Europas digitale Zeitenwende
Die Europäische Union braucht eine Grand Strategy für das digitale Zeitalter – eine wertebasierte Alternative zum amerikanischen Techno-Kapitalismus und zum chinesischen Digital-Autoritarismus.
Die Welt hat sich in den vergangenen 15 Jahren fundamental gewandelt. Die neoliberale Ordnung – mit ihrer Maxime, Märkte von politischer Einflussnahme freizuhalten, wirtschaftliche Verflechtung zu fördern und Globalisierung als Friedensdividende zu begreifen – wankt; wir erleben eine Renaissance der Staatsmacht. Nationale Sicherheitsinteressen, technologische Resilienz und digitale Infrastruktur sind wieder Kernaufgaben der Politik. Der Wirtschaftsjournalismus spricht von einer „geoökonomischen Zeitenwende“.
In diesem neuen Ordnungsrahmen gelten Interdependenzen nicht mehr als Stabilitätsanker, sondern als strategische Verwundbarkeiten. Die Instrumente sind bekannt: Exportkontrollen, extraterritoriale Regulierungen, digitale Standards – und nicht zuletzt die gezielte Entkopplung kritischer Technologien. Die Suspendierung Russlands aus dem SWIFT-System zeigte eindrucksvoll, wie vermeintlich neutrale Infrastrukturen heutzutage zu geopolitischen Waffen werden können.
Nirgends wird dieser Paradigmenwechsel so deutlich sichtbar wie im digitalen Raum. Technologie ist zum zentralen Schlachtfeld der neuen geoökonomischen Ordnung geworden. Die Kontrolle über Rechenzentren, Internetprotokolle und Datenflüsse entscheidet darüber, wer Normen setzt und wessen Interessen global durchdringen. Die USA konsolidieren ihre Dominanz über Hyperscaler (große Anbieter von Cloud-Diensten), Softwareplattformen und KI-Modelle. China verfolgt mit seiner digitalen Seidenstraße eine techno-
autoritäre Expansionsstrategie. Und Europa? Verharrt oft in der Zuschauerrolle, ist technologisch abgehängt und strategisch ohne klare Positionierung.
Die Zahlen sind alarmierend: Der Anteil Europas am globalen Markt für Informations- und Kommunikationstechnologie sank von 22 Prozent im Jahr 2013 auf 18 Prozent im Jahr 2023. Die USA legten im gleichen Zeitraum auf 38 Prozent zu, während China bei 11 Prozent verharrte. Unter den 50 größten Tech-Unternehmen der Welt stammen lediglich fünf aus Europa (USA: 31, China: 9).
Die strukturelle Macht in den wichtigen digitalen Infrastrukturen liegt klar außerhalb Europas. Bei 5G dominieren chinesische Anbieter wie Huawei und ZTE, ergänzt nur durch die europäischen Unternehmen Ericsson und Nokia. Der Cloud-Sektor wird fast ganz von US-Hyperscalern wie Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google Cloud angeführt. Bei Halbleitern ist Europa auf asiatische Produzenten angewiesen, vor allem aus Taiwan und Südkorea. Jeder geopolitische Konflikt im Indo-Pazifik belegt so eine Achillesferse europäischer Stabilität.
Noch kritischer ist die Lage bei der Datenhoheit. China kontrolliert den Zugang zum eigenen digitalen Raum mittels der Great Firewall und nutzt gleichzeitig Plattformen wie TikTok, um Einfluss auf Datenströme westlicher Nutzer zu gewinnen. Die USA dominieren den globalen Datenverkehr über ihre digitalen Plattformen und verfügen dank des CLOUD Acts (Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act) über weitreichende Zugriffsrechte auf Daten von US-Tech-Unternehmen, selbst wenn diese außerhalb der USA operieren.
Europa steht zwischen beiden Extremen: ohne Abschottung, aber auch ohne strategischen Zugriff. Beispiel: Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)markiert zwar einen Meilenstein beim Schutz personenbezogener Daten, doch es fehlt an einer kohärenten Strategie, diesen Schutz mit einer wettbewerbsfähigen, datengestützten Ökonomie zu verknüpfen.
In Ermangelung einer kohärenten Vision dessen, was Europa digital sein und erreichen will, hat sich Brüssel auf das Naheliegende konzentriert: Regulierung. Über 100 Gesetzesinitiativen wurden seit 2010 auf den Weg gebracht – von der E-Commerce-Richtlinie über den Cybersecurity Act bis zur KI-Verordnung. Dieser regulatorische Aktivismus ist Ausdruck eines defensiven Politikverständnisses, das Risiken minimiert, aber keine Richtung vorgibt. Der Schutz von Grundrechten und Märkten ist zweifellos ein rechtspolitischer Fortschritt; doch ohne eigene technologische Gestaltungskraft bleibt Europa ein regelsetzender Juniorpartner nichteuropäischer Plattformen. Der Brüssel-Effekt – also die internationale Wirkung europäischer Normsetzung – funktioniert langfristig nur, wenn er mit marktwirtschaftlicher Attraktivität und technologischer Souveränität gekoppelt ist. Beides ist aktuell nicht der Fall.
Besonders belastet die Komplexität der europäischen Regulierung jene, die das Innovationsversprechen Europas eigentlich tragen sollen: Start-ups und Mittelständler. Sie scheitern an überbordenden Compliance-Anforderungen, während globale Tech-Giganten ihre Rechtsabteilungen aufrüsten und unbehelligt weiterwachsen. Das Paradoxon: Je erfolgreicher Europa regulierte, desto abhängiger wurde es von der Innovationskraft Dritter.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick in die europäische Wirtschaftsgeschichte. Als Frankreich und Deutschland 1970 das Airbus-Konsortium gründeten, war das ein Akt politischer Kühnheit. Statt sich mit der Marktmacht Boeings abzufinden, setzten sie auf eine eigene industrielle Vision, bündelten Ressourcen, koordinierten Investitionen und schufen aus Schwäche strategische Stärke. Heute ist Airbus Weltmarktführer. Nicht trotz, sondern wegen eines gemeinsamen europäischen Anspruchs.
Ein solcher „Airbus-Moment“ ist heute im digitalen Bereich überfällig. Die geopolitischen Verwerfungen, wachsendes Unbehagen gegenüber US- und China-dominierten Plattformen und der Ruf nach digitaler Souveränität schaffen ein einmaliges Momentum. Doch statt dies entschlossen zu nutzen, lähmen institutionelle und politische Blockaden.
Jetzt könnte Europa internationale Partner ein binden, die ebenfalls nach einer demokratischen Alternative suchen
Mit ihrer internationalen Digitalstrategie vom Juni 2025 unternahm die Europäische Kommission allerdings den Versuch, ihre Digitalpolitik global strategisch zu positionieren. Auf dem Papier reagiert sie auf genau jene Herausforderungen, die Europa in den letzten Jahren geprägt haben: wachsender geopolitischer Wettbewerb und technologische Abhängigkeiten.
Tatsächlich enthält das Dokument eine Reihe begrüßenswerter Elemente. Der Fokus auf sensible digitale Infrastrukturen wie Unterseekabel zeugt von einem gewachsenen geopolitischen Bewusstsein. Die Kommission bekennt sich explizit zu einem menschenzentrierten, wertebasierten Ansatz und positioniert sich damit bewusst zwischen dem marktorientierten Techno-Kapitalismus der USA und dem staatsgelenkten Digital-Autoritarismus Chinas. Auch der Versuch, mit einem Netz aus über 30 internationalen Partnerschaften strategische Allianzen zu formen, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Doch ambitionierte Einzelmaßnahmen ersetzen keine kohärente Gesamtstrategie. Die internationale Digitalstrategie bleibt hinter dem zurück, was Europa braucht: eine übergeordnete Grand Strategy für das digitale Zeitalter. Dabei wäre gerade jetzt die Gelegenheit, mit einem strategisch fokussierten Angebot internationale Partner einzubinden, die ebenfalls nach einer demokratischen Alternative suchen.
Statt einer klaren politischen Erzählung präsentiert die Strategie einen operativen Flickenteppich. Sie listet nahezu alles auf – von KI über Quantencomputing bis zu Halbleitern, Cloud, digitaler Identität und Deep Tech – und behandelt jede Technologie als gleich wichtig. Es fehlt an strategischer Fokussierung. Besonders problematisch ist der zentrale Umsetzungsmechanismus, die sogenannte „Tech Business Offer“. Die Kommission plant, Partnerländern modulare Technologiekomponenten anzubieten, in der Hoffnung, dass diese europäische KI-, Cloud- oder Sicherheitslösungen übernehmen.
Doch erfolgreiche digitale Geschäftsmodelle entstehen nicht durch das Angebot technischer Module, sondern das Aufgreifen konkreter Nutzerprobleme. Der Ansatz erinnert letztlich an das europäische Projekt Gaia-X: technisch sauber beschrieben, politisch gefeiert, ökonomisch folgenlos. Stattdessen sollte die EU ihre Stärken bei vertrauenswürdiger Governance, Nachhaltigkeit und Normsetzung nutzen, um technologiegetriebene Ökosysteme zu schaffen, die von realer Nachfrage getragen werden.
Noch gravierender ist das Missverständnis im Umgang mit dem Begriff der digitalen Souveränität. Die Kommission versteht sie primär als Möglichkeit zur Kooperation, nicht als Voraussetzung für Gestaltungsmacht. Denn Kooperation ersetzt keine eigene Machtbasis. Wer souverän mitreden will, muss eigene Kapazitäten aufbauen: im Cloud-Bereich, bei Halbleitern, bei KI-Modellen. Wer sie nicht besitzt, bleibt auf andere angewiesen – ganz gleich, wie viele Regeln oder Partnerschaften man kreiert.
Auch kommunikativ bleibt die Digitalstrategie vage. Es fehlen belastbare Aussagen zu Finanzierung, Governance und politischer Verantwortung. Woher genau kommen die Milliardeninvestitionen, von denen die Kommission spricht? Und wer ist politisch verantwortlich, wenn Partnerschaften oder Projekte scheitern?
Der europäische Weg
Was Europa weiterhin fehlt, ist eine politisch klar verankerte Prioritätensetzung; eine umfassende Vision, die normative Prinzipien, technologische Handlungsfähigkeit und geopolitische Realität miteinander verbindet. Genau hier setzt unser Vorschlag zum „europäischen Weg“ an: ein strategischer Entwurf, der die digitale Zukunft Europas industriepolitisch fundiert, innovationsfreundlich ausgestaltet und außenpolitisch verankert. Entwickelt von einem Netzwerk aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, definiert das Papier sechs Grundprinzipien, die Europas Rolle in der Welt technologisch wie normativ umreißen: prinzipiengeleitete Governance, strategische Resilienz, Interoperabilität, Nachhaltigkeit, Vertrauen und ein dezentrales Wirtschaftssystem.
Die Prinzipien bieten eine strategische konzeptionelle Lösung für die Frage, wie Demokratien im digitalen Zeitalter technologisch souverän und zugleich global anschlussfähig bleiben können. Während die USA auf disruptive Plattform-Kapitalisierung und China auf staatlich orchestrierten Tech-Autoritarismus setzen, bietet Europa so eine dritte Option der demokratischen Technologiegestaltung an.
Die geopolitische Komponente der digitalen Grand Strategy ist so zentral wie ihr ökonomischer Unterbau
Solange Europa diese Vision allerdings nicht auch strategisch entlang aller Ebenen des Technologie-Stacks anwendet, bleibt sie wirkungslos. Daher lautet unsere zentrale These: Europa kann nicht überall dominieren, sondern muss strategisch hart priorisieren. Es geht darum, dort Führung zu übernehmen, wo sich Normsetzung, wirtschaftliche Hebel und Resilienz bündeln – etwa bei KI-Basismodellen, Cloud-Infrastrukturen, digitalen Identitäten oder Quantencomputing. In anderen Bereichen, etwa bei Endnutzer-Plattformen, können vertrauenswürdige internationale Partner und Interoperabilitätsregeln ausreichen, denn nicht jede Lücke muss europäisch geschlossen werden.
Digitale Souveränität bedeutet vielmehr, unabhängig agieren zu können, wenn es darauf ankommt. Damit diese Vision auch Wirkung entfalten kann, braucht Europa strukturelle Reformen. Ein zentraler Hebel wäre ein institutioneller Mechanismus gemäß Artikel 20 EUV, der integrationswilligen Mitgliedstaaten ermöglicht, in zentralen Technologiefeldern gemeinsam voranzugehen – jenseits der Einstimmigkeit, die heute oft zu politischer Lähmung führt. Das wäre kein Bruch mit der europäischen Integration, sondern deren funktionale Erneuerung im digitalen Zeitalter. Der Mechanismus könnte auf drei Säulen beruhen: 1. strategische Führungsentscheidungen entlang des Stacks, etwa bei Cloud, KI und Quantum; 2. flexible Integrationsformate, vergleichbar mit Schengen oder dem Euro, die Fortschritt erlauben, ohne Spaltung zu riskieren; und 3. gemeinsame Investitions- und Innovationsplattformen, etwa durch große europäische Kooperationsprojekte wie bei der Mikroelektronik, die bestehende Programme strategisch aufladen und finanziell bündeln.
Digitale Souveränität sichern
Die geopolitische Komponente dieser digitalen Grand Strategy ist ebenso zentral wie ihr wirtschaftlicher Unterbau. Denn wer digitale Souveränität sichern will, muss außenpolitisch agieren. Standards, Protokolle und Zertifikate sind die geopolitischen Hebel des digitalen Zeitalters. Der „europäische Weg“ sieht deshalb eine gezielte Öffnung gegenüber gleichgesinnten Partnern vor. Über eine „Trusted International Partners“-Liste (etwa mit Kanada, Japan, Südkorea, Brasilien, Indien und der Ukraine) kann Europa gezielt Lieferketten, Forschungsallianzen und Datenräume absichern. Eine „Free Trade Initiative“ mit digitalen Kapiteln, die Nachhaltigkeitskriterien, Interoperabilität und Datenschutzstandards enthält, flankiert diesen Aufbau strategischer Resilienz.
Ziel ist es, einen zweiten Brüssel-Effekt auszulösen – nicht mehr wie bisher durch nachgelagerte Regulierung, sondern durch den Export vertrauenswürdiger Technologien, offener Protokolle und menschenzentrierter Standards. Von Indiens Aadhaar-System über Brasiliens Pix bis hin zur ukrainischen Diia-App: Vielerorts entstehen Lösungen, die europäische Prinzipien spiegeln. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer massiven globalen Nachfrage nach einer dritten, demokratischen Alternative im digitalen Raum. Europa kann zum Magneten einer Allianz digitaler Demokratien werden, wenn es sich mehr als strategischer Akteur versteht und dies auch gestalterisch umsetzt. Dafür bräuchte es starke politische Führung in Berlin, Paris und Brüssel: Technologie nicht als Verwaltungsaufgabe, sondern als wirkungsmächtigen Hebel europäischer Souveränität.
Digitale Souveränität ist kein technisches Nischenthema mehr, sondern eine geostrategische Zukunftsfrage. Europa hat großes Potenzial: Es verfügt über Weltklasseforschung; es hat mit der DSGVO globale Glaubwürdigkeit in Grundrechtsschutz und Datenethik geschaffen; es genießt international das Vertrauen, das autoritären Tech-Modellen fehlt. Doch all diese Stärken bleiben wirkungslos, wenn die EU sie nicht strategisch orchestriert. Europa steht an einem Wendepunkt. Wer im digitalen Zeitalter Kapazitäten kontrolliert, Standards setzt und Plattformen betreibt, bestimmt die Spielregeln der Ordnung. Regulierung allein reicht nicht; Europa muss zur mutigen und gestaltenden Kraft werden. Der „europäische Weg“ liefert einen strategischen Ordnungsrahmen: Er verbindet normative Prinzipien mit technologischen Prioritäten, institutionellen Hebeln und außenpolitischen Allianzen. Eine digitale Souveränität Europas bedeutet keine Abschottung, sondern Resilienz durch Eigenverantwortung.
Doch ohne klare Zuständigkeiten, Steuerung und eine politisch getragene Vision bleibt jede Strategie ein Papiertiger. Während die USA und China längst investieren, skalieren und Standards setzen, droht Europa strategisch zu spät zu kommen. Die EU muss jetzt handeln; nicht als Getriebene globaler Dynamiken, sondern als strategische Impulsgeberin einer digitalen Ordnung, die Demokratie, Offenheit und Souveränität vereint.
Internationale Politik Special 4, November 2025, S. 53-57