Europas neues Gesicht
Die Verabschiedung der Europäischen Verfassung ist ein historischer Meilenstein für die EU der
25 sowie ein Beitrag zur strategisch profilierten Europa-Politik. Doch mit der Ratifizierung fangen
die Probleme erst an: nach der Verfassung ist vor der Verfassung, so Werner Weidenfeld.
Es gibt Momente, da muss man den Blick auf das Große
und Ganze richten. Die Verabschiedung der Europäischen
Verfassung durch den Europäischen Rat am 18. Juni 2004 in
Brüssel war ein solcher Fall. Kaum war der Gipfel beendet,
da begann der Wettlauf der Kleinkrämer und
buchhalterischen Mathematiker, die in virtuoser
Detailversessenheit nach möglichen Schwierigkeiten im
Kleingedruckten suchten. Selten wurden die Rechenschieber und
Kleincomputer intensiver von Europa-Analytikern traktiert. Und
darüber ging dann das Gespür für die
architektonische Wucht der verfassungspolitischen Entscheidung
weitgehend verloren.
Es ist erst im vierten Anlauf innerhalb eines halben
Jahrhunderts gelungen, der Europäischen Integration den
Rahmen einer Verfassung zu geben:
– Anfang der fünfziger Jahre hatte man
– als gemeinsames Dach für die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und die
Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) – den
Verfassungsentwurf einer Europäischen Politischen
Gemeinschaft (EPG) parlamentarisch ausgearbeitet. Mit dem
Scheitern der EVG war dieser ambitionierte Versuch einer
Verfassung ebenfalls gescheitert – zugleich aber war es
der Startschuss, die Römischen Verträge
auszuhandeln.
– Im Jahr 1962 misslang der Versuch, der unter
dem Namen der Fouchet-Pläne eine Politische Union kreieren
sollte. Als Ersatzlösung wurde dann der
Deutsch-Französische-Freundschaftsvertrag 1963
unterzeichnet.
– Mit der ersten Direktwahl 1979 definierte das
Europäische Parlament sich selbst quasi als
verfassungsgebende Versammlung. Unter der Federführung des
Italieners Altiero Spinelli feilte das Europäische
Parlament über Jahre an einem Verfassungsentwurf. Der
verabschiedete Text blieb jedoch dann irgendwie in den Debatten
der nationalen Institutionen hängen. Ganz nutzlos war die
Übung aber dennoch nicht. Die Spinelli-Initiative wurde zu
einem der Auslöser für die Einheitliche
Europäische Akte, mit der das große Werk der
Binnenmarktvollendung organisiert wurde.
Die schmerzhafte Erfahrung dreifachen Scheiterns begleitet
also den Versuch, Europa eine Verfassung zu geben. Kernfragen
versuchte man dann auch erfolglos in den Verträgen von
Maastricht, Amsterdam und Nizza zu klären. Der Begriff der
„Verfassung“ war über alledem europapolitisch
geradezu tabuisiert. Europa war offenbar nicht reif und in der
Lage, die Schlüsselentscheidungen über Architektur
und Macht zu fällen.
Diesen historischen Abstand muss man wählen, um die
angemessenen Proportionen für den aktuellen Schritt der
Europäischen Union zu erfassen.
Wenn jetzt die über Jahrzehnte schier
unüberwindlich erscheinenden Hürden genommen werden
konnten, dann gibt es dafür mehrere Gründe:
– Die Europäische Integration ist nicht
mehr ein relativ bedeutungsloses Ornament der Politik. Sie ist
vielmehr durch Verflechtung und Kompetenzübertragung zum
Kern politischer Machtarchitektur geworden.
– Wenn das Niveau der Integration eine solche
Qualität erreicht hat, dann liegen die
Handlungsfähigkeit und Legitimation im klaren
Eigeninteresse aller Partner. Ein diffuser Wildwuchs der
Integration und orientierungslose Hilflosigkeit wird von keiner
nationalen Ambition abgedeckt.
– Der dramatische Prozess der Erweiterung
schafft politisch wie geographisch einen Großraum, der
nach einer zuverlässigen Grundordnung verlangt.
Ein Europa, das magnetisch immer mehr Aufgaben und immer
mehr Mitglieder an sich zieht, lechzt geradezu nach
verbürgter Zuverlässigkeit. Es ist nicht länger
bloß ein Gegenstand von Pathos und Vision, sondern
Produzent von öffentlichen Gütern, an den strenge
Leistungserwartungen zu richten sind. Den Imperativ
handlungsfähiger Zuverlässigkeit hat die
Europäische Union in eine Verfassung zu gießen
versucht. Dies gibt der Integration nicht nur Effizienz, es
gibt ihr vor allem eine neue politische Dignität.
Legitimation
Die Europäische Union wäre über kurz oder
lang in eine dramatische Legitimationskrise geraten. Ein
geradezu übermächtiges System, das drastisch in fast
alle politischen Lebensbereiche interveniert, verträgt in
Zeiten demokratischer Ideen nicht mehr jene gigantische
Verzerrung durch die bisher gegebenen Stimmgewichtungen im
Ministerrat. Die Abschaffung dieses Übels in der
Entscheidungsfindung ist der eigentliche historische Schritt,
der das System zukunftsfähig macht. Die Zahl der
Bürger und die Zahl der Staaten – das sind die
einzigen Kategorien der Legitimation im Zeitalter der
Demokratien. Dies ist erreicht – auch wenn es offenbar
jenseits des Verständnishorizonts der mathematischen
Prozentevirtuosen liegt, die den Gipfel nachträglich in
den Nebel minimalistischer Verkürzungen zu rücken
versuchten.
Personalisierung
Politik ist Personenwerk – nicht die Ansammlung
seelenloser Apparate. Wer Politik verstehbar gestalten will,
der muss ihr konkrete Gesichter geben. Auch Europa lebt von
dieser unverzichtbaren Personalisierung. Der Präsident des
Europäischen Rates, der gestärkte
Kommissionspräsident und der europäische
Außenminister – Europa bekommt nun fassbare
Gesichter, auf die sich Vertrauen und Misstrauen, Zustimmung
und Ablehnung fixieren lassen. In Verbindung mit dem
legitimatorischen Akt der mehrfachen Parlamentszustimmung reift
hier eine Konstruktion von Politik heran, die wirklich
belastbar wird.
Dass es erstmals in der Geschichte der Integrationen zu
einer offenen Kampfkandidatur um das Amt des
Kommissionspräsidenten gekommen ist, beweist die Erwartung
positiver Politisierung. Die Besetzung des Spitzenamtes kann
sich nicht länger der öffentlichen Verantwortung
entziehen. Nicht der weiße Rauch eines geheimen
Konklaves, erst recht nicht der Schacher eines orientalischen
Bazars, sind die adäquaten Ausdrucksformen der
Personalauswahl: nur die öffentlich legitimierte Auswahl
aus einem politisch optimalen Personalangebot. Europa hat sich
zu diesem Ziel nun zumindest auf den Weg gemacht.
Effektivität
Die Verfassung lässt zu weiten Teilen das bisherige
Wildwuchs-Europa hinter sich: die vielen verschiedenen
Verfahren, die hohe Zahl von Einstimmigkeitserfordernissen,
Mehrheitsabstimmungen werden deutlich ausgebaut. Das
Mitentscheidungsverfahren wird zum Regelverfahren. Europa wird
praktisch zum Zwei-Kammer-System. Daraus entsteht ein neues
Maß an Vertrautheit, weil das Prozedere sehr nahe an
gewohnte nationale Traditionen rückt. Vertrautheit ist
eine der Währungen, die in Effizienz umzumünzen sind.
Zugleich forciert diese Regelung die beiden Quellen der
Legitimation. Über den Ministerrat wird die
nationalstaatliche Legitimation, über das Parlament die
europäisch-supranationale Legitimation eingespeist.
Neues Profil
Weitgehend verschont von öffentlicher Aufmerksamkeit
und großen Kontroversen bleiben zwei institutionelle
Vorkehrungen, die das Profil des künftigen Europa
strategisch weit reichend verändern können:
– die offene Methode der Koordinierung und
– die differenzierte Integration.
Die offene Methode der Koordinierung, die der Vertrag von
Nizza initiiert hatte, wird in der Verfassung deutlich
ausgedehnt. Diese Methode reduziert den europäischen
Anteil auf die Vorgabe von Zieldaten und die Kontrolle der
Einhaltung der Vereinbarungen. Es handelt sich um ein –
aus der Wirtschaft bestens bekanntes – flexibles
Instrumentarium. Die Verfassung will diesen modernen Ansatz,
der Integration mit Dezentralisierung verbinden lässt,
anwenden in so wichtigen Feldern wie Wirtschaftspolitik (hier
u. a. Herstellung von Vollbeschäftigung, Bekämpfung
von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung), Sozialpolitik
(hier u. a. Beschäftigung, soziale Sicherheit,
Gesundheitsschutz), Forschungs- und Technologiepolitik,
Gesundheitswesen, Industriepolitik, Kultur, Tourismus, Bildung,
Jugend, Sport und Katastrophenschutz.
Die differenzierte Integration wird die politische
Architektur Europas noch tief greifender verändern: Das
Europa der 25 ist nicht mehr aus einem Guss zu gestalten
– erst recht nicht das Europa der 30 und mehr Staaten.
Weder wird sich jeder Staat an jedem weiteren Schritt
beteiligen wollen, noch erscheint es hinnehmbar, dass der
fahrende Zug auf jeden Bremser und Blockierer wartet. Es wird
im großen Europa also zwangsläufig zu
Differenzierungen kommen; die Differenz wird als vitales
Potenzial zu begreifen sein.
Dazu hat die Verfassung die Möglichkeiten weit
ausgebaut. In der Terminologie einer „verstärkten
Zusammenarbeit“, „strukturierten
Zusammenarbeit“ und „engeren Zusammenarbeit“
lässt die Verfassung solche Differenzierungen in allen
politischen Bereichen der nicht-ausschließlichen
Zuständigkeiten der Union zu. Darunter fallen auch so
wichtige Materien wie die Außen- und Sicherheitspolitik.
Eine strategisch profilierte Europa-Politik wird dies aktiv zu
nutzen wissen – und damit zugleich eine Entspannung in
polarisierenden Erweiterungsdebatten auslösen. In einem
differenzierten Europa fällt es leichter, sensible
Fälle neuer Mitgliedschaften zu lösen.
Das Defizit
Nun ließe sich eine lange Liste von positiven und
negativen Punkten, von Licht und Schatten im Verfassungstext
aufstellen: Das Dokument ist wieder zu sperrig, zu umfangreich,
zu detailliert. Es existieren in einzelnen Nuancen
Widersprüche. Etliche Einzelpunkte sind halbherzig
formuliert, eher faule Kompromisse. Dies wird die Buchhalter
der Integration umtreiben und die Herzen bürokratischer
Problemlöser höher schlagen lassen. Für das
Gesamtprofil der Integration bleiben solche Aspekte irrelevant
– so sehr sie auch künftig diese alltäglichen
Fingerübungen der Bürokratenheere vital halten
werden.
Für die historische Perspektive bleibt nur ein
großes Manko der Verfassung wirklich relevant: die
fehlende Ordnung der Kompetenzen. Jede Verfassung verfügt
im Kern über eine solche Ordnung der Zuständigkeiten.
Verantwortung, Zurechenbarkeit, Rechenschaft, öffentliche
Kontrolle – vieles hängt an einer transparenten
Kontrolle. Als der Auftrag zu einem Vertrag über die
Verfassung erging, da stand dieses Ziel im Zentrum. Daraus ist
nichts geworden. Es ist beim unseligen Prinzip der
Einzelermächtigung geblieben – der Grund der
Intransparenz. Je mächtiger Europa künftig sein wird,
desto schmerzlicher wird dieses Defizit empfunden werden. Auf
Dauer wird die Union diesem Druck, mehr Klarheit zu schaffen,
nicht widerstehen können.
Mit Interesse gilt es, die Entwicklung der politischen
Kultur Europas als Basis und Resonanzboden der Verfassung zu
beobachten. Die Pressekonferenzen direkt im Anschluss an das
Ende des Brüsseler Gipfels lieferten dazu aufschlussreiche
Szenen: Alle Akteure werteten den Gipfel als historischen
Erfolg. Aber Toy Blair unterlegte dies mit der Begründung,
dass es in zahlreichen Fällen bei der Einstimmigkeitsregel
geblieben sei; Gerhard Schröder feierte den Übergang
zur doppelten Mehrheit, und Jacques Chirac lieferte als
Hauptargument die Einrichtung der neuen Präsidentschaft im
Europäischen Rat. Jeder setzte einen anderen Akzent der
gemeinsamen europäischen Wirklichkeit. Europäische
Kultur wird diese Differenz zu strategischer Einheit
bündeln müssen – ein herausforderndes
Unterfangen. Salopp könnte man alles in allem sagen: Nach
der Verfassung ist vor der Verfassung. Differenzierter
ausgedrückt: Nach dem Prozess der Ratifizierung wird das
Ringen um die Reform und Fortentwicklung der Verfassung
beginnen. Europas Sachverstand wäre gut beraten, seine
Kompetenz auf diese nächste Ära der Reform zu lenken.
Denn auch die Verfassung ist nicht das Ende der Geschichte.
Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 82-86
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