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01. Sep 2002

Europas Aufbruch zu größerer Unabhängigkeit

Ein Plädoyer für das Satellitenprojekt Galileo

Kritiker sehen in Galileo eine überflüssige technologische Doppelentwicklung zum Satellitennavigationssystem der Amerikaner, GPS. Warum muss die EU zu einem gebührenfrei nutzbaren internationalen System parallel ein eigenes entwickeln? Die Autoren nennen politische und wirtschaftliche Gründe, warum es sinnvoll ist, dass die Europäer auf diesem Gebiet ihre Eigenständigkeit anstreben.

Jahrelang hat Galileo, das Projekt eines eigenständigen europäischen Satellitennavigationssystems, für Aufregung in Europa und für transatlantische Verstimmung gesorgt. Seit dem Startschuss für das Vorhaben durch die Verkehrsminister der Europäischen Union am 26. März 2002 – trotz Bedenken vor allem in Großbritannien und den Niederlanden – ist es ruhiger um das erste Gemeinschaftsgroßprojekt der EU mit der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) geworden. Wer gleichwohl erwartet hatte, alle Probleme seien damit gelöst, täuscht sich. Nach wie vor ist die Gesamtfinanzierung ungewiss. Auch die transatlantischen Spannungen um das Projekt sind noch nicht vollständig beigelegt. Hinzu kommt mittlerweile ein Wettlauf europäischer Nationen – vor allem zwischen den zunächst skeptischen Deutschen und den Italienern – um die industrielle Systemführerschaft.

Im März 2002 gaben die Verkehrsminister der EU-Mitgliedstaaten insgesamt 550 Millionen Euro für das Projekt frei; die ESA trägt zur Finanzierung der Entwicklungsphase die gleiche Summe bei. Insgesamt wurden von der Europäischen Kommission im Jahr 2000 die Kosten bis zum vollständigen Aufbau auf 3,2 bis 3,4 Milliarden Euro geschätzt. Die von einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vorgelegte Expertise bestätigte den Finanzrahmen der Europäischen Kommission in wesentlichen Teilen, gelangte durch die Einplanung von Reservesatelliten und Risikorückstellungen allerdings auf ein etwas höheres Gesamtvolumen von rund 3,4 Milliarden Euro, wovon 1,5 Milliarden Euro auf die Privatwirtschaft entfallen sollen. Diesen Anteil sowie die Übernahme der Betriebskosten ab 2008 durch die Industrie beurteilten die Gutachter jedoch als noch nicht gesichert.

Kritiker sehen in Galileo eine überflüssige technologische Doppelentwicklung. Schließlich stellen die USA das Signal ihres Global Positioning Systems (GPS) kostenlos zur Verfügung. Kommentare wie „milliardenschweres Prestigeprojekt“ oder „technologisches Abenteuer der Superlative“1 verkennen jedoch die technologie-, wirtschafts- und verteidigungspolitische Dimension des Galileo-Projekts.

Das europäische Satellitennavigationssystem ist nämlich weit mehr als eine Dublette des amerikanischen GPS, um den europäischen Autofahrern den Weg durch das verstopfte Straßennetz zu weisen: Mit Galileo gelingt den Europäern nach den Erfolgsprodukten Airbus und Ariane die Initiierung eines dritten Gemeinschaftsprojekts, um die amerikanische Vorherrschaft in einem strategischen Feld des Luft- und Raumfahrtsektors zu brechen und Europa in eine größere Unabhängigkeit zu führen getreu der Devise: „It’s always better to be the master of your future.“

Mitunter werden die Europäer vor diesem Hintergrund von ihren amerikanischen Verbündeten etwas gereizt darauf hingewiesen, dass ihre „Hausaufgaben“ angesichts vergleichsweise geringeren Verteidigungsbudgets woanders lägen. Hinter der Mahnung zu vermuten, die USA betrachteten die Europäer weiter als Lückenfüller für militärische Bereiche, in denen die amerikanischen Streitkräfte Fähigkeiten abgebaut haben oder nicht hinreichend besitzen, liegt indes nicht fern. Doch für Galileo sprechen aus europäischem Blickwinkel zwei entscheidende Argumente: erstens, ein politisch-strategisches und zweitens, ein wirtschaftlich-technologisches Argument.

Die Vereinigten Staaten artikulieren in militärischen wie in wirtschaftlichen Fragen häufig in robuster Weise ihre nationalen Interessen und setzen diese durch. Mit ihrem unter militärischer Regie stehenden GPS vermögen sie dabei, ihre hegemoniale Stellung auszubauen, während die europäischen Partnernationen in ein immer stärkeres Abhängigkeitsverhältnis geraten. Die Europäische Union stellte mit ihrem Beschluss, Galileo zu entwickeln, den Willen zu einer eigenständigeren Politik, zu einem Staatenverbund, der sich langfristig aus der Rolle des Juniorpartners der USA lösen will, unter Beweis und nahm kurzfristig ungünstige Auswirkungen auf das politische Klima der transatlantischen Beziehungen in Kauf. Diese Absicht darf aber keineswegs als Wunsch zur Loslösung vom transatlantischen Partner missverstanden werden.

Europäische Selbstbehauptung

Eine stärkere sicherheitspolitische Unabhängigkeit bedingt zugleich technologische Fähigkeiten. Die Vereinigten Staaten fürchten, ihre „strategische Informationsüberlegenheit“ durch Galileo teilweise einzubüßen, während Europa hierin eine Chance zum Aufbau einer europäischen Verteidigungsidentität sieht. Spätestens in zwanzig Jahren werden alle wesentlichen militärischen Waffen- und Logistiksysteme mit Satellitenhilfe präzisionsgesteigert arbeiten, so dass Galileo eine zentrale Säule beim Erhalt bzw. Aufbau einer verteidigungspolitischen Eigenständigkeit der Europäer darstellt. Die Fähigkeit der Europäer, auf die Daten eines eigenen Satellitennavigationssystems zugreifen zu können, kann sogar unabdingbar für ihre zukünftige Bündnisfähigkeit innerhalb der NATO2 sowie für die eigenständige Durchführung von Auslandseinsätzen ohne amerikanische Beteiligung sein.

Die Amerikaner zogen zwischenzeitlich bemerkenswerte argumentative Register, um die Europäer von Galileo abzubringen. So wies das Pentagon darauf hin, Galileo sei im Krisenfall ein Sicherheitsrisiko für die amerikanischen Streitkräfte, weil es möglicherweise für die amerikanischen Truppen lebensnotwendige GPS-Signale überlagere. Darüber hinaus könnten die Galileo-Signale in einem Konfliktfall von Terroristen, „Schurkenstaaten“ oder anderen feindlichen Streitkräften benutzt werden.

Diese Einwände laufen jedoch ins Leere. Die von GPS genutzten Funkfrequenzen sind nicht Eigentum der USA. Außerdem will die von den Europäern beabsichtigte Frequenznutzung ausdrücklich den amerikanischen Sicherheitsvorbehalten Rechnung tragen. Überdies können in Krisenfällen allgemein zugängliche Galileo-Dienste unterbrochen werden. Die vor allem für staatliche Sicherheitsbehörden vorgesehenen „public regulated services“ werden verschlüsselt und von einer europäischen Einrichtung kontrolliert.3

Die europäischen Verkehrsminister haben sich daher auch von diesen Bedenken nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen und sich für die Entwicklung von Galileo entschieden. Die Europäer hoffen nunmehr, dass bei den Amerikanern mehr Pragmatismus einkehrt. Gerade nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 griff die Erwartung Raum, dass auch einige amerikanische Entscheidungsträger den Nutzen eines weiteren, überlappenden Satellitennavigationssystems erkennen würden.

Verteilung der Projektkosten (in Phasen)

Definition

2000–2001

Entwicklung

2002–2005

Einrichtung

2005–2007

Betrieb

ab 2008

Gesamtkosten

82,5 Mio. €

1,1 Mrd. €

2,2 Mrd. €

220 Mio. € p.a.

davon:

 

 

 

 

– EU

42,5 Mio. €

550 Mio. €

– ESA

40 Mio. €

550 Mio. €

600 Mio. €

– Wirtschaft

1,6 Mrd. €

220 Mio. € p.a.

Quelle: Europäische Kommission, Generaldirektion Energie und Verkehr, 2000.

Die vielfältigen zivilen Einsatzbereiche in der Industrie, die sich allerdings in erheblichem Maße auch vom GPS-Zeitsignal abhängig gemacht hat, in der Verkehrslenkung (Straße, Schiene, Wasser, Luft), in Such- und Rettungsdiensten, der Landwirtschaft, der Bauwirtschaft, im Bergbau oder in der Ölförderung sowie der hohe Vernetzungs- und Komplexitätsgrad einer interdependenten Wirtschaft erfordern bereits heute einen permanenten, ungestörten Zugriff auf das GPS-Angebot. Der wirtschaftliche Schaden im zivilen Sektor bei Ausfall oder Abschalten des GPS-Systems wird nach vorsichtigen Schätzungen bereits heute auf etwa 130 Millionen Euro pro Tag taxiert, von anderen gar auf rund eine Milliarde Euro nach 48 Stunden Ausfall im EU-Raum. Galileo wird nicht nur präzisere Daten als die derzeitige GPS-Generation liefern, sondern ist zudem für die Interoperabilität mit dem GPS ausgelegt. Für die Anwender steigen damit Sicherheit und Zuverlässigkeit mittels eines zweiten Systems.4

Die bereits heute möglichen zivilen und militärischen Anwendungsfelder verdeutlichen, dass die Satellitennavigation eine Schlüsseltechnologie der Zukunft ist. Satellitensysteme werden in immer mehr Lebensbereichen eine wichtige Rolle spielen. Es wäre aber ein fataler Fehler aus technologischer, industrieller und wissenschaftspolitischer Sicht, wenn Europa diese Technologie den USA überlassen würde.

Eine Monopolstellung der USA verbietet sich auch aus wettbewerbspolitischer Sicht. Nur die Konkurrenz am Markt schützt vor dem Preis- und Angebotsdiktat eines Monopolisten. Wer garantiert beispielsweise, dass das GPS-Signal auch in Zukunft in Europa kostenlos zugänglich ist? Ein offener Markt ist darüber hinaus auch Motor für Innovationen und die Weiterentwicklung von Technologien und Anwendungsfeldern. Galileo kann sich – und dafür bedarf es keiner überspannten Erwartungen – so zu einem Inkubator für neue technische Anwendungen und interessante künftige Geschäftsfelder entwickeln.

Wettbewerb ist notwendig

Die Amerikaner wären jedoch nicht die führende Nation in der Welt, wenn sie den Wettbewerb nicht annähmen. Die dritte GPS-Generation, zunächst für 2011 vorgesehen, soll nun bereits im Jahr 2009 in Betrieb gehen. Die Entscheidung der USA, das zivile GPS-Signal seit Frühjahr 2000 weitestgehend störungsfrei öffentlich zugänglich zu machen, war ebenfalls ein ökonomisch bestimmter Schritt. Die USA haben mit GPS nicht nur den Standard für zukünftige Anwendungen gesetzt, sondern sich auch einen zeitlichen Vorsprung auf dem Markt verschafft. Diese Vorteile wollen sie nun nicht einbüßen.

Sollte indes Galileo planmäßig im Jahr 2008 einsatzbereit sein, so ließen sich nach Erwartungen der Europäischen Kommission bis zu 50 Prozent des Marktes erschließen. Auf dem Geräte- und Dienstleistungsmarkt stehen jährliche Umsätze zwischen neun und zehn Milliarden Euro in Aussicht. Experten sehen hierin ein Potenzial von 140 000 bis 150 000 neuen Arbeitsplätzen in Europa. Galileo würde damit ein sehr günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielen.

Ebenso wie GPS soll auch Galileo seine Basisdienste kostenfrei zur Verfügung stellen; dieser Service wendet sich vorrangig an den Massenmarkt. Daneben skizziert die Europäische Kommission verschiedene kostenpflichtige Nutzungsbereiche mit gesteigerter Verlässlichkeit, Genauigkeit und Störsicherheit.

Wichtigster Anwendungsbereich in absehbarer Zukunft wird weiterhin die Verkehrslenkung bleiben. Neben dem Straßenverkehr werden verstärkt Luft- und Seefahrt Nutzen aus der Satellitennavigation ziehen können. Durch die genauere Positionsbestimmung mittels Galileo kann der Luftraum signifikant entlastet werden. Direktere Flugrouten sowie kleinere Sicherheitsabstände schaffen neue Kapazitäten für die Luftfahrt. Galileo wird bei jeder Wetterlage derart genaue Informationen liefern, dass Flugzeuge automatisch gesteuert und gelandet werden können.

Auch die internationale Seefahrt wird durch die Nutzung von Satellitennavigation sicherer werden: mit dem Einsatz moderner Technik können Kollisionen verhindert werden. In der Fischereikontrolle liegt ein weiteres maritimes Anwendungsfeld. Ferner erlaubt Satellitennavigation auf der Schiene eine dichtere Zugfolge – so können durch die Verknüpfung von Satellitenortung und Internet einzelne Güterwagen und Container auf ihrer Route in Echtzeit verfolgt werden und Logistikzentren flexibel auf Verzögerungen reagieren und alternative Routen berechnen.

Während bei privaten Nutzern – seien es Autofahrer oder Freizeitsegler – die Dienstleistung als solche, Zeitgewinn sowie Komfort im Vordergrund stehen werden, können Transportunternehmen messbare wirtschaftliche Vorteile aus Galileo ziehen. Der Nutzen aus Treibstoffeinsparungen, Zeitgewinn, Personaleinsparungen sowie sinkenden Umweltbelastungen wird jährlich auf mehrere Milliarden Euro veranschlagt. Selbst Betrügereien und Diebstählen will man mit Hilfe von Galileo auf die Spur kommen.

Neben wirtschaftlichen und privaten Anwendungen wird Galileo auch in zahlreiche öffentliche Anwendungsbereiche vorstoßen. Rettungsdienste, Polizei und Feuerwehr werden zukünftig schneller Hilfe leisten können; auch bei der Ortung und Rettung von Schiffbrüchigen oder Lawinenopfern wird die Satellitentechnik eine große Hilfe sein. Als Schlüsseltechnologie wird die Satellitennavigation viele weitere Technologien der Zukunft beeinflussen. Je präziser die Daten werden, desto mehr Anwendungsfelder lassen sich erschließen.

Public Private Partnership

Für die Kommission stand, trotz Kritik aus dem Europäischen Parlament,5 von Beginn an die finanzielle Beteiligung der Privatwirtschaft an den Kosten des Galileo-Projekts auf der politischen Agenda. Nach Ansicht der Kommission sollen sich insbesondere die künftigen Nutzer und Diensteanbieter des Systems  in Form einer Public Private Partnership (PPP) engagieren. PPP verkörpert dabei ein Kooperationsmodell zwischen öffentlichem und privatem Sektor, das von dem klassischen Verhältnis zwischen dem Staat als Auftraggeber einerseits und der Wirtschaft als Auftragnehmer andererseits abweicht und das finanzielle und industrielle Risiko auf beide Seiten verteilt.

Hier greift die Kommission erstmals auf Artikel 171 des EG-Vertrags zurück, der die Gründung gemeinsamer Unternehmen für die Durchführung von Programmen für gemeinschaftliche Forschung sowie technologische Entwicklung vorsieht. Zu den Gründungsmitgliedern zählen die Europäische Union sowie die ESA. Um Mitgesellschafter zu werden, müssen private Unternehmen einen Mindestbeitrag von 20 Millionen Euro bzw. einer Million Euro (kleine und mittlere Unternehmen) leisten.

Die Privatwirtschaft soll so einen Teil des unternehmerischen Risikos übernehmen. Gleichwohl reagiert die potenzielle Nutzerindustrie bislang eher zögerlich. Für den ursprünglich kalkulierten Finanzierungsanteil der Privatwirtschaft von 1,6 Milliarden Euro in der Errichtungsphase liegt bislang nur eine Teilzusage vor. Das neu gegründete Firmenkonsortium „Galileo Services“ sicherte einen Finanzbeitrag zu, wartet aber konkrete Projektausschreibungen aus Brüssel ab.

Vor diesem Hintergrund mag es zunächst befremdlich klingen, dass der von der ESA für die Galileo-Entwicklungsphase aufzubringende Anteil in Höhe von 550 Millionen Euro um etwa 30 Prozent überzeichnet wurde.

Diese Tatsache muss jedoch als Indiz dafür gewertet werden, dass insbesondere Deutschland und Italien die wirtschaftlichen Möglichkeiten von Galileo erkannt haben und inzwischen hinter den europäischen Kulissen zäh um die industrielle Systemführerschaft bei der Entwicklung von Galileo ringen. Beobachter halten die Konkurrenzsituation für mittlerweile derart verhärtet, dass eine Lösung nur auf Ebene der Regierungschefs erreicht werden könnte.

Als positives Fazit bleibt festzuhalten: Immerhin haben die europäischen Regierungen die politische und wirtschaftliche Bedeutung des Projekts erkannt. Dennoch bleibt aus heutiger Sicht ein Moment der Ungewissheit. Geht Galileo tatsächlich in absehbarer Zeit in Betrieb? Kann die Finanzierung rechtzeitig sichergestellt werden?

Wer die verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Argumente für das System ernst nimmt, muss zu folgender Erkenntnis gelangen: Es fehlt eine europäische Rückfallposition, die die Verwirklichung von Galileo sicherstellt, sollte sich die bisherige Finanzplanung als unrealistisch erweisen – oder steht diese Frage bereits auf der „hidden agenda“ weitsichtiger europäischer Staatsmänner?

Anmerkungen

1  Michael Scheerer, EU auf Himmelfahrtskommando, in: Handelsblatt, 27.3.2002.

2  Vgl. Martin Agüera, Galileo – eine „orbitale Revolution“ für Europa, in: Europäische Sicherheit, 6/2001, S. 33.

3  Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Energie und Verkehr, GALILEO: Das europäische Satellitennavigationsprojekt, Brüssel, 26.3.2002.

4  In die Zählung ist das nicht weltweit nutzbare GLONASS-System des russischen Militärs nicht mit einbezogen.

5  Vgl. Hartmut Hausmann, Droht Galileo das Aus?, in: Das Parlament, 22.2.2002.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 47 - 52.

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