneren Schwächen der EU erkannt, und der Europäische Rat hat Anfang Oktober 2023 in seiner Erklärung von Granada die Erweiterung an interne Reformen geknüpft. Das ist auch für den Fall, dass es über längere Zeit zu keinen weiteren Beitritten kommen sollte, ein wichtiger Fortschritt für die EU. Denn sie muss für die Bewältigung aktueller und künftiger Herausforderungen ohnehin besser aufgestellt werden, und Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt im Inneren sind bei wachsendem geo­politischen Druck besonders wichtig.

Je stärker der Systemwettbewerb zwischen Demokratien und autoritären Regimen in die EU hineinreicht, desto besser müssen die Grundprinzipien der EU geschützt werden. Rechtsstaatlichkeit ist ein nicht verhandelbares Prinzip, das für das Funktionieren der EU unerlässlich ist. Die meisten EU-Politiken, darunter die des Binnenmarkts, können nur funktionieren, wenn nationale Gerichte unabhängig sind und das Primat des EU-Rechts anerkannt wird. Korruption bei nationalen Verwaltungen sollte mit der Auszahlung von EU-Mitteln unvereinbar sein. Die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze ist ein Grunderfordernis für EU-Mitglieder und essenzielles Beitrittskriterium. 

Diese Kriterien sind aber schwer durchzusetzen, wenn zwei Staaten gleichzeitig sie verletzen, denn diese können sich – wie Polen und Ungarn das getan haben – gegenseitig vor EU-Sanktionen schützen. Dass die EU diese Prinzipien im Inneren nicht verteidigen kann, schadet ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber den Kandidatenstaaten und international erheblich. 

Daher sollte Artikel 7 des EU-Vertrags gestärkt werden, der Staaten das Stimmrecht im Rat entziehen kann. Seine Effizienz krankt vor allem an der notwendigen Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten – abzüglich des Beschuldigten – und der Tatsache, dass der Rat nicht verpflichtet ist zu handeln, selbst wenn das Verfahren vom Parlament oder von der Kommission eingeleitet wurde. Die hohe Aktivierungsschwelle ließe sich durch eine Vierfünftel-
Mehrheit absenken, und sowohl Rat der EU als auch Europäischer Rat sollten dazu verpflichtet werden, innerhalb von sechs Monaten Stellung zu beziehen. Bei Fortbestehen von Verstößen und Untätigkeit des Rates müssten nach fünf Jahren automatische Sanktionen greifen.

Zudem sollten die Mitgliedstaaten bei der Verhandlung des neuen Finanzrahmens die Haushaltskonditionalität schärfen und auf alle Sonderbudgets anwenden, mit anderen Worten: Geld sollte nur dann in EU-Staaten fließen, wenn alle Grundprinzipien des Vertrags, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, beachtet werden. Dieses Prinzip wurde bereits erfolgreich beim Sonderfonds NextGenEU angewendet und hat zuletzt Ungarns und Polens Regierungen zu ersten Reformen für eine Wiederherstellung des Rechtsstaats bewegt. 


Einstimmigkeit einschränken

Ein zweites wichtiges Thema ist die Entscheidungsfähigkeit. Bereits heute erschweren politische Polarisierung, Interessenunterschiede und die taktische Ausnutzung von Vetos die Beschlussfassung. So blockierte Ungarn bis Januar 2024 neue EU-Finanzhilfen für die Ukraine und stand mehrfach der Verlängerung von Russland-Sanktionen im Wege. Österreich hielt zunächst das zwölfte EU-Sanktionspaket gegen Russland im Dezember 2023 auf. Die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten über die Forderung nach Feuerpausen oder humanitären Korridoren für Gaza machten es im Oktober 2023 für die EU schwierig, Position zu beziehen. 

Zwar stimmt der Rat meist mit qualifizierter Mehrheit ab, doch in sensiblen Bereichen wie Erweiterung oder Außen- und Verteidigungspolitik gilt weiterhin die Einstimmigkeit. Um Erpressung durch taktische Vetos einzudämmen und die Kompromissfindung zu begünstigen, sollten Mehrheitsentscheide auf alle Bereiche ausgeweitet werden. 

Mit Ausnahme der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sollte das Europäische Parlament vollständig mitentscheiden. Lediglich für Vertragsänderungen oder die Aufnahme neuer Mitglieder sollte weiterhin Einstimmigkeit gelten, nicht aber für die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel im Rahmen des Beitrittsprozesses. 

Die sogenannte Passerelle- oder Brücken-Klausel ermöglicht mehr Mehrheitsentscheidungen ohne Vertragsänderung. Dennoch ist Einstimmigkeit für diesen Beschluss nötig, und daher gilt es, die Sorgen der Staaten in Sachen Souveränität ernst zu nehmen. So könnte ein EU-Staat im Ausnahmefall erwirken, dass ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster Beschluss, der seine Interessen gefährdet, an den Europäischen Rat überwiesen wird, der einstimmig entscheidet. Und damit die größeren Mitgliedstaaten nicht so leicht Sperrminoritäten organisieren können, ließe sich daran denken, die Stimmrechte anders zu gewichten. Das derzeitige System von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, könnte auf eines umgestellt werden, in dem 60 Prozent der Mitgliedstaaten 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Für Entscheidungen von hohem nationalen ­Interesse könnte eine „Super-Mehrheit“ wie „Einstimmigkeit minus 1“ eingeführt werden. Zusätzlich sollten die EU-Staaten die Möglichkeit erhalten, sich aus Politikbereichen, in denen dann Mehrheitsentscheidungen gelten, herauszuziehen. 


Karawane der Willigen

Es gibt weitere mögliche Instrumente, mit denen sich die Handlungsfähigkeit der EU verbessern ließe. Vorreitergruppen, die eine Blockade überwinden möchten, sollten dies tun, indem sie mit Mehrheit entscheiden und Blockierer aus der Gruppe wieder ausschließen können. Allerdings müssen alle diese Vorhaben zwingend mit den Grundprinzipien und Werten der EU, dem gemeinschaftlichen Besitzstand und den Institutionen in Einklang stehen.

Differenzierung kann nicht bedeuten, Meinungsverschiedenheiten über den Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder Fragen der Rechtsstaatlichkeit zu lösen. Wenn ein Staat die in Artikel 2 des EU-Vertrags verankerten Grundsätze und Werte nicht respektieren möchte, sollte er nicht Mitglied der EU sein, sondern über eine losere Partnerschaft angebunden werden. Dass die bestehenden Defizite Europa spätestens nach einer nächsten Erweiterungsrunde teuer zu stehen kommen könnten, haben Frankreich und Deutschland erkannt und innere Reformen zur Bedingung für eine nächste Erweiterungsrunde gemacht. Der Europäische Rat hat diese Forderung im vergangenen Oktober in die Erklärung von Granada aufgenommen. 

Vorreitergruppen, die eine Blockade überwinden möchten, sollten mit Mehrheit entscheiden dürfen

Eine entscheidende Aufgabe kommt der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zu, die im ersten Halbjahr 2024 eine sogenannte Roadmap für die Reformen vorlegen soll. Ebenso wichtig ist es, dass die gemäßigten Parteien im Europawahlkampf die Lage klar benennen: Die Europäische Union und ihre Nachbarn stehen vor großen Sicherheitsrisiken, die wirtschaftliche Situation ist ungewiss, die grüne und digitale Transformation brauchen weiterhin großes Engagement, und der innere Zusammenhalt der Gemeinschaft bröckelt. Hierauf mit Fatalismus und Nationalismus zu reagieren, wäre die falsche Antwort. Es geht jetzt darum, ein europäisches Zukunftsmodell für mehr Staaten zu entwickeln als für die derzeitigen EU-Mitglieder. Das kann aller Probleme zum Trotz eine Erfolgsgeschichte werden, denn der Markt sowie die intellektuellen, sozialen und finanziellen Ressourcen auf dem Kontinent sind nach wie vor groß.

Die Ablösung der PiS-Regierung in Polen durch eine proeuropäische Regierung unter Donald Tusk beseitigt ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zu Reformen und bringt eine wichtige osteuropäische ­Stimme an den europäischen Verhandlungstisch. Am Ende braucht es ein großes Gesamtpaket, in dem jeder Mitgliedstaat Vorteile sieht – ein Paket, das er zuhause als Erfolg verkaufen kann. 

Wenn sich das nicht als machbar erweist, ist mehr Flexibilität angesagt. Da ein Ausschluss aus der EU, auch wenn eine Regierung fundamentale Prinzipien verletzt, europarechtlich nicht vorgesehen ist, muss im Zweifel anders vorgegangen werden. Es gibt noch unausgeschöpfte Möglichkeiten, auf Grundlage des bestehenden Vertrags flexibler zusammenzuarbeiten, und das sogar in Budgetfragen. 

Angesichts des äußeren Drucks, der auf Europa lastet, sollten die Staaten, die geopolitisch im selben Lager stehen und politisch in der Lage sind, gemeinsame Interessen zu definieren und ihre Umsetzung zu gestalten, sich nicht von anderen Staaten aufhalten lassen. Wenn diejenigen Staaten, die die Grundprinzipien der EU nicht einhalten wollen und keinen Sinn darin sehen, dass die EU in der Bereitstellung öffentlicher Güter stärker wird, am Wegesrand stehen bleiben wollen, sollte die Karawane der Willigen weiterziehen.

Dieser Text greift teilweise Reformvorschläge auf, die eine unabhängige deutsch-französische Expertengruppe im Auftrag der Europaministerinnen beider Regierungen vorgelegt hat, um die EU bis 2030 erweiterungsbereit zu machen. Die Autorin war Mitglied und Ko-Rapporteurin der Gruppe.               

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Wachstumsschmerzen" erschienen.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 4-9

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Prof. Dr. Daniela Schwarzer ist Vorständin der Bertelsmann Stiftung. Ihr Buch „Krisenzeit. Sicherheit. Wirtschaft. Zusammenhalt“ ist im September 2023 im Piper Verlag erschienen.